Segen und Fluch

 

«Seht, ich lege euch heute den Segen vor und den Fluch: Den Segen, wenn ihr auf die Gebote des Herrn, eures Gottes, hört, die ich euch heute gebe, den Fluch aber, wenn ihr nicht hört auf die Gebote des Herrn, eures Gottes» (Dtn 11,26 ff). An kaum einer anderen Stelle der Bibel ist das antithetische Begriffspaar «Segen und Fluch» so eng verwoben wie am Ende der zweiten Mosesrede, in der die beiden Extreme Segen und Fluch als mögliche Reaktionen Gottes auf das zukünftige Verhalten Israels präsentiert werden, welches am darauffolgenden deuteronomistischen Gesetzeskorpus gemessen werden wird. Die auf den Gesetzestext folgende dritte Mosesrede schliesst mit den Worten: «Das Leben und den Tod habe ich dir vorgelegt, den Segen und den Fluch; erwähle nun das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen» (Dtn 30,19).

Dem Begriffspaar «Segen und Fluch» wird hier der universelle Gegensatz zwischen Leben und Tod gegenübergestellt. Der Aufruf, das Leben zu wählen, d. h. gemäss den göttlichen Gesetzen zu leben, unterstreicht die deuteronomistische Auffassung des Handlungsspielraumes des Menschen. Jeder einzelne Mensch muss sich für sich und die ihn umgebende Gemeinschaft aktiv um ein Leben gemäss den göttlichen Gesetzen bemühen. Im deuteronomistischen Gesetzeskorpus werden Segen und Fluch vor dem Hintergrund der göttlich-menschlichen Beziehung einander gegenübergestellt und als Folge des menschlichen Handelns gegenüber den göttlichen Gesetzen präsentiert. Nicht vergessen werden sollte jedoch die zwischenmenschliche Komponente, ohne welche sich das menschliche Handeln zwischen Segen und Fluch nicht konstituieren kann. Demjenigen, der den Segen erfährt, wird gleichsam das Wohlwollen der ihn umgebenden menschlichen Gesellschaft vermittelt, während derjenige, der verflucht wird, aus eben dieser ausgeschlossen und in eine zutiefst lebensfeindliche, beziehungslose Sphäre verdrängt wird.

Innerhalb der Sprachphilosophie werden Segen und Fluch als performative Sprechhandlungen verstanden, d. h. als Aussagen, welche bereits durch ihre blosse Aussprache selbst wirksam werden, entweder von sich heraus oder durch das Eingreifen einer Gottheit. Dem Gesegneten widerfährt Gutes, während Schlechtes den Verfluchten befällt. Abhängig vom soziokulturellen Umfeld dessen, der diese Sprechhandlung ausführt, kann das, was unter Segen und Fluch verstanden wird, auch Ähnlichkeiten zu Gebet, Magie oder anderen Formen ritualisierten Sprechens haben.

Die biblische Definition von Segen und Fluch basiert auf der göttlichen Reaktion auf das menschliche Handeln, welches entweder gemäss den göttlichen Gesetzen erfolgen kann oder sich diesem widersetzt. Die deuteronomistische Präsentation des göttlichen Gesetzes selbst ist dabei zutiefst performativ. Moses ist beauftragt, dieses an Israel zu verkünden. Das ausgesprochene Gesetz und das gemeinsame Verständnis der Wirkmächtigkeit von Segen und Fluch zementieren hier den menschlichen Zusammenhalt.

Chaja V. Dürrschnabel*

 

* Dr. theol. Chaja V. Dürrschnabel studierte klassische Philologie und Hebraistik in Zürich. Nach ihrer Promotion im Fach Judaistik in Bern lehrt und forscht sie aktuell an der russischen Forschungsuniversität HSE an einem Projekt zu spätantiken jüdischen Texten und deren interkulturellen Verankerung.