«Sie verlieren sich Stück für Stück selbst»

Frauen, die in der katholischen Kirche spirituellen Missbrauch erfahren haben, verloren das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und oft sich selbst. Darüber sprach die SKZ mit Barbara Haslbeck, Mitherausgeberin von «Selbstverlust und Gottentfremdung».1

Dr. Barbara Haslbeck ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Pastoraltheologie und Homiletik der Universität Regensburg und tätig in einem Forschungsprojekt zu Missbrauch an Ordensfrauen. Sie ist Beraterin bei der Anlaufstelle für Personen, die im kirchlichen Raum Gewalt erfahren haben (www.gegengewalt-inkirche.de) und Mitglied im Leitungsteam der Initiative GottesSuche (Glaube nach Gewalterfahrungen), www.gottes-suche.de. (Bild: zvg)

 

SKZ: Frau Haslbeck, was hat das Lesen der Berichte bei Ihnen ausgelöst?
Barbara Haslbeck: Ich bin erschrocken, und zwar in zwei Hinsichten. Zum einen realisierte ich, wie tief spiritueller Missbrauch Menschen verletzt. Seit mehr als 20 Jahren setze ich mich mit sexuellem Missbrauch auseinander und weiss, wie zerstörerisch sich dieser auswirkt. Als ich die Berichte über spirituellen Missbrauch gelesen habe, lernte ich neu: Dieser Missbrauch kann Menschen in ihrem tiefsten Kern demontieren, er verwüstet die Wahrnehmung eines Menschen und bewirkt totalen Selbstverlust. Das geht bis hin zur gewaltfreien Gedankenumformung, was wir umgangssprachlich Gehirn-
wäsche nennen. Zum anderen sind sich die Berichte der Frauen ähnlich. Das bedeutet: Spiritueller Missbrauch ist keine Ausnahmeerfahrung einer einzelnen Person. Offenbar steckt in der DNA von geistlicher Begleitung, Beichte und dem Leben in religiösen Intensivgruppen die Gefahr, dass Spirituelles benutzt wird, um eine Person zu manipulieren. Die Erfahrungen Betroffener helfen, diese Gefahr zu erkennen und dagegen anzugehen.

Es scheint, dass geistliche Begleitung und Leben in religiösen Gemeinschaften gefährlich sind.
Nicht geistliche Begleitung oder Ordensleben an sich sind gefährlich, im Gegenteil, sie ermöglichen das Reifen im Glauben. Aber da, wo Menschen ihre Rolle und ihre Macht nicht reflektieren oder gar zum Kleinmachen anderer benutzen, wird es gefährlich für Abhängige. In der Auseinandersetzung mit spirituellem Missbrauch sehe ich eine Chance: Wir diskutieren neu, wie christliche Ideale und Werte dem Leben der Menschen dienen, um das Leben aus dem Glauben deuten und gestalten zu können.

Sie verwenden bewusst den Begriff spiritueller Missbrauch. Manche sprechen von Missbrauch geistlicher Macht bzw. Autorität. Was spricht für die Verwendung spiritueller Missbrauch?
Wir Herausgeberinnen verwenden den Begriff «spiritueller Missbrauch» aus drei Gründen: Wir wollen die Assoziation vermeiden, dass es sich bei den Tätern vor allem um Geistliche handeln könnte. Gerade bei spirituellem Missbrauch sind wir oft mit Täterinnen befasst, etwa mit Leiterinnen in geistlichen Gemeinschaften und Orden. Ausserdem wird im Englischen und Französischen analog von «spiritual abuse» bzw. «abuse spirituel» gesprochen. Die Bezeichnung «spiritueller Missbrauch» umfasst ein breiteres Bedeutungsspektrum. Sie wird auch von vielen Betroffenen als passende Bezeichnung wahrgenommen. Wir bevorzugen eine Formulierung, die die Erfahrungen Betroffener in den Blick nimmt.

Sie publizieren Berichte von Frauen. Inwieweit ist spiritueller Missbrauch auch ein Männerthema?
Lange waren in der Kirche vor allem männliche Minderjährige im Blick, wenn es um Missbrauch geht. In den letzten vier Jahren zeigte sich, dass auch Frauen in der Kirche Missbrauch erfahren. Dazu forschen wir an der Universität Regensburg schwerpunktmässig. Deshalb sind in dem neuen Buch ausschliesslich Berichte von Frauen. Selbstverständlich betrifft spiritueller Missbrauch auch Männer, der sich für die Betroffenen vergleichbar dramatisch auswirkt. Männer berichten Ähnliches. Unterschiede ergeben sich nach meiner Beobachtung durch geschlechtsspezifische Stereotypen. Während Frauen mit Idealen wie Hingabe und Opferbereitschaft spirituell entwertet und manipuliert werden, berichten Männer über spirituelle Einflussnahme im Bereich der Sexualität und bei Entscheidungen für die eigene Berufung.

Welche Prozesse führen dahin, dass eine Person in Gesprächen mit Ordensoberen oder Seelsorgerinnen/Seelsorgern ihre Selbstbestimmung nicht mehr wahrnehmen kann?
In den Berichten wird deutlich: Die Frauen sehnen sich nach einem Leben mit besonderer Intensität im Glauben. Deshalb lassen sie sich auf geistliche Begleitung ein oder interessieren sich für eine Gemeinschaft. Sie sind offen und dadurch besonders verletzlich. Sie gehen davon aus, dass die spirituellen Vorbilder sich richtig verhalten und bringen ihnen ungeprüftes Vertrauen entgegen. Damit machen sie keinen Fehler. Das betone ich, weil Betroffene viel zu oft hören müssen, sie seien doch selbst schuld: Sie hätten als Erwachsene kapieren müssen, dass sie vereinnahmt werden. Dieses «victim blaming» verletzt Betroffene erneut. Das Fehlverhalten liegt auf der Seite derer, die ihre Rolle nicht reflektieren und ihre Macht, vielfach aus narzisstischen Motiven, ausnutzen, um andere von sich abhängig zu machen. Betroffene schildern, dass sie sich verwirrt fühlten und sie ihrer Wahrnehmung nicht mehr trauten. Sie geraten in soziale Isolation und in Leistungsdruck, um eine besonders gute Christin zu werden. So verlieren sie sich Stück für Stück selbst. Eine Frau schreibt, dass es ihr ging, als hätte sie eine Spinne mit ihrem Faden langsam in ihr Netz eingewebt und damit gefangen. Irgendwann war sie betäubt und bewegungsunfähig. Spiritueller Missbrauch geschieht ja nicht von heute auf morgen, die Abhängigkeit baut sich langsam auf und kapert schliesslich die innere Welt vollständig.

Wie wirkt sich der spirituelle Missbrauch im Glauben aus?
Der Titel des Buches schildert die Wirkung des Missbrauchs deutlich: Selbstverlust und Gottentfremdung. Es gehört zu den bittersten Erfahrungen der Frauen, dass ihnen Gott fremd wird. Eine Betroffene schreibt: «Spiritueller Missbrauch beginnt für mich dort, wo alles spirituell gedeutet und verbrämt wird. Wo die Oberin sich zwischen die Seele und Gott stellt, weil sie glaubt zu wissen, was Gott will.» So wird die Unverfügbarkeit Gottes verletzt. Manche Frauen schildern, wie sie in Abgrenzung zum Missbrauch den Glauben neu entdecken, andere wollen damit nichts mehr zu tun haben.

Wenn eine Frau oder ein Mann in einen Orden eintritt, verspricht sie/er ein Leben nach den drei evangelischen Räten. Inwieweit macht das Versprechen des Gehorsams anfällig für spirituellen Missbrauch?
Eine Frau überschreibt ihren Bericht mit der Überschrift «Falsch verstandener Gehorsam macht krank». Diese Aussage trifft es sehr gut: Nicht der Gehorsam macht anfällig für Missbrauch, sondern der Missbrauch besteht darin, dass Gehorsam falsch verstanden wird. Das geschieht beispielsweise dann, wenn in einer Konfliktsituation eine Frau zu hören bekommt, sie müsse sich fügen, weil sie Gehorsam gelobt habe. So wird die Einforderung von Gehorsam zu einer Art spirituellen Waffe, die im Grunde zur despotischen Willkür wird.

Woran können Frauen und Männer Verletzungen spiritueller Selbstbestimmung früh erkennen?
Schwierig wird es da, wo eine Person oder eine Gruppe ihren Weg als den «richtigen» und «wahren» darstellt und andere Wege entwertet. Dieses Schwarz-Weiss-Denken ist ein Alarmsignal für spirituellen Missbrauch. Da gibt es keine Möglichkeit, im Glauben Zweifel zu haben und ambivalente Erfahrungen zu schildern. Stattdessen entsteht in solchen Gruppen ein Leistungsdruck, durch möglichst viel Gebet und Einsatz für die Ziele der Gruppe die eigenen Bedürfnisse zu überwinden. Vorsicht ist auch geboten, wenn eine geistliche Begleitung keinerlei Qualifikation dafür hat. Ein echtes Alarmsignal sollte angehen, wenn geistliche Begleitung und therapeutische Hilfe verbunden werden. Damit mischen sich Rollen und das schafft Intransparenz, die Tür und Tor öffnet für Manipulation. Wichtig ist, dass es im Glauben Wahlmöglichkeiten gibt, dass Menschen eine spirituelle Deutung ablehnen dürfen und dass sie Entscheidungen ohne Druck treffen können.

Was hilft Betroffenen, um im Leben und im Glauben wieder selbstbestimmt zu sein?
Beim Lesen der Berichte wurde mir deutlich, dass die Frauen durch Gespräche mit Personen ausserhalb des Settings, in dem der spirituelle Missbrauch stattfindet, erkennen können, dass etwas nicht stimmt. Das kann ein Therapeut oder eine geistliche Begleiterin oder eine Freundin sein. Dann verstehen Betroffene langsam, dass nicht sie selbst das Problem sind. Das braucht seine Zeit. Manche lesen viel, um kognitiv einzuordnen, was geschehen ist. Eine Frau wurde über zehn Jahre durch ihren geistlichen Begleiter stark kontrolliert und zu ständiger Beichte gezwungen, ihr ganzes Inneres kreiste um ihre Fehlerhaftigkeit und ihr Nichtgenügen. Sie erinnert sich an den Moment, in dem sie endlich wieder innere Freiheit spürte, als eine Frau zu ihr sagte: «Du musst nicht täglich beten!» Darum geht es: Wieder frei werden und selbst bestimmen dürfen, auch und gerade im Glauben. Eine Betroffene schreibt: «Gott ist so gross, dass er nicht in einer Bewegung aus Menschen stehen bleibt.»

Interview: Maria Hässig

 

1 Haslbeck, Barbara / Leimgruber, Ute / Nagel, Regina / Rath, Philippa (Hg.), Selbstverlust und Gottentfremdung. Spiritueller Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche, Ostfildern 2023.

Weitere Informationen: www.gegengewalt-inkirche.de und www.gottes-suche.de