Wenn Gott das Trauergewand löst

Psalm 30 ist ein alttestamentlicher Text, der es in sich hat: Erzählt er doch in wenigen Versen umfassende Lebensgeschichten und läuft auf einen Wandel der Klage in überschäumende Lebensfreude hinaus.

In der jüdischen Tradition wird Psalm 30 als Festpsalm zum Chanukkafest gesungen, in der frühen Kirche wurde der Psalm in der Osternachtliturgie verwendet, um die Wende vom Tod zum Leben zu besingen.

Zwei Rettungserzählungen

Der Text beginnt mit der Selbstaufforderung zum Jubel (V1) über die Rettung durch Gott. Diese Rettung wird in V2 mit dem Sprachbild des Herausschöpfens ausgedrückt. Die oder der Betende identifiziert sich dabei mit einem Schöpfeimer, der aus einem tiefen, engen Brunnen herausgezogen wird. Das Sprachbild des Herausschöpfens birgt die Tiefendimensionen der Angst und Enge in sich. Um welche Lebenssituation es sich hier genau handelt, wird nicht gesagt, vielmehr kommt die Gewissheit zum Vorschein, dass Gott aus finsterer Einsamkeit, Not, Angst, Krankheit, aus tiefer Trauer und Erschütterung errettet. Sodann erzählt die oder der Betende vom Hilfeschrei zu Gott und der darauffolgenden Heilung aus schwerem Leid (V3) sowie vom Heraufholen der Lebenskraft aus dem Totenreich (V4). Schweigen und Vergessenheit, Kraftlosigkeit und Abgrund sowie undurchdringliche Dunkelheit kennzeichnen in den Psalmen das Totenreich (hebr. Scheol). Es kann auch für den sozialen Tod durch Krankheit und Gefangenschaft stehen und damit – noch vor dem biologischen Tod – mitten ins Leben hineinreichen. In V5 wird sodann die öffentliche Gemeinde der Getreuen bzw. Vertrauten Gottes in den Gesang, die Musik und den Dank für die Rettung miteinbezogen. Es erfolgt daraufhin eine zweite Rettungserzählung, die über die einzelnen Stationen von einstiger Selbstsicherheit und Glück (V7–8), Gefahr (V8), Hilferuf (V9.11) und Verhandlung mit Gott (V10) zur Erfahrung der Verwandlung (V12) und zum abschliessenden Lobpreis (V13) führt.

Gott umgürtet mich mit Freude

V12 stellt die Klimax des Psalms dar: «Verwandelt hast du meine Trauerklage in einen Tanz für mich, geöffnet hast du mein Trauergewand und mich umgürtet mit Freude.» Das hebräische Verb «hapach» (wenden, umwerfen) bezeichnet an dieser Stelle eine völlige Umkehrung des Bestehenden und eine radikale Verwandlung in ein neues Leben. Verwandelt wird dabei die Trauerklage, die auf die Trauerfeier bzw. die rituelle Totenklage Bezug nimmt. Im Rahmen dieser Trauerklage werden ritualisierte Zeichen der Trauer gesetzt: das Zerreissen von Kleidern, das Anlegen von Trauergewändern bzw. Sacktüchern (vgl. 2 Sam 3,31) sowie das Äussern von Schmerzen durch Klagelaute und Gesten.

Der Vers zeichnet ein Gottesbild, das von behutsamer Nähe zum Menschen bestimmt ist – eine Nähe, um welche die oder der Betende viele Verse lang gebeten, gerungen und gefleht hat: «Höre, Ewige, neige dich mir zu! Ewige, sei mir Hilfe!» (V11 BigS). In V12 öffnet Gott dann das Trauergewand und löst den Strick, der das Gewand zusammenhält. Dieses schwarze Kleidungsstück (hebr. Saq) wurde aus Ziegenhaar hergestellt und mit einem Gürtel gehalten. Man trug das aus grobem Stoff bestehende Trauergewand auf der blossen Haut, sodass durch den unmittelbaren Reiz des Stoffs und die kulturelle Codierung des Trauergewandes die Trauer unmittelbar körperlich fühlbar war. Dem Tragen dieses Gewandes ging schweres Unheil und Leid voraus.

Wie stark muss demnach die Erleichterung und Freude auch körperlich erfahrbar gewesen sein, wenn es heisst, dass Gott das Trauergewand löst und den betenden Menschen mit Freude umgürtet! Der Ausdruck «mit Freude umgürten» ist eine Metapher, ein Sprachbild, welches zwei Bereiche (umgürten/anziehen – Freude), die im Alltag nichts miteinander gemeinsam haben, miteinander verbindet, sodass neue Bedeutungen entstehen. Die Metapher «mit Freude umgürten» bringt die Dimensionen von Schutz und Kraft, Halt und Beständigkeit, die das Umgürten impliziert, zum Vorschein. Weiters bestimmen Leichtigkeit, Festlichkeit und Buntheit, die die Freude ausmachen, das Sprachbild. Um die Körpermitte wird somit die Freude gelegt, die das dunkle, raue, schwere Trauergewand ablöst. Mit dem Bild des Öffnens des Trauergewandes und des Umgürtet-Werdens mit Freude wird die innere Wandlung hin zur Lebensfreude spürbar.
Das Abstraktum «Freude» kann hier für das Freudengeschrei stehen und bringt die im Augenblick erlebte konkrete Freude zur Darstellung, die sich in Sprüngen, Klatschen, Singen und Tanzen äussert: «Verwandelt hast du meine Trauerklage in einen Tanz für mich». Somit ist der Tanz Ausdruck für impulsive Spontanität und überbordende Lebensfreude. Der Tanz als bewegter Ausdruck der Freude steht in Opposition zum Klageritual und macht den inneren Prozess der Verwandlung der Klage und Trauer in Freude und Dank nach aussen hin sichtbar.

