Und zum Schluss: Unmoralische Rechthaberei statt Rücksichtnahme

Ausgerechnet der ehemalige «Cadi» (höchster Richter der Surselva) forderte mich zu einem Zeitungsartikel auf: «Gestern habe ich im Unterland fast eine Fussgängerin überfahren. Nicht rechts, nicht links geschaut, hat sie ihr Vortrittsrecht kurzerhand ertrotzt. Jetzt begreife ich, warum im Unterland so viele Menschen auf dem gelben Streifen sterben.» Wären wir Deutschschweizer allein auf dieser Erde, könnten wir versuchen, das Paradies bereits zu Lebzeiten wenigstens auf den Strassen zu errichten. Die Eidgenossenschaft jedoch ist ein Vielvölkerstaat mit wenigstens zwei in vielerlei Belangen unterschiedlichen, ja entgegengesetzten Mentalitäten. Nicht zu reden von den Verhältnissen im Ferienland Italien – noch schlimmer in Indien oder Brasilien. Da müsste es – nach unseren Vorurteilen – nur Tote und Verletzte auf den Strassen geben.

Doch beinahe das Gegenteil ist der Fall: Da kein Verkehrsteilnehmer sich auf etwas verlassen kann und durchgehende Doppelstreifen nicht nur nachtsüber als blosse Empfehlungen betrachtet werden, kommt es selten zu Verkehrsunfällen. Jeder ist sich selbst der Nächste, aber nicht um den Preis einer hohen Busse oder gar des Lebens. Jedenfalls sterben bei vergleichbaren Verhältnissen in Deutschland mehr Menschen als in Italien. Das sollten sich die während der Sommerferien besonders zahlreichen Automobilisten in den Mittelmeerländern zu Herzen nehmen und nicht selbstgerecht die eigenen Institutionen für die besten halten – wo sie nicht einmal in unserem Land durch dick und dünn durchgehalten werden.

Statt Selbstgerechtigkeit und Stolz sind Bescheidenheit und Rücksichtnahme gefragt, wo nicht nur auf das eigene Recht gepocht wird. Dies wäre eigentlich auch ein Thema für den Ethik- und Religionsunterricht in den Schulen.

 

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen