Vorbild sein

Im Teilen liegt das Leben, im Füreinander-da-Sein das Glück. Brücke – Le pont zeigt in ihrer Mai-Aktion, dass alle Menschen, auch Jugendliche aus einfachen Verhältnissen, ein Vorbild für andere sein können.

Camila Marques bei ihrer Arbeit als Moderatorin bei einem kleinen Radiosender im Nordosten Brasiliens. (Andreas Jahn)

 

Die Sonne brennt zur Mittagszeit unbarmherzig auf Oeiras nieder. Die Temperatur von 41 Grad Celsius macht jegliche Arbeit zur Tortur. Als ob die Menschen in dieser Kleinstadt im Nordosten Brasiliens nicht schon genug Mühsal hätten, ihren Alltag zu bewältigen: Die tiefe wirtschaftliche und soziale Krise, in der sich Brasilien derzeit befindet, hat auch in dieser ländlichen Gegend ihre Spuren hinterlassen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, vor allem unter Jugendlichen. Sie verführt manche zu Kleinkriminalität und Drogensucht. Da es hier kaum Bildungsangebote gibt, verlassen viele junge Menschen das Halbtrockengebiet und wandern in die grossen Städte ab.

Der Raum, in dem Camila Marques arbeitet, ist klimatisiert, und die Wände sind schalldicht ausgekleidet. Camila ist Moderatorin bei einem kleinen Radiosender. Die 23-Jährige träumt seit ihrer Kindheit davon, Journalistin zu werden. Vor zwei Jahren ist sie ihrem Traum einen Schritt näher gekommen: Dank dem Projekt Comradio von Brücke – Le pont konnte sie eine Ausbildung in Kommunikation abschliessen. Diese hat ihr eine neue Welt eröffnet: «Dieser Kurs war ein Geschenk. Er weckte die grosse Leidenschaft für Kommunikation in mir», ist sich Camila heute sicher.

Zehn Familien kontrollieren die Medien

Eine Leidenschaft wie diese ist in einem Land wie Brasilien meist den reichen Städtern vorbehalten, denn die Ausbildung ist teuer. Zudem kontrollieren rund zehn einflussreiche Unternehmerfamilien die wichtigsten Medien im Land. Auf der Rangliste der Pressefreiheit 2017 von «Reporter ohne Grenzen» liegt Brasilien abgeschlagen auf dem 103. Platz. Dies sind keine rosigen Voraussetzungen für die Karriere einer kritisch denkenden angehenden Journalistin.

Doch Camila weiss, was sie will. Innert kurzer Zeit lernte sie das Handwerk für Video- und Radioreportagen und fand so zu ihrer heutigen Stelle als Moderatorin beim Lokalradiosender Rádio Cristo Rey FM. Von der Arbeit ist sie begeistert: «Ich komme jeden Morgen glücklich zur Arbeit, weil ich das tue, was ich liebe. Ein Tag, an dem ich Sendungen moderieren und Reportagen machen kann, ist für mich ein erfüllter Tag.» Beim Lokalradio kann sie nun wichtige Erfahrungen für ihre weitere Karriere sammeln.

Wenn man die zierliche junge Frau bei ihrer Arbeit beobachtet, sieht man sofort: Camila ist in ihrem Element. Flink sucht sie auf dem Computer das nächste Musikstück aus und moderiert nebenbei selbstsicher eine neue Sendung an. Das war nicht immer so: «Am Anfang hatte ich grosse Angst davor, live zu sprechen.»

Für diese Entwicklung ist nicht zuletzt auch Jessé Barbosa verantwortlich. Der Co-Direktor des Instituto Comradio do Brasil, der Partnerorganisation von Brücke – Le pont, hat Camila in ihrem Kurs eng begleitet. Camila respektiert ihren ehemaligen Mentor zutiefst. Nicht zuletzt hat sie auch dessen Credo übernommen, dass Kommunikation immer auch eine soziale und entwicklungspolitische Komponente haben soll.

Wasser und ein Radiosender

Darauf angesprochen, erinnert sich Barbosa an seinen eigenen journalistischen Schlüsselmoment: «Bei einer Recherche stiess ich auf einen staatlichen Fragebogen. Zahlreichen Gemeinden wurde die Frage gestellt, welche die dringendsten Bedürfnisse der Dorfbewohner wären. Der dringendste Wunsch einer armen ländlichen Gemeinde war – neben dem Zugang zu sauberem Wasser – das Gründen eines eigenen Radiosenders. Dies beeindruckte mich so sehr, dass ich dort hinfuhr und einen Dokumentarfilm über die Gemeinde und ihre Idee drehte. Und tatsächlich: Heute betreibt das Dorf, trotz den begrenzten Ressourcen, eine eigene Radiostation.» Dieses Erlebnis bestätigte Barbosa in seiner Annahme, dass alle Menschen ein Bedürfnis nach Kommunikation haben – gerade auch jene, deren Stimme meist ungehört bleibt.

Etwa die Stimme der arbeitslosen Jugend in Oeiras. Auf sie will sich Camila in ihrem weiteren journalistischen und sozialen Engagement konzentrieren. Sie will ihr Wissen teilen und anderen Jugendlichen helfen. Als Erstes hat sie zusammen mit anderen Kursteilnehmenden die Facebook-Fanpage @SaberSerAmigo («Wissen, wie man ein Freund ist») gegründet. Die Seite thematisiert die Wichtigkeit von Freundschaften bei der Prävention von Drogensucht und Drogenhandel der Jugendlichen in Oeiras. Ein Thema, das im Kontext der Krise immer mehr an Aktualität gewinnt. Camila und ihre Freunde tun dies nicht auf belehrende Weise oder mit abschreckenden Beispielen, sondern sprechen vielmehr die Sprache der Jugendlichen selbst, wenn sie Texte, «Memes» oder Videointerviews publizieren. Das Facebook-Projekt wurde bereits zum Selbstläufer, freut sich Camila: «Wir helfen anderen und diese helfen wiederum anderen.» So werden die Ideen des Projekts Comradio von Brücke − Le pont weitergetragen: die Idee, nicht nur individuelle Karrieren, sondern die Situation von benachteiligten Jugendlichen in einer ganzen Region zu fördern, und die Idee, allen Menschen eine Stimme zu geben.Andreas Jahn

 

Mai-Aktion

Jedes Jahr stellt Brücke – Le pont den katholischen Pfarreien einen Gottesdienstentwurf zu einem aktuellen Thema zu. Manche Pfarreien führen diese Aktion an einem Mai-Wochenende durch, andere zu einem späteren Zeitpunkt. Vielerorts beteiligen sich Freiwillige an der Gestaltung der Gottesdienste. Wollen Sie mithelfen? Dann nehmen Sie Kontakt mit Ihrer Pfarrei oder mit Brücke – Le pont auf.
www.bruecke-lepont.ch


Andreas Jahn

Andreas Jahn arbeitet seit Februar 2015 als Verantwortlicher für Kommunikation und Entwicklungspolitik beim KAB-Hilfswerk Brücke – Le pont. Der 37-jährige Ethnologe hat zuletzt als Redaktor bei der NZZ gearbeitet.