Wege aus der Krise

Weder die «abweichende Gewissensentscheidung» noch die Verweigerung der Rezeption sind auf Dauer befriedigende Lösungen. Einzig die Weiterentwicklung der Lehre führt aus der Sackgasse.

50 Jahre nach dem Erscheinen von Humanae vitae (HV) sind ihre direkten und indirekten Auswirkungen noch immer spürbar. Von weiten Kreisen in der Kirche nicht rezipiert, verhallt sie bis heute weithin ungehört. Die freundliche Nichtbeachtung ihrer Lehre, zu der viele Gläubige inzwischen gefunden haben, um ihr Verhältnis zur eigenen Kirche nicht weiter zu belasten, ist zwar menschlich sympathisch und im Hinblick auf das Motiv, den inneren Frieden mit der Kirche und ihrem Lehramt zu schliessen, durchaus begrüssenswert.

Auch kann man HV das ungewollte Verdienst nicht absprechen, als Katalysator für die Hinwendung der katholischen Moraltheologie zu Konzepten einer autonomen Ethik im Kontext des christlichen Glaubens und für die gewachsene Bereitschaft vieler Gläubiger gedient zu haben, ihrem verantwortlichen Gewissensurteil auch dort zu folgen, wo es von lehramtlichen Vorgaben abweicht.

Dennoch haftet derartigen pastoralen oder kirchenpolitischen Beruhigungsstrategien etwas Unbefriedigendes an, da sie die Gründe nicht offen aussprechen, die einer Rezeption dieser Enzyklika im Glauben der Kirche entgegenstehen. Wie könnte ein Ausweg aus der Krise aussehen, in die das kirchliche Lehramt durch HV und durch die Gehorsamsverweigerung vieler Gläubiger gegenüber der von ihm vertretenen Sexualmoral – oder, von der anderen Seite her formuliert: durch das Festhalten des Lehramtes an einer nicht mehr im Glauben der Kirche verankerten Lehre – geraten ist?

Persönliche Gewissensentscheidung

Der Hinweis auf die Möglichkeit abweichender Gewissensentscheidungen, deren Verbindlichkeit für die betreffenden Gläubigen die Kirche anerkennt, konnte vorübergehend für eine gewisse Entlastung sorgen. Dies entsprach auch der Erwartung, die hinter der «Königsteiner Erklärung» der Deutschen Bischofskonferenz und hinter ähnlichen Verlautbarungen anderer Episkopate stand. Die Bischöfe wollten den empörten Widerspruch und das Befremden, das die päpstliche Lehre bei vielen Gläubigen hervorrief, entschärfen, indem sie die anstössige Konkretheit des ausnahmslosen Verbots der künstlichen Empfängnisregelung quasi einklammerten. So konnten sie den Gläubigen einen Weg aufzeigen, wie sie sich unter Berufung auf eine abweichende Gewissensentscheidung dem autoritativ vorgetragenen Anspruch auf Befolgung dieser Lehre in ihrem Leben entziehen konnten.

Dieses vorsichtige Abrücken von der lehramtlichen Norm sollte diese selbst nicht infrage stellen, sondern sogar bestätigen, was von vielen als Quadratur des Kreises empfunden wurde. Sicherlich handelten die Bischöfe aus pastoraler Weitsicht und aus der ihnen übertragenen, nicht delegierbaren Verantwortung für die Gläubigen ihrer Diözesen heraus. Dies wurde von Papst Paul VI. im Gegensatz zu seinem Nachfolger, Johannes Paul II., auch ausdrücklich anerkannt. Dennoch ist die unbefriedigende Situation, in die die gesamte Kirche, der Papst und die Bischöfe ebenso wie die Laien, durch HV geriet, durch den Hinweis auf abweichende Gewissensentscheidungen nicht dauerhaft und theologisch zufriedenstellend zu lösen.