Umschwung zum Guten

Dieser Wandel wird abrupt erzählt und weist damit Parallelen auf zum Phänomen des sogenannten Stimmungsumschwungs, welcher im Buch der Psalmen gehäuft in den Klageliedern des Einzelnen zu finden ist. Gemeint ist damit ein recht unvermittelter Umschwung von Bitten und Klagen zu Aussagen, die durch Vertrauen, Zuversicht und Lobpreis charakterisiert sind. Die oder der Betende hat die Gewissheit erlangt, dass Gott die Klagen gehört und die Bitten erhört hat. Versucht man, dieses Moment des Neuen textintern zu verstehen, so gehört diese Umkehr des Bisherigen zur Dynamik des Psalms als Prozess, als Weg und als Gebetsgeschehen: Über die Anrufung an Gott, die Darstellung der dramatischen Situationen in Todesnähe bis zur flehenden Bitte um Hilfe ist alles gesagt […] und da wandelt Gott die Klage in pure Lebensfreude.

Mitten in der Klage also oder dann, wenn alles herausgeschrien ist, erfolgt die Gewissheit: Gott wandelt. Dieser plötzliche Umschwung, die totale Wende hin zum Guten trägt einen Geschenkcharakter in sich: Es liegt nicht in der Hand des Menschen, das Ende des Klageprozesses zu setzen. Dorothea Erbele-Küster sieht hier eine Leerstelle, die nicht sofort erklärt oder ausgefüllt werden soll, und schlägt vor, das Phänomen als Erkenntnisgewinn und Sprachgeschenk zu deuten. Weiters ermöglichen die Leerstellen den Betenden, ihren existentiellen Erfahrungen des Bruchstückhaften und Unvollendeten Ausdruck zu verleihen und damit für Gottes erlösendes und rettendes Eingreifen offen zu sein.

Wohin zielt der Psalm?

Zentral ist in Ps 30 die Aussage, dass Gott verwandelt: Gott zieht die Bedrängten aus Enge und Gefahr heraus (V2), heilt (V3) und bringt die Lebenskraft und Lebendigkeit der Menschen wieder zurück (V4). Und schliesslich verwandelt die Gottheit die Trauerklage in die Helligkeit, Bunt- heit und Freude des Lebens (V12). Jubel, Musik, Tanz und Lobpreis sind die adäquaten Antworten auf diesen umfassenden Lebensumschwung (V 1.5.13). Wandel passiert in, durch und nach der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebenssituation und mit Gott. Dem Wandel geht ein Schrei nach Veränderung und die Hinwendung zu Gott voraus. Die oder der Betende aus Psalm 30 weiss um die Erfahrung des Totenreiches, des Ganz-tief-unten-Seins und hat erleben müssen, wie es ist, am Boden zerstört, ohne Lebensmut und Lebenssinn zu sein. Trotz dieser Erfahrung bleibt sie oder er in der lebendigen Beziehung mit Gott, wirft der Gottheit alles hin, macht sie für das Leben verantwortlich, streitet, bittet und fleht. Und dann – nachdem alles gesagt und getan ist – passiert der Wandel: Gott hört das Schreien, holt die Lebenskraft aus der Öde der Unterwelt, wandelt das tiefe Leid, verwandelt Totenklage in Tanzen und bekleidet mit Freude.

Psalmen gelten als Gebrauchstexte mit Formularcharakter. Sie dienen dazu, dass sich Menschen die Worte ausborgen und sich die Aussagen des Textes zu den je eigenen machen können. So lädt insbesondere Psalm 30 ein, sich auf den Gebetsweg und Prozess des Ringens und der Auseinandersetzung mit Gott einzulassen, und gibt Grund zur Hoffnung, dass das Geschenk der Erlösung aus einer tiefen Notsituation auch heute erfahrbar ist.

Sigrid Eder

 

Weiterführende Literatur

  • Eder, Sigrid, Identifikationspotenziale in den Psalmen. Emotionen, Metaphern und Textdynamik in den Psalmen 30, 64, 90 und 147, Göttingen 22019. www.vr-elibrary.de
  • Erbele-Küster, Dorothea, Lesen als Akt des Betens. Eine Rezeptionsästhetik der Psalmen, Eugene/Oregon 2013.
  • Hossfeld, Frank-Lothar / Zenger, Erich, Die Psalmen 1. Psalm 1–50, Würzburg 1993.
  • Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen 2003.
  • Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996.
  • Rechberger, Uwe, Von der Klage zum Lob. Studien zum «Stimmungsumschwung» in den Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2012.
  • Weber, Beat, Zum sogenannten «Stimmungsumschwung» in Palm 13, in: Flint, Peter / Miller, Patrick, The Book of Psalms. Composition and Reception, Leiden 2005, 116–138.

Sigrid Eder

Dr. theol. Sigrid Eder (Jg. 1975) studierte in Graz, Freiburg i. Ue. und Valladolid (E) Theologie und Spanisch, ist habilitierte Alttestamentlerin, lehrte an den Universitäten Graz, Wien, Passau und Luzern und arbeitet derzeit als Hochschulprofessorin an der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule und als Religions- und Spanischlehrerin in Graz (A).

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente