«Sie führen vor Augen, was möglich wäre»

Religionsgespräche setzen sich mit der Wahrheit auseinander, wollen abgrenzen oder das Verbindende suchen. Dem Christentum sind sie in die Wiege gelegt. Die SKZ hat bei Prof. Mariano Delgado nachgefragt.

Prof. Dr. Dr. Mariano Delgado (Jg. 1955) ist Professor für Kirchengeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. und leitet das Institut für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog. Aktuell ist er auch Dekan der Fakultät. (Bild: zvg)

 

SKZ: Wie kam es zur Tradition der Religionsgespräche?
Mariano Delgado: Auch wenn Religionen weder zu dem Zweck gestiftet worden sind, «miteinander ins Gespräch zu treten», noch diese Fähigkeit besonders kultiviert haben, bieten uns die Christentums- und die Religionsgeschichte eine erstaunliche Zahl und Vielfalt von Religionsgesprächen. Davon zeugt eine ansehnliche Forschungsliteratur, die sich besonders in den letzten Jahren mit dem Thema befasst hat. Unser Buch liegt in diesem Trend. Religionsgespräche hat es also immer schon gegeben: einerseits weil Menschen verschiedener Religionen und Weltanschauung mit ihren Fragen und Antworten einander herausforderten, andererseits weil Herrscher daran interessiert waren, dass die Verschiedenheit der Religion nicht Anlass zu sozialen Unruhen wird. Besonders intensiv fanden dann Religionsgespräche im Wirkungsbereich des Christentums statt. Denn dem Christentum ist sowohl das Dialogische als auch das Polemische in die Wiege gelegt worden. Das Dialogische, weil es ja im ersten Petrusbrief heisst: «Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die euch erfüllt; antwortet aber bescheiden und ehrfürchtig» (3,15–16). Das Polemische, weil sich die ersten Christen vom rabbinischen Judentum absetzen und dagegen polemisieren, bereits in den Schriften des Neuen Testamentes. Diese polemische Tradition führte dann zu der «Gegen(Adversus)»-Literatur: gegen die Juden, gegen die Ketzer, gegen die Heiden usw. Daneben gab es manchmal auch unter christlicher oder islamischer Herrschaft Gespräche (zwischen Christen und Juden, Christen und Moslems und umgekehrt), die wir als «interreligiös» bezeichnen können, aber nicht im heutigen Sinne, weil die Religionsfreiheit nicht den Rahmen solcher Gespräche bildete. Sie waren vielmehr geprägt von der jeweiligen Herrschaftssituation und so nicht immer frei von einem gewissen Zwang. Mit der Spaltung des Christentums – zunächst zwischen der Ost- und Westkirche, von den Spaltungen im Schatten des Dogmatisierungsprozesses des 4. und 5. Jahrhunderts zu schweigen, und dann im 16. Jahrhundert in verschiedene «Konfessionen» des westlichen Christentums – entstanden die binnenchristlichen Religionsgespräche, die bemüht waren, die Einheit wiederherzustellen oder weitere Spaltungen zu vermeiden. Und mit der weltweiten Expansion des Christentums nach den Entdeckungsfahrten entstanden dann die Religionsgespräche christlicher Missionare mit Vertretern anderer, im Mittelalter nicht bekannter Religionen.

Welches waren die wichtigsten Religionsgespräche für das Christentum?
Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn es kommt auf die Zeit und den Typus des Religionsgesprächs an. Für die christlich-jüdischen Disputationen des Mittelalters, als die «Geschichtstatsachen» der christlichen Macht und der jüdischen Ohnmacht herrschten, ist die Disputation von Barcelona (1263) sicherlich von paradigmatischer Bedeutung. Für die Unionsgespräche zwischen der Ost- und der Westkirche ist das Konzil von Ferrara/Florenz (1438/39) besonders bedeutsam. Im Zeitalter der Konfessionalisierung müsste man auch nach dem Typus fragen. Für die «innerprotestantischen» Religionsgespräche ist das Marburger Religionsgespräch von 1529 (über das Abendmahl vor allem) prägend. Für die Gespräche zwischen Katholiken und Protestanten im 16. Jahrhundert sind manche Reichsreligionsgespräche (Worms und Regensburg) oder das Religionsgespräch von Poissy (1561) in Frankreich bedeutsam.

Welche Bedeutung kann fiktiven Religionsgesprächen aus heutiger Sicht zugeschrieben werden?
Fiktive Religionsgespräche sind nicht erst ein Phänomen der Aufklärung (z. B. Lessings Ringparabel), sondern findet man immer wieder in der Religionsgeschichte. Die wichtigsten in der Christentumsgeschichte sind Justins «Dialog mit dem Juden Thyphon» (Mitte des 2. Jahrhunderts), Petrus Abaelards «Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen» (Anfang des 12. Jahrhunderts), Raimund Lulls «Das Buch vom Heiden und den drei Weisen» (Ende des 13. Jahrhunderts) und die Schrift des Nikolaus von Kues «Über den Frieden im Glauben» (1453). Fiktive Religionsgespräche haben oft einen visionären, kontrafaktischen Charakter. Sie führen uns vor Augen, was möglich wäre, wenn man wirklich irenisch und ohne Herrschaftsbedingungen über die Sache der Religion miteinander austauschen könnte.

Kann es zweckfreie Gespräche geben?
Zweckfreie, «irenische» Religionsgespräche im Sinne eines «geistigen Sports» sind durchaus möglich und wurden manchmal auch so geführt, vor allem unter Beteiligung von Philosophen oder «aufgeklärten» Theologen. Es geht dann einfach um die Wahrheitssuche. Im Übrigen hat es solche Gespräche auch im Mittelalter gegeben, wenn auch eher als fiktive, literarische Gespräche. Paradigmatisch dafür sind die bereits genannten Werke von Petrus Abaelard, Raimund Lull und Nikolaus von Kues.

Sie sind Spezialist für Missionsgeschichte. Welche Rolle spielten und spielen Religionsgespräche in der Missionierung?
In der langen Missionsepoche von den Entdeckungsfahrten bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil findet man sehr vielfältige Religionsgespräche zwischen christlichen Missionaren und Vertretern anderer Religionen. Der irenische Charakter hing in der Regel davon ab, ob die Missionare in Gebieten auftraten, wo die Christen bereits ihre politische Herrschaft etabliert hatten, so 1524 das Gespräch zwischen Franziskanern und aztekischen Priestern in Mexiko, oder ob sie – wie die Jesuiten mit buddhistischen Bonzen im japanischen Yamaguchi 1551 – nur die Macht des Wortes hatten. Im Allgemeinen kann man sagen, dass bis zum Konzil die anderen Religionen bei allem Respekt gegenüber ihren Anhängerinnen und Anhängern als «falsa religio» betrachtet wurden – trotz der Lehre der Kirchenväter (z. B. Justin) von Samen oder Wahrheitsspuren des Logos, des Wortes Gottes also, in der ganzen Welt. Zu einem nachhaltigen Wechsel der Perspektive ist es erst mit der Aussage des Konzils in «Nostra Aetate» 2 gekommen: «Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet.» Hätten die Missionare im Entdeckungszeitalter diese Lehre im Gepäck gehabt, wäre die Missionsgeschichte vermutlich anders verlaufen (weniger Leid, weniger Zwang, weniger Zerstörung der Zeugnisse anderer Religionen). Die Theologiegeschichte ist nicht unschuldig, wenn manche Erkenntnisse sich zu spät durchsetzten, obwohl man es früher auch anders hätte wissen können.

Ist der interreligiöse Dialog eine simple Fortsetzung der Religionsgespräche oder gab es hier eine Akzentverschiebung?
Beim heutigen ökumenischen und interreligiösen Dialog hat sich vor allem der Rahmen für die Gespräche geändert, denn sie finden auf dem Boden der Religionsfreiheit und der neuen Theologie der Religionen und der Ökumene statt. Aber auch der Inhalt bzw. die Zielsetzung ist anders. Beim ökumenischen Dialog, der christlich verstanden auch das Judentum einschliesst, geht es nach der gegenseitigen Anerkennung und Bereinigung der «historischen Tatsachen» (Leidensgeschichte) um die Suche nach Konvergenzen und um eine wachsende Einheit in Vielfalt oder Versöhnung in Verschiedenheit. Beim interreligiösen Dialog geht es heute nicht primär um «Bekehrung» aus einer «falsa religio» heraus, sondern um die Zusammenarbeit für eine bessere Welt, um die Gestaltung des Zusammenlebens in der multireligiösen Gesellschaft, aber auch um das «Zeugnis» der jeweiligen Hoffnung (im Sinne vom 1 Petr 3,15–16) und um den Austausch und die gegenseitige Befruchtung im Bereich der spirituellen Erfahrung. Wann und wie der Geist des Herrn die Herzen der Menschen erreicht, ist ein tiefes Geheimnis. In einer missionarisch-mystagogischen Gesinnung aus dem Geist der Mystik heraus ist Gott der Haupthandelnde, der die Menschen zu sich ruft, wann, wo und wie er will. Ob überhaupt alle Menschen ausdrücklich Christinnen und Christen werden sollen, wissen wir nicht. Die Faktizität der Religionsgeschichte mit ihrem grossen Pluralismus «nach Christus» sollte uns zu denken geben. Christinnen und Christen sind Mitarbeitende im Weinberg des Herrn, zum Zeugnis eingeladen. Das Wichtigste ist, dass dieses Zeugnis zum Leuchten gebracht wird (bedenken wir das Wort des Herrn vom Salz und Licht!), und wir dabei vermeiden, Gottes Wirken mit unserem Gegenzeugnis im Wege zu stehen.

Interview: Rosmarie Schärer

 

Buchempfehlung: «Apologie, Polemik, Dialog. Religionsgespräche in der Christentumsgeschichte und in der Religionsgeschichte» – Von Mariano Delgado / Gregor Emmenegger / Volker Leppin (Hg.) Basel / Stuttgart 2021. ISBN 978-3-7965-4362-3,
CHF 109.–. www.schwabe.ch