Natürlich gibt es diese Möglichkeit, und sie muss um der Freiheit des Glaubens willen in der Kirche immer anerkannt und gegenüber jedermann verteidigt werden. Doch erübrigt der Respekt vor dem Gewissen nicht die Frage nach der Geltung von Gründen, die für oder gegen eine vom Lehramt vorgelegte Norm sprechen. Solange die Frage nicht auf dieser Ebene gestellt wird, bleibt jeder Lösungsversuch unbefriedigend, auch wenn er nach dem Erscheinen von HV pastorale Entlastung verschaffen konnte, was angesichts der dramatischen Lage damals nicht wenig war.

Zwar verzichten die pastoralen Verlautbarungen der einzelnen Bischofskonferenzen darauf, die abweichende Gewissensentscheidung von Gläubigen als ein «irriges» Gewissen zu bezeichnen, dessen Verpflichtungskraft für den Fall eines unüberwindlichen Irrtums von der Kirche anerkannt ist. Dennoch bleibt es für die Gläubigen eine Zumutung, sich im Gewissen gegen eine Lehraussage stellen zu müssen, der sie nicht aus innerer Überzeugung zustimmen können, die ihnen aber mit dem Anspruch gegenübertritt, die Wahrheit ihres eigenen Glaubens zu vertreten.1

Weiterentwicklung der Lehre?

Auch stellt die Nicht-Rezeption dieser Lehre noch keine Widerlegung ihres Anspruches dar, ein gültiger Ausdruck des katholischen Glaubens und der mit ihm verbundenen Moralauffassungen zu sein, denn für sich genommen, d. h. getrennt von den übrigen Bezeugungsinstanzen des Glaubens, kann auch der Glaubenssinn des Volkes Gottes kein untrügliches Erkenntniskriterium sein.2 Doch lassen sich die Gründe, die den Papst zu seiner Entscheidung bewogen, im Nachhinein überprüfen, zumindest soweit sie aus dem Minderheitengutachten hervorgehen, auf das er sich stützte.3 Ein zentrales Argument, das darin gegen eine Änderung der Lehre seiner Vorgänger vorgetragen wurde, lautete: Eine solche Weiterentwicklung der Lehre widerspreche dem katholischen Traditionsprinzip, das kein Abrücken von einer bislang einmütig und unverändert vertretenen Lehre erlaube.

Diese Schlussfolgerung lässt sich jedoch mit guten Gründen bestreiten, da die Tradition als lebendige Überlieferung des Glaubens sehr wohl ein Voranschreiten der Lehrentwicklung kennt. Die von John Henry Newman entwickelten Kriterien zur Unterscheidung einer echten Entwicklung im Unterschied zur Deformation einer Idee, insbesondere die Erhaltung ihres Typus, die Kontinuität ihrer Prinzipien, ihr Assimilationsvermögen und die Vorwegnahme ihrer Zukunft, eignen sich zu dem Nachweis, dass eine organische Weiterentwicklung der Lehrmeinungen der katholischen Kirche ihrem Traditionsverständnis keineswegs widersprechen müsste.4

Vorsichtige Korrektur

Sind solche Überlegungen illusorische Zukunftsmusik? Wenn man hinsichtlich der Reformfähigkeit der Kirche keinem habituellen Pessimismus verfallen ist und hinsichtlich der Entwicklungsfähigkeit ihrer Lehre geschichtlich (und insofern realistisch) denkt, sind erste Anzeichen eines solchen Perspektivenwechsels bereits erkennbar. Seit dem Pontifikat von Papst Benedikt XVI. gewinnt man den Eindruck, dass das universalkirchliche Lehramt den Stellenwert der Lehre von HV herabsetzt bzw. die Weisungen dieser Enzyklika nicht mehr mit gleicher Dringlichkeit einfordert, wie das unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. der Fall war. Allerdings scheut sich das Lehramt, diese vorsichtige Korrektur offen einzuräumen, weil dies als Desavouierung der früheren Päpste Paul VI. und Johannes Paul II. und als prinzipieller Verzicht auf die Prärogativen päpstlicher Lehrverkündigung gedeutet werden könnte.

Eine vorsichtige Selbstkorrektur des Lehramtes deutet sich bereits in der von Benedikt XVI. in seiner Botschaft zum 40. Jahrestag des Erscheinens von HV gewählten Formulierung an, dass es dem Wesen ehelicher Liebe entspreche, die Zeiten und Rhythmen des anderen zu achten.5 Dieser versteckte, mit einer erkennbaren Zurückhaltung vorgetragene Hinweis, der sich in dem Dokument wiederfindet, das die Familiensynode im Oktober 2015 zum Abschluss ihrer Beratungen veröffentlichte, wirbt für die Vorzüge der natürlichen Familienplanung, ohne den harten Kern von HV, das ausnahmslose Verbot der künstlichen Empfängnisregelung, zu wiederholen. Von hier aus wäre es nur ein kleiner Schritt zu der positiven Aussage, dass auch andere Methoden als die der natürlichen Zeitwahl für die Aufgabe der verantwortlichen Elternschaft in Betracht kommen können, wenn sie der von der ehelichen Liebe geforderten Rücksichtnahme auf die Partnerin oder den Partner nicht widersprechen. Die Aussage von Papst Franziskus, die Entscheidung über die Methoden der Familienplanung müsste die Menschenwürde achten (vgl. Amoris laetitia 222), ist für eine solche Deutung zumindest offen.

Nachkonziliaren Problemstau lösen

Das Urteil darüber, welche Methode dies in der gegebenen Situation eines Paares im Einzelnen sein soll und wie die bei dieser Entscheidung zu berücksichtigenden Kriterien in der jeweiligen Lebensphase am besten gegeneinander abgewogen werden können, sollte ebenso wie das Urteil über die Zahl der Kinder und den Abstand zwischen den Geburten von dem jeweiligen Paar in gemeinsamer Verantwortung getroffen werden. Eine solche Weiterbildung der kirchlichen Lehraussagen zur Sexualethik könnte nicht nur den Problemstau der nachkonziliaren Kirche an einer symbolträchtigen Stelle lösen. Sie stünde auch in bester Übereinstimmung mit allem, was das Zweite Vatikanische Konzil über die Würde des Gewissens, über die Aufgabe der verantwortlichen Elternschaft, über das tiefere Eindringen des gläubigen Volkes in das Verständnis der Tradition und über den Glaubenssinn der Gläubigen sagt, der diese zu einem verlässlichen Urteil in moralischen Fragen befähigt.

Eberhard Schockenhoff

 

1 Vgl. Papst Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis Splendor vom 6. August 1983, 64.

2 Vgl. das Urteil von Congar, Y., Der Laie. Entwurf einer Theologie des Laientums, Stuttgart 31964, 469.

3 Vgl. Dokumente der päpstlichen Kommission für Geburtenregelung: Der Standpunkt der Minderheit, Nr. I. B, in: HerKorr 21 (1967) 429–439.

4 Vgl. Newman, J. H., Über die Entwicklung der Glaubenslehre, in: Laros, M; Becker, W.; Arz, J. (Hg.), Ausgewählte Werke, Band VIII, Mainz 1969, 151–183.

5 Vgl. Papst Benedikt XVI., Ad Congressum Internationalem «Humanae vitae: Harum Litterarum Encyclicarum vigor hodiernus et prophetia»,
  in AAS 100 (2008, 10), 741–744.

 

 


Interviewpartner Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff

Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff (Jg. 1953) studierte Theologie in Tübingen und Rom. Von 1990 bis 1994 war er Professor für Moraltheologie in Regensburg, seit 1994 ist er Ordinarius für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. Er war von 2001 bis 2008 Mitglied im Nationalen Ethikrat, von 2008 bis 2016 Mitglied im Deutschen Ethikrat und ist seit 2016 Präsident des Katholischen Akademischen Ausländerdienstes (KAAD).

 

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