Über Identität, Zusammenleben und Abschottung in der Schweiz

Ein halbes Jahr nach der «Masseneinwanderungsinitiative » und einige Monate vor der Abstimmung über die «Ecopop-Initiative» sollten wir uns darauf besinnen, was die «Identität» der Schweiz ausmacht, was unser Verhältnis zu «Ausländern» ist und wie wir das Zusammenleben in unserem Land gestalten wollen. Der 1. August steht genau zwischen diesen beiden wichtigen Daten – Grund genug, die diesjährige Botschaft der Schweizer Bischöfe diesem Thema zu widmen. Ausgangspunkt unserer Überlegung ist das Jesus-Wort: «Ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen » (Matthäus 25,35). Dem Thema der «Identität der Schweizer Bevölkerung» wollen wir uns nähern, indem wir drei Aspekte hervorheben:

  • die Identität des Schweizer Volks, dem Souverän unseres Landes;
  • die christliche Identität, welche Gemeinschaft und Zugehörigkeit stiftet und tief in Geschichte und Tradition des Schweizer Volkes verankert ist;
  • die Identität des Anderen, die man im Hinblick auf das Zusammenleben nicht ausblenden darf.

1. Die Identität der Schweizer Bevölkerung

Gemeinsame Werte stehen am Ursprung des jahrhundertelangen Zusammenlebens der Menschen in der Schweiz. Es sind Werte, aus denen sich immer wieder neu Modelle für ein gutes Zusammenleben entwickeln lassen.

  • Am Ursprung der Schweiz steht das Verlangen nach Autonomie und Selbstbestimmung. Es ermöglichte der Schweiz geschichtlich, sich aus unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Sprachen, Konfessionen, Kulturen und Traditionen zusammenzufügen und zusammenzubleiben. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass die Schweiz eine «Willensnation» ist, weniger eine auf Abstammung und Blutsbande (ius sanguinis) gegründete Nation.
  • Die Vielfalt ist ein grundlegendes Element der Identität der Schweizer Bevölkerung. Auf politischer Ebene ist dafür die «Zauberformel» das markanteste Beispiel, da sie es möglich gemacht hat, in unserer Regierung die unterschiedlichen politischen Kulturen zu verbinden, seien sie freisinnig, sozialistisch, katholisch, reformiert, städtisch oder ländlich geprägt.
  • Es ist wichtig, dass die Suche nach Problemlösungen pragmatisch und nicht ideologisch erfolgt. Vermittlung führt immer zur Suche nach einem – wenn vielleicht auch kleinen – gemeinsamen Nenner, um Konflikte zu entschärfen und gemeinsam Antworten zu finden. – Das Volk hat immer das letzte Wort. Wer eine Lösung sucht, muss also die Extreme abschwächen, weil er von vornherein mit dem Volk und der direkten Demokratie rechnen muss. – Die ideelle Verankerung der Schweizerin, des Schweizers in unserem Land beschreibt ein Begriffspaar: Heimat (dort, wo man geboren und aufgewachsen ist) und Bürgerort (von dort stammen die Vorfahren). In diesem Sinne hat der Schweizer Bürger «multiple Identitäten »: Er wird an einem Ort geboren, lebt und arbeitet meistens an einem anderen Ort. Er kann sich so auf den Ort seiner Vorfahren als «Vaterland» beziehen, wenn er auch ganz woanders lebt.
  • Die gegenseitige Hilfe, die bereits zu Beginn der Eidgenossenschaft die Urkantone prägte, entwickelte sich weiter zur tiefen humanitären Tradition der Aufnahmebereitschaft und Solidarität.

