Wider die Banalisierung des Themas

Wie kann man in der Familie oder im Religionsunterricht über das Gewissen ins Gespräch kommen? Dieser Beitrag bietet Impulse zur Gewissensbildung in Familie und Schule.

Kinder lernen nicht nur von ihren Bezugspersonen, sondern übernehmen auch deren Wertvorstellungen. (Bild: pixabay)

 

In einer Primarschulklasse, Wochenthema ist die Frage nach Fehlern und Fehlermachen und Verzeihen. Die Kinder bilden aus den Buchstaben des Wortes «Fehler» neue Worte: «er» und «her» und «leer» … und «Helfer». Die Kinder besprechen nun miteinander, inwiefern Fehler «Helfer» sein können.

Die innere Instanz: Gewissen

«Ge-» beschreibt im Deutschen u. a. die Gesamtheit. Zum Wort Berg bilden wir die Mehrzahl Berge, der summarische Plural, also die Gesamtheit nennen wir Gebirge. «Wasser» im Singular bildet im Plural nur die Gesamtheit, nämlich Gewässer. «Gewissen» meint also die Gesamtheit des Wissens, gespeist aus kognitiven, affektiven und voluntativen (willensbezogenen) Aspekten. Gewissen verbindet somit die Ebenen «ich denke», «ich fühle, ich empfinde» und «ich entscheide».

In den ersten fünf Lebensjahren wird das Kind daran gewöhnt, gewisse Verhaltensweisen als gut oder schlecht zu bezeichnen, es übernimmt dabei die Beurteilung der Bezugspersonen. Im Spiel werden Verhaltensweisen eingeübt und überprüft. Wer mit jüngeren Kindern zu tun hat, weiss, dass diese ständig spielerisch testen, ob es immer noch verboten ist, im Blumentopf zu graben oder zu einer Vase zu greifen. Im Kindergarten- und Primarschulalter kommt es zur Verinnerlichung und Internalisierung der Normen und Wertvorstellungen der Bezugspersonen. Diese Normen und Ideale werden vom Kind als eigene Verhaltensregeln übernommen und helfen zur Orientierung. Mit fortschreitendem Alter müssen diese verinnerlichten Ideale und Normen anderen, flexibleren, dem Stand der Einsicht und Erfahrung der Persönlichkeit entsprechenden Entscheidungsmöglichkeiten weichen.

Im Verlauf der Primarschulzeit wird die Auseinandersetzung und Konkurrenz zwischen verinnerlichten Normen und Normen bzw. Idealen anderer Bezugsgruppen stärker, Konflikte sind nicht zu vermeiden. In der Pubertät wird geprüft: Hat es einen Wert für mich? Passt das zu mir? Erst allmählich wird ein Perspektivenwechsel möglich, und damit die Befähigung, auch sich selbst kritisch einzuschätzen und zu reflektieren, was in welcher Situation richtig und falsch ist. Aber auch diese Fähigkeit muss ein Leben lang geübt werden.

Die Möglichkeit zum Guten wie zum Bösen

Die jüdisch-christliche Tradition geht davon aus, dass der Mensch die Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen hat. In den Schöpfungstexten am Beginn der Bibel ist überliefert, dass die Welt – trotz anderen Erfahrungen – geordnet und gut ist, dass jedes Lebewesen darin seinen Platz hat, der Mensch ist nicht des Menschen Feind, sondern als Mann und Frau gemeinsam Bild, Abbild Gottes mit besonderer Verantwortung für die Lebewesen. Am Beginn der Bibel steht: einen sicheren Platz haben, stabile Beziehungen, gute Versorgung – entwicklungspsychologisch ist nachgewiesen, wie zentral diese Erfahrungen am Beginn des Lebens sind.

Dieser Zustand wird durch die «Vertreibung» beendet, der Mensch, so bebildert der Mythos, mit der Fähigkeit zum Denken und Erkennen, zum Entscheiden und Handeln, ist hineingeworfen in eine Welt von Leiden und Begehren, von Polaritäten, Widersprüchen und Konflikten. Befreit aus primären Abhängigkeiten muss der Mensch seinen Platz selbst definieren. Dies bringt den Menschen in Konkurrenz zu anderen, biblisch auch zu Gott selbst.

Seit der «Vertreibung» ist der Mensch nicht einfach glücklich, sondern muss sein Glück suchen, gehört die Ambivalenz von Glück und Leiden, von Freude und Schmerz, von Schuld und Versöhnung zum Leben des Menschen. In zahlreichen Lebensgeschichten erzählt das Erste Testament Biografien von gelingendem Leben und von Irrwegen. Das Erste Testament erzählt in den sogenannten «Texts of Terror» auch warnend, dass nicht alles wiedergutzumachen ist (z. B. Ri 11,29–40).

