«Wir müssen unsere Synergien bündeln»

Am 1. März hätte die Charta für Seelsorge / spezialisierte Spiritual Care im Gesundheitswesen1 offiziell vorgestellt werden sollen. Kurz vor diesem Termin machte die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz EKS einen Rückzieher.

Prof. Dr. Simon Peng-Keller ist seit 2015 Professor für Spiritual Care an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. (Bild: Frank Brüderli)

 

 

SKZ: Weshalb braucht es eine Charta für Seelsorge / spezialisierte Spiritual Care im Gesundheitswesen?
Simon Peng-Keller: Im Hintergrund steht die Absicht, das kirchliche Engagement im Bereich der Seelsorge im Gesundheitswesen auf nationaler Ebene zu koordinieren. Die Charta ist dabei ein Element in einem längeren Prozess. 2016 rief die Schweizer Bischofskonferenz SBK die Arbeitsgruppe «Seelsorge im Gesundheitswesen» ins Leben. In der Folge gab es eine Umfrage, um sich einen Überblick über die aufgrund der kantonalen Unterschiede komplizierte Situation zu verschaffen. Das Ergebnis dieses Evaluations- und Analyseprozesses führte zum Wunsch, eine nationale Koordinationsstelle einzurichten, im besten Fall zusammen mit der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Dieser Prozess läuft noch. Die Charta ist als eine zusätzliche Idee und als Mittel der gemeinsamen Willensbildung entstanden. Sie soll aber auch den Partnern im Gesundheitswesen signalisieren: Wir Kirchen engagieren uns und sind daran interessiert, die Seelsorge gemeinsam weiterzuentwickeln. Der Name «Charta» ist vielleicht nicht ideal, da man darunter auch eine Satzung oder einen Grundvertrag verstehen könnte. Die vorliegende Charta ist jedoch lediglich eine Absichtserklärung.

Die Spitalseelsorge ist kantonal geregelt und es gibt verschiedene Modelle. Wie sinnvoll ist hier eine gemeinsame Charta?
Wir müssen mit der Tatsache leben, dass es in der Schweiz verschiedene Gesundheitssysteme gibt und dass das Verhältnis von Staat und Kirche sehr unterschiedlich ist, was Einfluss auf die Spitalseelsorge hat. Gleichzeitig ist klar, dass es nicht nur ein kantonales Thema sein kann. So kann beispielsweise nicht jeder Kanton eine eigene Seelsorgeausbildung entwickeln. Ausserdem sind die Entwicklungen im Gesundheitswesen nicht kantonal beschränkt; gerade im Bereich Palliative Care gibt es eine nationale Strategie. Es braucht ein gutes Gleichgewicht zwischen berechtigter kantonaler Pluralität und der Zusammenarbeit auf nationaler Ebene. Wir müssen unsere Synergien bündeln, sonst sind wir ohnmächtig gegenüber einem starken Gesundheitswesen, das von ganz anderen Faktoren bestimmt ist.

Die Charta spricht konsequent von «Spiritualität». Spielen die Konfessionen keine Rolle mehr?
Die Charta äussert sich nicht zur Frage der Konfessionalität. Es handelt sich, wie gesagt, um eine Absichtserklärung, nicht um eine umfassende Stellungnahme zu allen relevanten Fragen. Wenn die Charta von Spiritual Care spricht, nimmt sie das Verhältnis zwischen der Seelsorge und den Gesundheitsberufen in den Blick. Das Ziel von Spiritual Care ist es, die spirituelle Dimension in das Gesundheitswesen zu integrieren. Ein Grundkonsens ist, dass alle beteiligten Professionen daran einen Anteil haben. Dann geht es um die Fragen der genauen Zuständigkeit und der Kompetenzen: Was ist die Aufgabe der Ärztin resp. des Arztes? Der Pflege? Der Seelsorgenden? Der Begriff «spezialisierte Spirituale Care» steht in diesem Zusammenhang. Es ist für ihre Anliegen wichtig, dass sich die Seelsorge interprofessionell vernetzt. Die Konfessionalität ist nochmals ein spezielles Thema, das im Blick auf die Anstellung und Beauftragung von Seelsorgenden in den Kantonen zu bearbeiten ist. Aktuell lassen sich unterschiedliche Modelle finden. Dabei stellen sich noch weitere Fragen: Wie gehen wir mit der Pluralisierung der Gesellschaft um? Wie gehen wir mit der Tatsache um, dass die Seelsorgenden in den meisten Gesundheitsinstitutionen es nicht primär mit Patientinnen und Patienten der eigenen Konfession zu tun haben? Und auch wenn es eine konfessionelle Übereinstimmung gibt, sind die Patientinnen und Patienten häufig nicht an einer konfessionellen Seelsorge interessiert.