2. Christliche Identität

Niemand kann bestreiten, dass die biblischen und christlichen Werte jene Wurzeln der Schweizer Bevölkerung sind, die am tiefsten reichen. Die christliche Gemeinschaft muss diese Werte wieder entdecken und sich ihrer neu bewusst werden. Sie muss aber auch diese christlichen Werte auf die Bedürfnisse der Gegenwart hin aktualisieren. Es genügt nicht, sich ihrer zu erinnern und sie im Munde zu führen. Es bedarf auch der Interpretation, des Klarwerdens über ihre Bedeutung für heute, vor allem auch der praktischen Umsetzung. Gegenwärtig werden die christlichen Werte häufig zur Schau gestellt und von Leuten verkündet, die sie als Werkzeug gegen einen potenziellen Feind instrumentalisieren wollen (gegen den Anderen, gegen den Fremden, gegen Muslime). Wir dürfen uns als Kirchen nicht darauf beschränken, diese Werte nur zu wiederholen, ohne sie für die Gegenwart auszulegen. Sonst laufen wir Gefahr, dass Gläubige auf jene hören, die die christlichen Werte instrumentalisieren, um «unsere christlichen Traditionen zu verteidigen», ohne diese zu verstehen und, vor allem, ohne sie zu leben. Wir werden dann eine Menge guter Christen haben, die überzeugt davon sind, dass das Christentum am besten verteidigt wird, wenn der Zugang von Ausländern begrenzt, deren Rechte eingeschränkt und Mauern und Schranken errichtet werden. Deshalb rufe ich an dieser Stelle einige Passagen aus der Heiligen Schrift ins Gedächtnis, die für die christliche Betrachtung der Fremden massgebend sind:

In der Tora, den Weisungen des Alten Testaments, taucht das Thema schon sehr früh auf. Man erinnere sich an Deuteronomium 24,17–22, wo der Fremde mit anderen Benachteiligten, den Waisen und Witwen, gleichgesetzt wird, welche besonderen Schutz benötigen:

17 Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen; du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen. 18 Denk daran: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der Herr, dein Gott, dort freigekauft. Darum mache ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten. 19 Wenn du dein Feld aberntest und eine Garbe auf dem Feld vergisst, sollst du nicht umkehren, um sie zu holen. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören, damit der Herr, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet. 20 Wenn du einen Ölbaum abgeklopft hast, sollst du nicht auch noch die Zweige absuchen. Was noch hängt, soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. 21 Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. 22 Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen. Darum mache ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten.

Zentral auch die Stelle bei Levitikus 19,33–34 (Gesetz der Heiligkeit) wo wir ermahnt werden, den Fremden «wie sich selbst» zu lieben:

33 Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. 34 Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.

Auch im Neuen Testament fehlt es nicht an Appellen, den Anderen aufzunehmen, Appelle für die Offenheit gegenüber Unterschieden, für die Gerechtigkeit, das Verzeihen, das gegenseitige Verständnis und die Geschwisterlichkeit. Zentral sind einige Verse im Matthäusevangelium (Mt 25). Hier finden wir eine prophetische Schilderung des Jüngsten Gerichts. Dort werden die Menschen an ihrem Verhalten gegenüber den Bedürftigen gemessen werden:

34 Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist. 35 Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen; 36 ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. 37 Dann werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? 38 Und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben? 39 Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen? 40 Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.

3. Identität des Anderen

Die Schweiz hat in Europa nach Luxemburg den grössten Anteil an Ausländern, nämlich fast einen Viertel der hier wohnhaften Bevölkerung. In Frankreich sind es zum Beispiel knapp 6 Prozent, in Deutschland etwas über 8 Prozent. Zwar lassen sich die Zahlen nur bedingt vergleichen, weil die Hürden für eine Einbürgerung bei uns viel höher sind als in den meisten EU-Staaten. Trotzdem sagen die Zahlen etwas aus über das Schweizer Integrationsmodell: Konflikte, die mit der Präsenz von Fremden in unseren europäischen Nachbarländern zusammenhängen, sind bei ihnen weit grösser als bei uns, obwohl sie einen geringeren Anteil an Ausländern kennen. Eine erste sich aufdrängende Überlegung ist verknüpft mit der Vielschichtigkeit der Identität des Fremden. Es handelt sich um plurale Identitäten, die mit dem Ursprungsland, der Ethnie und der Religionszugehörigkeit verknüpft sind. Es ist unmöglich, ein gemeinsames Muster «des Fremden» zu definieren. Aber wir müssen uns bewusst machen, dass die Schweizer Bevölkerung (mit ihrer eigenen Identität) mit einer Fülle von Identitäten konfrontiert ist, was eine Annäherung schwierig macht. Verallgemeinerungen und Vereinfachungen können entstehen, die trennen und auseinanderbringen, statt zu verbinden und anzunähern.

Man darf auch nicht übersehen, dass sich innerhalb ein und derselben ethnischen Gruppe unterschiedliche Identitäten entwickeln. Etwa der Immigrant, der wegen der Arbeit oder aus Existenzgründen in die Schweiz kam; oder derjenige oder diejenige, der oder die der zweiten Generation angehört, in der Schweiz zur Schule ging und hier kulturell zu Hause ist und sich Wertmassstäbe unserer Kultur angeeignet hat, die nichts mit dem Ursprungsland der Eltern zu tun haben. Wir haben es hier mit unterschiedlichen Identitäten zu tun, sei es innerhalb derselben Familie oder derselben ethnischen Gruppe. Wird ein junger Mensch aus dem Kosovo oder aus Sri Lanka, der in der Schweiz geboren wurde und hier die Schule besucht hat, sich zur Identität seiner Herkunft bekennen oder zu jener seiner gegenwärtig erlebten Umgebung? Etwas Neues, das heute als bedrohlich gesehen wird, hat mit der religiösen Identität zu tun. Zwar gehört die deutliche Mehrheit der Zuwanderer auch heute noch einer christlichen Kirche an. Aber neu kommen auch vermehrt Menschen mit einer anderen Religion zu uns, vor allem Muslime. Ein weiteres Motiv der Angst für die historische Identität der Schweiz.

4. Zusammenleben

Das Zusammenleben gründet sich auf Werte, Normen und gemeinsame Verhaltensweisen. Wir müssen diese klar benennen. Gleichzeitig gilt es, Unterschiede zu erkennen und das Gespräch darüber zu suchen. Differenzen spalten nicht nur, sie erlauben auch Begegnung. Der Person und nicht einer «Kategorie» zu begegnen, verpflichtet dazu, den Ausländer, der an unsere Tür klopft, beim Kennenlernen unserer Sprache, Geschichte, unserer Institutionen und Gesetze zu unterstützen. Für den Aufbau einer integrationsfähigen Gesellschaft ist es unerlässlich, den Dialog und die positive Begegnung zu fördern, um den Kern von gemeinsamen Werten zu erkennen, auf denen die gegenseitige Integration aufbauen kann. Das Denken, den Anderen überlegen zu sein, führt zur Bildung von Parallel-Gesellschaften. Dieses Denken muss überwunden werden. Damit ein friedliches Miteinander möglich wird, müssen falsche Überzeugungen aufgeben werden, die man teils aus Angst, teils wegen Konflikten oder schlicht aus Desinteresse angenommen hat. Lasst uns die Tatsache ernst nehmen, dass Ausländer und Fremde unter uns leben. Wir sollen das nicht aus Blindheit und Gleichgültigkeit als unbedeutende Randerscheinung abtun. Aber vermeiden wir den aus Unwissenheit genährten Eifer, der sich bei einigen unter uns in Angst, Abwehrkampf und Opposition gegen ihre Anwesenheit ausdrückt. Andere treibt ein ähnlicher Eifer dazu, die Gleichheit jedes Glaubens zu vertreten und alle ohne Rücksicht auf die Unterschiede in den gleichen Topf zu werfen.

