Ungläubiges Staunen über das Christentum

 

Kermani gehört mittlerweile zu den bedeutendsten Intellektuellen in Deutschland. Das vorliegende Buch bestätigt diese Einschätzung. Ein säkularer, vom schiitischen Islam geprägter Schriftsteller schaut auf das Christentum.1

Es ist nicht das Christentum der Dogmen oder der Moral, es ist ein ästhetisches Christentum, das der Autor neu entdeckt. Der Katholizismus mit seiner figürlichen Pracht steht im Zentrum des Interesses. Kermani reist in Europa herum und besucht Bilder und Orte, die nicht jeder Gebildete kennt. In Paris beispielsweise geht er in die Pinacothèque de Paris, wo ihn eine einzige Angestellte empfängt, die den Eintritt kontrolliert und zugleich Wächterin ist. Der Autor ist der einzige Besucher, und das in einem Pariser Museum erster Güte! Hier, abseits des Kulturmassentourismus, entdeckt Kermani einen Christus, der das Kreuz trägt, gemalt von Sandro Botticelli. Es ist ein seltsamer, fast schwebender Christus in einem roten Gewand. Der Betrachter geht ein paar Schritte zurück, und die Figur wird geschlechtslos, ja nimmt weibliche Züge an. Das Christentum und in der Folge die christliche Kunst ist den meisten Europäerinnen und Europäern fremd geworden. Sie verfügen nicht mehr über die religiösen und kulturellen Ressourcen, um die Werke zu verstehen. Bei aller Rede über das postchristliche Zeitalter zeigt das vorliegende Buch auch, dass die europäische Kultur zutiefst christlich geprägt ist.

Kein voraussetzungsloser Beobachter

Navid Kermani ist kein voraussetzungsloser Betrachter. Obwohl säkular, entstammt er doch dem schiitischen Islam mit seiner religiösen Praxis der Selbstgeisselung und seinem Martyrerkult. Beim Betrachten des Kreuzes spielt dieser religiös-kulturelle Hintergrund eine Rolle, er lässt ihn nämlich das Kreuz als eine Verherrlichung des Leidens lesen. Der Autor erkennt nur diese Dimension; dass das Kreuz auch und vor allem für eine umstürzende Logik aller irdischen Machtverhältnisse steht, kann oder will er nicht wahrnehmen. Kermani bereitet uns hingegen überall da einen wirklichen Erkenntnisgewinn, wo er die Sufi-Tradition mit ihrer Christusverehrung zur Sprache bringt. Wer weiss im Westen schon, dass Christus in bestimmten Strömungen des Islams eine grosse Rolle spielt, ja als Offenbarung Gottes verehrt wird? Und dabei geht es dem Autor nicht um ein religionsübergreifendes Gespräch im Zeichen von Frieden oder gar um Religionstheologie, vielmehr um das Aufzeigen von Parallelen und Abhängigkeiten, die nur derjenige erkennen kann, der beide Traditionen kennt.

Dass er von einem christlichen Standpunkt aus betrachtet manchmal übers Ziel hinausschiesst, mag man ihm verzeihen. So zum Beispiel in seinem schönen Text zum heiligen Franziskus, der in einer Zeit der Kreuzzüge in den Orient gefahren ist, vielleicht auch mit der Absicht, eine Botschaft des Friedens zu überbringen. Der Autor vermutet, dass sein Sonnengesang von der Feier der Schöpfung inspiriert worden ist, die der Heilige im Sufismus kennengelernt hat. Vielleicht hat ihn der der Sufismus beeindruckt. Es gibt jedoch näherliegende Quellen für eine christliche Feier der Schöpfung: den Schöpfungsbericht im Buch Genesis. Zur Zeit des hl. Franziskus erlebt die europäische Kunst eine Blüte der Naturdarstellungen, etwa in der minutiösen Abbildung von Pflanzen und Vögeln auf Wandmalereien. Das hat Gründe, die in der Entwicklung der europäischen Kunst selbst liegen. Trotzdem lernen wir hier, dass vieles, was wir als exklusiv christlich ansehen, in Tat und Wahrheit auch in der islamischen Welt von Bedeutung ist. Das verhilft zu einem informierteren Blick auf das Andere.

Besuch in einem orthodoxen Kloster

Die Lektüre dieses Buches ist vor allem ein Genuss. Denn wenige können so eigenständig und so gekonnt über Bilder und Skulpturen schreiben wie Navid Kermani. Da werden auch mal Säulenheilige der Kunstwissenschaft wie Jakob Burckhardt beiseite gestossen, und das ist erfrischend. Der Höhepunkt des Buches ist keine Bildbetrachtung, sondern der Besuch des Autors in einem orthodoxen Kloster im Kosovo. Es ist der Besuch in einem Stück Christentum, das in Europa von Nato-Soldaten bewacht werden muss, damit Fanatiker nicht über es herfallen. Im Kloster selbst macht Kermani Bekanntschaft mit Mönchen, deren höchste Berufung es ist, eine eineinhalbtausendjährige Liturgie unverändert weiterzuführen – eine Liturgie, die Dienst an Gott ist, die fünf Stunden dauert und von den Besucherinnen und Besuchern nur erahnt, aber nicht eingesehen werden kann, weil ein Lettner die Gläubigen vom Altarraum trennt. Der Autor bemerkt das Lächeln der Gläubigen nach der Messe. Sie wirken erleichtert. Die heilige Liturgie tut den Menschen gut, weil sie Gottesdienst, nicht Menschendienst ist. Es hat einen Blick von aussen gebraucht, um uns Christinnen und Christen des lateinischen Westens diese tiefe Wahrheit in Erinnerung zu rufen. Nur schon deswegen darf dieses Buch in keiner Bibliothek fehlen.

 

1 Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum, München 2015.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.