Urbaner Lebens- und Konsumstil

Stephan Wirz / Gerhard Droesser (Hrsg.): Urbaner Lebens- und Konsumstil (= Schriften Paulus-Akademie Zürich, Band 9). (Edition NZN bei TVZ, Theologischer Verlag) 2014 182 S.

Der vom theologischen Ethiker Stephan Wirz, Leiter des Bereichs Wirtschaft und Arbeit der Paulus-Akademie Zürich sowie Titularprofessor für Ethik an der Universität Luzern, und dem Würzburger Professor für Christliche Sozialwissenschaft, Gerhard Droesser, herausgegebene Sammelband «Urbaner Lebens- und Konsumstil» gliedert sich nach einer ausführlichen Einleitung der beiden Herausgeber (7–15), die die einzelnen Aufsätze hervorragend zusammenfasst, in die drei Grossteile: Teil 1: «Ist der Stadtmensch im Konsumieren überfordert? Erkundungen einer wesentlichen Dimension des Menschseins» (17–75), Teil 2: «Ich shoppe, also bin ich! Verschiedene Positionen zur Gestaltung ‹guten Lebens›» (77–135), und Teil 3: «Lässt sich das Religiöse noch im Städtischen verorten?» (137–180). Eine Übersicht über die Autorinnen und Autoren beschliesst den Band (181 f.).

Lokale Identität

Allein die Perspektive der Fragestellung ist schon spannend, nämlich die thematische «lokale» Eingrenzung eines umfassenden identitätsethischen, wirtschaftsethischen, politisch-ethischen, sozialethischen und ökologischethischen Geflechts auf das Leben in der Stadt, auf das Urbane und auf den von ihm generierten Lebens- und Konsumstil mit all seiner heterogenen Vielfalt und Breite an Möglichkeiten und Optionen. Spannend dann auch, wie die drei Grossteile miteinander verzahnt und ineinander verankert sind – und das bei den doch in bestimmter Hinsicht durchaus disparaten Ansätzen, die freilich unter dem Dach des ernsthaften ethischen Fragens nach der zukünftigen Gestaltung des Lebens und Konsumierens in den zunehmend grösser werdenden Städten vereint sind.

Gründe für die Lektüre

Das Büchlein ist aus vielerlei Gründen äusserst lesenswert: – Es führt in überschaubaren, gut leserlichen, aber dennoch wissenschaftlich tiefgründigen Aufsätzen in die ethischen Problemstellungen ein – und das an den Phänomenen Konsum, modernes Leben und Zukunftsoffenheit, die uns allesamt in unseren täglichen Entscheidungen, Hoffnungen und Sorgen betreffen. Man wird dadurch regelrecht in die Reflexionen über die anthropologischen, ökonomischen, sozialen und ökologischen Chancen- wie Problemlagen der modernen Konsum- und Lebensgestaltung hineingezogen. – Es geriert sich keinesfalls «verklemmt », «depressiv» oder «repressiv », wie das so viele konsumethische Ratgeber tun. Das liegt zum einen an der Fundierung des Büchleins in den einleitenden Aufsätzen der Herausgeber: Stephan Wirz, bereits mit seiner Dissertation Experte der bedürfnisethischen Fragestellung innerhalb der Wirtschaftsethik («Vom Mangel zum Überfluss.