Besonderes in Bezug auf die islamische Religion muss man sorgsam darauf achten, dass der klare Unterschied zwischen religiöser und ziviler Welt akzeptiert wird, zwischen Glaubensauffassungen und staatlichen Gesetzen. Wir müssen uns darum bemühen, dass die Muslime unseren Weg der Säkularisation verstehen und zwischen Religion, Glaube und Gesellschaft unterscheiden lernen. Für das gute Zusammenleben braucht es diese positiv-kritische, sorgsame und überlegte Haltung. Dass knapp ein Viertel unserer Bevölkerung Ausländer sind, zeigt, dass die traditionelle Wertschätzung der Gastfreundschaft, welche die Schweiz auszeichnet, im Lauf der Jahrhunderte nicht geringer geworden ist. Sicher gibt es negative Erscheinungen, die angeprangert und bekämpft werden müssen. Denken wir an die meist aus Osteuropa stammenden Frauen, die mit dem Versprechen einer Arbeitsstelle hergelockt und dann in die Prostitution getrieben werden. Diese Plage ist eine Schande für unser Land und seine Traditionen. Eine andere Plage sind Niedriglöhne für ausländische Arbeiter. Das geht so weit, dass unsere Arbeiter ihren Job verlieren und durch ausländische Billiglohnkräfte ersetzt werden. Dieser Schande muss man die Stirn bieten und sie bekämpfen, indem man einen Mindestlohn für die unterschiedlichen Wirtschaftssektoren festlegt. Auch wenn die letzte Volksinitiative für einen Mindestlohn deutlich abgelehnt wurde, so bleibt das Problem doch aktuell. Man muss auch Aufträge an Sub-Unternehmen kontrollieren, um Lohndumping zu verhindern, das immer auch auf Kosten der Qualität geht. Es versteht sich von selbst, dass der arbeitslose Schweizer Arbeitnehmer sich gedemütigt und verletzt fühlt durch die ungerechte Situation, die in einzelnen Regionen, speziell dem Tessin, auf dem Arbeitsmarkt entstanden ist. In diesem Fall sollte man nicht von Ausländerfeindlichkeit sprechen, sondern von offenkundiger Ungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt.

Für mehr soziale Gerechtigkeit

Man kann den Grundsatz nicht oft genug wiederholen, der in der Präambel unserer Bundesverfassung festgeschrieben ist: «Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.» Wir denken dabei nicht nur an den Fremden, sondern auch an jene, die arm, krank und alt sind. Der Grundsatz muss in unseren Gesetzen mit voller Kraft umgesetzt werden, um die Schwächsten zu schützen.

Wir denken an den alten Menschen, dessen Familie nicht mehr für ihn sorgen kann. Wenn man keinen Platz in einem Pflegeheim für ihn findet, fühlt er sich gedemütigt, vernachlässigt und empfindet sich als Last für die Gesellschaft.

Wir müssen erkennen, dass es Auswirkungen für das Leben einer Person hat, ob Gesetze mehr oder weniger korrekt ausgestaltet werden. Wenn wir bei uns Asylsuchende beherbergen und ihnen eine, wenn auch bescheidene, Arbeit vermitteln, setzen sie sich ein und tragen zum Wohl der ganzen Gemeinschaft bei. Sind sie zum Nichtstun verurteilt, werden sie leicht Straftäter, weil sie einer unmenschlichen Situation ausgesetzt sind. Je mehr wir uns mit ihrem dramatischen Los beschäftigen, desto besser können wir mit Verstand und Menschlichkeit helfen.

5. Abschottung

Werte können zwischen Schweizern und Ausländern unterschiedlich sein und sich konkurrenzieren. Die instinktive Reaktion ist, diese dann auszuschliessen. Besser noch: die Abschottung. Nämlich den Ausschluss bereits im Vorfeld, bevor man überhaupt etwas darüber weiss. Das erste Gefühl, das zur Abschottung führt, ist die Angst. Ein legitimes und natürliches Gefühl, das jedoch überwunden werden muss, weil es irrational ist. Die Angst zu verleugnen heisst, die Wirklichkeit zu verleugnen. Einfach zu behaupten, «dass man keine Angst vor Ausländern haben muss», reicht nicht aus. Die richtige Antwort hingegen ist rational und lädt dazu ein, den Anderen kennenzulernen, die Ignoranz des Unbekannten zu überwinden. Die Regel, «dass man jemandem in die Augen schauen muss, wenn man ein Almosen gibt», gilt auch für die Begegnung mit einem Menschen, den man nicht kennt. In diesem Fall mit dem Fremden. Es öffnet sich eine andere Perspektive, wenn der Wunsch besteht, den Anderen kennenzulernen. Der Grenzgänger, italienischer Handwerker, der sich mit Aufträgen im Tessin über Wasser hält, aber auch der Asylsuchende oder der Pendler sind Menschen, mit denen man sprechen und sich auseinandersetzen kann, die man kennenlernen kann.