In der Charta steht: «Wir setzen uns ein für eine angemessene Berücksichtigung der Spiritualität als einer wichtigen Dimension im Verständnis von Gesundheit und Krankheit.»
Dahinter steht eine Erweiterung des Gesundheitsverständnisses. Es ist empirisch gut belegt, dass neben therapeutischen Prozessen sowie physischen und psychosozialen Faktoren auch spirituelle Faktoren eine Rolle spielen. Spirituell ist hier weit gefasst: Es können religiöse Überzeugungen, Praktiken oder Grundeinstellungen sein, aber auch nicht religiöse Formen von Spiritualität. So können religiöse Überzeugungen für Therapieentscheidungen wichtig sein, z. B. wenn es am Lebensende um eine Umstellung von kurativer zu palliativer Behandlung geht. Ärztinnen und Ärzte scheuen sich noch immer, nach spirituellen oder religiösen Überzeugungen zu fragen. Es ist wichtig, dass von dieser Seite her eine Sensibilität entsteht. Interprofessionalität heisst auch gute Organisation. Bei den schrumpfenden Aufenthaltszeiten in den Spitälern entsteht das Problem, dass alle gleichzeitig zur Patientin resp. zum Patienten möchten. Hier steht die Seelsorge immer hinten an, weil sie als «quantité négligeable» betrachtet wird. Hier muss sich etwas ändern. Die Seelsorge sollte miteinbezogen und als etwas Wertvolles angeschaut werden – auch von der Seite der Gesundheitsversorgung.

Es wurden Bedenken geäussert, dass durch die Charta die Spitalseesorge «verzweckt» und einer Gesundheitsprofession angenähert werde.
Diese Bedenken sind unbegründet. Nur weil man sich an der interprofessionellen Zusammenarbeit beteiligt, heisst das nicht, dass man verzweckt wird. Auch Gesundheitsfachpersonen «verzwecken» Spiritualität nicht, wenn sie auf diese Aspekte achten. Es geht um ein gemeinsames Anliegen, und es ist meines Erachtens im besten Interesse der kirchlichen Akteure und auch der Patientinnen und Patienten, dass die Seelsorge einen guten Stand im Spital hat, also gut eingebunden ist. Es ist ein Wandlungsprozess im Gang, und ein Wandlungsprozess weckt Ängste. Eine Angst ist, unter die Dominanz der Medizin zu geraten. Für dieses Schreckbild gibt es meines Erachtens gegenwärtig wenig Anlass.

Wenn Spitalseelsorgende stärker in die medizinischen Teams einbezogen werden, stellt sich die Frage nach der seelsorgerlichen Schweigepflicht.
Ja, tatsächlich, und sie sollte differenziert diskutiert werden. Es muss zunächst einmal unterschieden werden zwischen Beicht- und Seelsorgegeheimnis. Nicht jedes Seelsorgegespräch ist ein Beichtgespräch und nicht alles, was in einem Seelsorgegespräch geäussert wird, hat Geheimnischarakter. Manchmal geht es um Anliegen, die mitgeteilt werden sollen. Im interprofessionellen Kontext gibt es zudem ein geteiltes Berufsgeheimnis. Die Erfahrung zeigt, dass das Seelsorgegeheimnis auch in diesem Zusammenhang gewahrt werden kann. Weltweit arbeiten viele katholische und reformierte Seelsorgerinnen und Seelsorger in interprofessionellen Teams. Meine Erfahrung ist, dass Teambesprechungen zeitlich sehr eng bemessen sind und nichtmedizinische Anliegen leicht vergessen gehen. Es geht darum, in gebotener Kürze eine seelsorgliche Perspektive einzubringen und auf spirituelle Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten aufmerksam zu machen.

Die Charta hätte am 1. März vorgestellt werden sollen, die EKS machte aber einen Rückzieher. Kennen Sie die Gründe?
Wichtig ist, dass es nicht ein Problem zwischen der katholischen und der reformierten Kirche ist. Innerhalb der EKS gab es einerseits ein Kommunikationsproblem. Die Veröffentlichung der Charta wurde bereits vor über einem Jahr geplant und die EKS wollte ihre Kantonalkirchen noch kontaktieren, was aber nicht geschah. Dies führte zu einer Verstimmung bei den Kantonalkirchen und die Charta wurde durch die Brille gelesen: «Da hat man uns bewusst auf der Seite gelassen.» Doch die Charta ist kein bindendes Grundlagendokument, sondern eine Selbstverpflichtung auf nationaler Ebene, die den Kantonalkirchen in der konkreten Arbeit alle Freiheiten lässt. Anders würde es auch gar nicht gehen, denn in den Kirchen, auch innerhalb der EKS, gibt es eine Pluralität an Meinungen und Modellen, wie es in der Spitalseelsorge weitergehen soll. Das lässt sich nicht «von oben» verordnen.

Und wie geht es mit der Charta weiter?
Die Katholische Kirche und auch die Seelsorgevereinigung stehen hinter der Charta. Die EKS ist zurzeit in einem internen Reflexionsprozess. Ich weiss nicht, wie lange dieser dauert und welche Resultate er bringt. Es ist deshalb zurzeit nicht absehbar, ob die EKS die Charta doch noch unterzeichnet oder vielleicht noch Änderungen in der Charta möchte. Es ist schade, dass das ursprüngliche Ziel – mit der Charta gegen aussen ein Zeichen zu setzen – so nicht erreicht wurde. Es ist aber nach wie vor wichtig, dass man sich gemeinsam auf den Weg macht und eine nationale Koordinationsstelle schafft. Dafür braucht es die Charta nicht unbedingt, wohl aber einen gemeinsamen Willen. Der Prozess ist noch offen.

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 Text der Charta siehe Download unter Bonus.

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