Für den Juden Jesus ist das Menschenbild der Tora klar, das Leben wird aber nach vorne gesehen, nicht zurück – es zählt, was jemand tun wird, nicht was er oder sie getan hat. In der Beispielerzählung Lk 10, 25–37, häufig mit dem Titel «Der barmherzige Samariter» versehen, wird ein sich fragend distanzierender Gesetzeslehrer vorgestellt, der die Weisungen zwar kennt, aber nicht danach handelt. Direkt im Anschluss ist der Besuch Jesu bei Martha und Maria erzählt (Lk 10,38-42). Diese beiden Stellen gehören nach meinem Verständnis zusammen: Dem Gesetzeslehrer, der durch intellektuelles Fragen und Reden sich davor schützen wollte, sich wirklich einzulassen, der zwar die Weisungen kennt, aber nicht lebt, ihm ist gesagt: «Handle danach! Mach dir die Hände schmutzig, schau hin, wo du gebraucht wirst, lass die Menschen neben dir nicht im Stich.» Martha hingegen wird gesagt: «Es ist genug, setzt dich hin, gönn‘ es dir, einfach da zu sein.» Die Jesus-Überlieferung mutet dem Menschen zu, die Weisungen zu kennen und in eigener Verantwortung zu deuten und zu leben.

Praktisch möglich …

Nicht unreflektiertes Einhalten von Regeln, von Ver- und Geboten, sondern verantwortliches Handeln in der jeweiligen Situation – im Wissen um die Weisungen –, das ist das Ziel christlicher Gewissensbildung. Deshalb ist es gut, wenn Kinder und Erwachsene die Geschichten der Bibel kennen – von Jakob und Esau, von Sara und Hagar, von Josef, von Jesus …

Die Zumutung, immer wieder neu entscheiden zu müssen, was im Hier und Jetzt richtig ist, und oft erst in der Situation oder im Nachhinein zu wissen, ob es so richtig war zu handeln, immer wieder auch Unversöhntes auszuhalten – all das sind primär Herausforderungen für das Gewissen der Erwachsenen. Wenn sich Erwachsene dem stellen, stärkt es auch die Kinder.

Entwicklungsbezogen gilt bei jüngeren Kindern, positive Beziehungserfahrungen, Selbstsicherheit und Sicherheit in der Welt zu ermöglichen und zu unterstützen. Dann lernen Kinder Familienregeln, Klassenregeln, Regeln für Spiel und Sport. Kinder müssen sich an diese gewöhnen, immer und immer wieder, sie müssen Fehler machen, die besprochen werden, um es erneut zu lernen. Kinder müssen lernen dürfen, wie es sich anfühlt, etwas falsch gemacht zu haben, wie wir wieder aufeinander zugehen; sie erleben auch, dass das nicht immer gleich möglich ist.

Die «Goldene Regel»

Und es gibt eine gemeinsame Basis, die alle Religionen miteinander teilen – dies ist eine wunderbare Regel für ein gutes Gewissen. Wir haben als Kinder gelernt: «Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem anderen zu.» Im Judentum heisst es: «Tue nicht anderen, was du nicht willst, das sie dir tun.» In den christlichen Evangelien finden wir: «Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso.» Und in einem Hadith, einem Spruch Mohammads, heisst es: «Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.» Auch in den Religionen Asiens gibt es die Goldene Regel. Wenn wir sie im Alltag befolgen, können wir gut zusammenleben, so wie wir sind: vielfältig und bunt. Es ist gut, die eigenen Regeln und Gedanken für ein gutes Gewissen aufzuschreiben.

Manche sagen, das Gewissen sei wie ein kleiner Krebs, der uns gelegentlich zwickt, damit wir gleich merken, wenn etwas nicht in Ordnung ist. Das Gewissen sorgt dafür, dass wir uns so verhalten, wie wir gerne sein möchten. Egal, wie alt wir sind.

Helga Kohler-Spiegel

 

Literaturhinweise

  • Knietzsche erklärt das Gewissen, © WDR Planet Schule 2014.
  • Kohler-Spiegel, Helga, Wenn Schuld zum Thema wird, in: Katechetische Blätter 137 (2012), 4–8.
  • Kohler-Spiegel, Helga, Wie können Menschen mit unterschiedlichen Religionen gut zusammenleben? In: Biesinger, Albert / Kohler-Spiegel, Helga / Hiller, Simone (Hg.), Sieht Gott auf der ganzen Welt gleich aus? Wissen rund um die Religionen. Kinder fragen – Forscherinnen und Forscher antworten, München 2021, 38–45.

Helga Kohler-Spiegel

Prof. Dr. Helga Kohler-Spiegel (Jg. 1962) studierte Theologie und Pädagogik an der Universität Salzburg (A). Sie ist Professorin für Pädagogische Psychologie und Religionspädgogik an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg (A) und arbeitet daneben als Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin und (Lehr-)Supervisorin.