Es sind andere Fremde, vor denen wir wirklich Angst haben müssen und von denen man eigenartigerweise nie als Bedrohung spricht. Es sind «unsichtbare» Fremde, ohne Gesicht. Ein Treffen mit ihnen ist unmöglich, doch bestimmen sie die Bedingungen für unser Leben und sind für das Zusammenleben eine wirkliche Gefahr. Das sind die internationalen Finanzgesellschaften, die ganze Wirtschaftssysteme zusammenbrechen lassen, nur durch das Verschieben von Vermögen, ohne Werte zu schaffen. Das sind auch verbrecherische Clans, die zur Geldwäsche Unternehmen und Gewerbebetriebe unter ihre Kontrolle bringen und den Gewinn ihrer Massagesalons und Bordelle über den Finanzmarkt verschieben.

Die Ausländer, denen wir begegnen, ob Grenzgänger, osteuropäische Serviertochter oder Flüchtling aus Nigeria, haben einen Namen und Vornamen, ein Gesicht, Gefühle, Träume, Enttäuschungen und Hoffnungen. Das sind konkrete Ausgangspunkte für das Kennenlernen und das Zusammenleben.

Der gefährliche Fremde (die Finanzgesellschaft, die Geld wäscht, die Verbrecherbande, die die eigenen Landsleute zu Sklaven macht) ist anonym, hat keinen Namen, kein Gesicht, kein Herz, keine Seele und nur das Ziel, Geld zu machen. Mit diesem Fremden können wir nicht sprechen, wir können ihm nicht ins Angesicht sehen oder ein Gespräch mit ihm beginnen. Wir können uns auch nicht mit ihm streiten. Andererseits stört er uns nicht sehr, da er keinen Stau auf der Autobahn verursacht und nicht in unsere Häuser einbricht. Aber er nimmt uns hinterhältig in seine Fänge, indem er uns das Gewissen und die Kultur stiehlt.

Die Bedrohung durch die Migration ist ein sich wiederholender Refrain. Immer wird die Überfremdung der Schweiz befürchtet, vor allem seit Beginn des letzten Jahrhunderts. Aber diese Bedrohung, auf irrationale Weise ständig im Bewusstsein eines Teiles der Bevölkerung präsent und durch nationalistische Parteien und lokale Bewegungen schlau instrumentalisiert, muss relativiert werden. Zeit und Konkordanzpolitik haben diese Angst immer wieder beseitigt.

Bevor man die letzte Episode dieser Saga, die Volksabstimmung vom 9. Februar 2014 «gegen die Masseneinwanderung», als fremdenfeindliche Abstimmung abtut, sollte man sie analysieren. Und vor allem muss sie in Zusammenhang gesetzt werden mit einem Europa, in dem die Abschaffung der Grenzen und der freie Personenverkehr bei vielen Völkern irrationale und verworrene Reaktionen ausgelöst haben. In diesem Sinne hat die Schweiz nur eine unter den europäischen Bevölkerungen verbreitete Stimmung sichtbar gemacht und vorweggenommen. Es können sich in Europa daraus zwei entgegengesetzte Szenarien ergeben: Entweder verliert sich mit der Zeit diese Stimmung in der neuen Generation von europäischen Bürgern, die zuerst «Europäer» und dann Deutsche, Portugiesen, Engländer, Griechen, Spanier oder Franzosen sind, oder es entsteht ein Übergewicht der nationalistischen und euroskeptischen Bewegungen, die zu Abspaltungen vom «europäischen Koloss» führen werden.

Von Abschottung zu sprechen bedeutet auch, von der Selbst-Abschottung des Fremden vor den Schweizern zu sprechen. Die Motive dafür sind zahlreich: die Angst, die Furcht, zurückgewiesen zu werden, die Sprachprobleme. Ohne Sprache gibt es keine Verständigung. Und dazu die Einsamkeit des Fremden, des Immigranten, des Flüchtlings. Ein Seelenzustand, der dazu führt, sich in sich selbst zurückzuziehen oder, noch schlimmer, in eine Gruppe, die sich selbst ausschliesst.