Die bedürfnisethische Frage in der Industriegesellschaft», Münster 1993) legt in seinem Beitrag «Dynamische Bedürfniswelt. Herausforderungen für den consumer citizen» (19–36) die ethische Gestaltung eines zukunftsfähigen urbanen Lebensund Konsumstils Grund in einem «autonomiebasierten Person- Verständnis» und in «einem liberalen Gesellschaftsmodell» (31). Gerhard Droesser (37–54: «Die Kultivierung des Begehrens. Konsumgestaltung im Horizont liberaler Ethik») vertieft diesen affirmativen Ansatz durch eine philosophisch-anthropologische wie sozialwissenschaftlich-politische Herangehensweise an die Definitionen von «Konsum» und «Urbanität»: Beide stehen mit ihren Potenzialen und Gefährdungen im Kontext von «Sinnsynthesen » (41), die ihrerseits aus dem komplexen Zusammenfliessen von Identitätsaufbau des Einzelnen wie Mentalitätslagen der Gesellschaft entstehen. Die «Glücksmomente, die mir der Konsum vermittelt» (48), stellen dabei mögliche integrative Bestandteile der Sinndeutung dar, niemals aber deren Gesamtheit. Diese wiederum ist verflochten mit der politischen, religiösen und ethischen Identität, sei dies persönlich oder gesellschaftlich. Die Gesellschaft ist dabei «nicht die der Konkurrenz eigensinniger Subjekte, sie ist auch keine naturwüchsige Solidargemeinschaft, in denen das Kollektiv alle individuellen Eigenleistungen absorbiert. Sie ist das spannungsreiche Miteinander von Subjekten, in dem jedes, frei in der Wahl seiner Möglichkeiten und darum in ganz unterschiedlichen Synthesen und Akzentuierungen, aber doch unbeliebig unter dem formalen Sollen des terminus ad quem, sowohl für die eigene Personwerdung wie die der Anderen verantwortlich sein Handeln anzustrengen hat» (54). Abgerundet wird die aristotelische Zielperspektive der «Eudaimonia » als eines Glücks, das in einem Gesamtsinn verankert ist, durch die Übersicht über empirische Studien und durch deren Auswertung durch den Volkswirtschaftler Mathias Binswanger (55–75): «Glück im Konsum? Die Tretmühlen des Glücks».

Der gemeinsame Nenner

Versucht man – neben der thematischen Fragestellung – einen gemeinsamen Nenner aller Beiträge im Buch zu finden, so ist es einerseits die aristotelische Suche nach dem personalen Glücken des Menschen im Angesicht der Möglichkeiten modernen Konsumierens und des modernen urbanen Lebensstils und andererseits die ihrerseits aristotelische Frage nach dem Zusammenspiel der Menschen in der «Polis». Genau darin aber nun unterscheiden sich die Beiträge denn auch: Während Stephan Wirz, Gerhard Droesser, Mathias Binswanger und wohl auch der Schweizer Architekt Ulrich Prien (79–81: «Was macht die Stadt so attraktiv?»: Er spricht von einem «Charakter», der die Städte prägt und der ihre Attraktivität auf Dauer ausmacht) und der frühere CEO der Schweizer Warenhauskette Globus, Marcel Dietrich (83–97: «Einkaufen als Erlebnis»: Er führt anschaulich auch in Bildern in die Trends moderner Offline-Marketingstrategien ein) die Verantwortung für den eigenen Glücksaufbau und für die Fortentwicklung der Gesellschaft im Spannungsfeld der Chancen und Gefährdungen eher dem Diskurs der «consumer citizens» anheimstellen, interpretieren die drei spanischen Erziehungswissenschaftler M. Belén Caballo Villar, Rita Gradaílle Pernas und Germán Vergas Callejas in ihrem Beitrag «Bürgergeist oder Konsumegoismus» (99–112) den Gedanken der aristotelischen «Polis» eher kommunitaristisch im Sinne eines übergreifenden «Bürgergeists», der dem Konsumieren von daher einen Ort zuweist (hier ist «Konsum» freilich zugleich materieller und damit deutlich enger gefasst als bei Droesser).

In eine ähnliche Richtung argumentieren – im Sinne einer philosophisch gehaltenen «Beratung zur sinnvollen Lebensführung» die beiden Engländer Richard Docwra und Elizabeth Holmes (113– 124) sowie – religiös untermauert («What does it mean to live well as a Christian in consumer society »: 125) – die Engländerin Ruth Valerio in ihrem Aufsatz «Einfacher Lebensstil als freikirchliches Programm» (125–135). In diesen letztgenannten Beiträgen entsteht der Eindruck, dass dem Entwurf eines urbanen Lebens- und Konsumstils durch den Einzelnen eine irgendwie geartete gemeinschaftliche Interpretation von Sinnentwürfen vorausgeht, die möglicherweise auch schon auf die Produktion und Distribution Einfluss nehmen.