6. Zu einer universellen Geschwisterlichkeit

Alle Menschen sind Brüder und Schwestern, denn sie sind Söhne und Töchter des Vaters im Himmel (Matthäusevangelium 23,9). Der eine und einzige Schöpfer erleuchtet alle seine Kinder mit dem Licht seines Wortes (Johannesevangelium 1,1–9). Die spezielle Begabung jedes Volkes und jeder Kultur zeigt die Vielfalt und die Schönheit der Schöpfung.

Wir wissen, dass Emigration etwas Schmerzliches ist, die aus Not erfolgt und dazu zwingt, Arbeit und Zuhause anderswo zu suchen. Die Erfahrung, die gegenwärtig viele benachteiligte Völker machen, war vor nicht allzu langer Zeit auch unsere Erfahrung. Gott will eine gerechte Verteilung des Reichtums, damit jedes Mitglied der Menschheitsfamilie Frieden und Wohlstand geniessen kann. Das Zeichen des Manna, das gerecht verteilt wird, ist ein Hinweis auf den Willen des Vaters, dass die Menschen in Geschwisterlichkeit leben sollen (Exodus 16,17–21). Den Druck der hungernden Völker kann man nicht mit Waffen oder immer höheren Grenzzäunen abschwächen, sondern indem man zurückgibt, was Gier und die Habsucht einiger in vielen Ländern der Welt geraubt haben.

Unsere Schweizer Diözesen machen seit Jahrzehnten eine Erfahrung, die nicht übersehen werden soll. Man hat auf verschiedenen Kontinenten Zentren für Zivilisierung und Evangelisierung geschaffen. Kleine Welten sind entstanden, die Landwirtschaft, Handwerk, öffentliche Gesundheit und Bildung fördern. Aus diesen Regionen kommt niemand zu uns, ausser einige Spezialisten, die wieder zurückkehren, um ihre Landsleuten neue Dinge zu lehren. Indem man die Grundlagen für eine harmonische Entwicklung schafft, legt man die Basis für dauerhaften Frieden. Der Friede wurde und wird niemals mit Waffen geschaffen, sondern durch das Teilen der Güter. Die Schweiz hat begonnen, Licht in ein dunkles Kapitel seiner Sozialgeschichte zu bringen, indem sie den Schleier über das traurige Los von Kindern, Buben und Mädchen, jungen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, lüftet. Betroffen sind Verdingkinder, zwangsadoptierte Kinder, Personen, die aufgrund administrativer Massnahmen in geschlossenen Anstalten untergebracht wurden, Menschen, denen das Recht auf Fortpflanzung durch Zwangssterilisierung oder Zwangsabtreibung genommen wurde. Dazu kommen noch Übergriffe an Fahrenden. Während die Zivilgesellschaft für diese tragischen Ereignisse sensibilisiert wird und man finanzielle Entschädigungen für die schlimmsten Fälle von Unrecht und erlittenem Missbrauch bereitmacht, bleibt einzig, keine neuen Ungerechtigkeiten und kein neues Leid durch Egoismus oder ungerechtfertigte Ängste zu bewirken. Das Schlechte, das an uns zehrt, ist unser Egoismus.

Je mehr wir den Verstand und das Herz der Geschwisterlichkeit öffnen, desto mehr legen wir die Grundsteine für das Erscheinen einer besseren Welt. So wird unser Land, im Einsatz für die Umsetzung seiner Devise «Einer für alle und alle für einen», seine Erfahrung mit der Geschwisterlichkeit in die ganze Welt ausweiten. In der Fülle des Lebens wird «Gott alles in allen sein» (1 Korinther 15,28). Lasst uns immer mehr in der Liebe wurzeln, um zu erfahren, dass unser Leben so die universelle Geschwisterlichkeit verwirklicht, die für uns alle ein Schlüssel zum Glück ist.

Wir hoffen, dass das in authentischer Treue zu unserer zivilen, sozialen, kulturellen und religiösen Identität geschehen kann.

Im Namen der Schweizer Bischöfe:

Mgr. Pier Giacomo Grampa, emeritierter Bischof von Lugano

 

 

 

 

Pier Giacomo Grampa

Pier Giacomo Grampa

emeritierter Bischof von Lugano