Disparität

Meines Erachtens liegt die im Buch aufscheinende bleibende Disparität an drei Punkten: erstens an der ihrerseits noch ungelösten politischen und ethischen Frage, ob der Polis-Gedanke des Aristoteles eher liberal oder eher kommunitaristisch zu deuten ist. Zweitens an der Frage, wie Leitbildvorgaben entstehen und wie Partizipation gelebt wird: eher «naturwüchsig diskursiv» im Gespräch aller Beteiligten (bei hoher Wertung der Souveränität der Beteiligten) oder eher programmatisch (bei hoher Wertung der Orientierungssuche der Beteiligten). Drittens in der Frage, wie eng oder wie weit die Begriffsfügung «urbaner Lebens- und Konsumstil » verstanden wird: Bleibt er eher im Materiellen verhaftet oder nimmt er eher auch den positiven Reiz aller ökonomischen, technischen, medizinischen, kulturellen, ästhetischen und sozialen Errungenschaften und der Vielfalt an unterschiedlichsten Lebensentwürfen in Blick.

Die Frage des Religiösen

Dann schliesslich zur Frage nach dem Religiösen im Anspruch des urbanen Lebens- und Konsumstils: Hier zeichnet die österreichische Journalistin und Theologin Brigitte Schwens-Harrant einen auch literarisch genüsslichen Überblick über die Stadtbilder und das Empfinden städtischer Protagonisten in verschiedenen Romanen (139–150: «Die erzählte Stadt»).

In gleichfalls reizvoller literarischer Qualität runden der Luzerner Dogmatiker Wolfgang W. Müller (151–162: «Verdrängen die Konsumtempel die Sakralräume? ») und der Bonner Pastoraltheologe Jörg Seip (163–180: «Grenzziehungen – Praktiken des Versammelns») das Bändchen ab. Müller sieht in dem Nebeneinander der vielen Lebensstile vor allem der Grossstädte der Zukunft eine «Theologie der Stadt» als «ein Postulat theologischer Arbeit im 21. Jahrhundert» (162). Im Gegensatz zu Harvey Cox’ «Stadt ohne Gott» erkennt er aber, dass «gesellschaftliche Umbrüche, Migration und Mobilität eine ‹Wiederkehr› des Religiösen in der Stadt eingeleitet» haben (162). Seip betrachtet die Stadt als ständiges Fliessen und Verschieben von Grenzen, als lebendes corpus, das auch mit Blick auf den Konsum- und Lebensstil auf theologischer Basis immer kritikoffen bleibt: «Gegen den Kommerz, also den Tausch, der wie der Potlatsch ohne Gegengaben nicht funktioniert, halten sie das commercium, also jenes Geschenk wach, jenen ‹wunderbaren Tausch› einer Gabe, der keine Gegengabe erfordert: Das wäre jene Sakralisierung, die das dichotomische Paar säkular/sakral überschreitet und in theologischer Begrifflichkeit ‹Inkarnation› heisst» (180).

Mit dieser theologischen Einkleidung schliesst ein Buch, das man nicht nur ein Mal liest und dann wegwirft, sondern eines, das man wegen seiner unterschiedlichsten Impulse, seiner bleibenden Offenheit und seiner Zukunftsorientierung immer wieder zur Hand nehmen kann und über dessen Gedanken sich zu meditieren lohnt – gerade für die verantwortungsvoll Fragenden und Suchenden!

 

 

Wolfram Winger

Dr. theol. Wolfram Winger ist Oberstudiendirektor und Schulleiter am Gymnasium Bad Waldsee; er war von 1992 bis 1997 wissenschaftlicher Redakteur für das «Handbuch der Wirtschaftsethik » und für das «Lexikon der Bioethik» (Leitung Prof. Dr. Wilhelm Korff in München)