Im Zeitraum von 1870 bis 1914 kommt der Katholizismus durch die Nachwehen der europäischen liberalen Revolutionen von 1848 und die Bildung von neuen Nationalstaaten (vor allem das Königreich Italien und das Deutsche Kaiserreich) arg in Bedrängnis. Besonders die Kurie versuchte in der Folge den papalistischen Geist zu stärken. Papst Pius IX. (Pontifikat 1846–1878) forderte in diesem Sinne mit der Erklärung des Unfehlbarkeitsdogmas auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1869–1870 die Abgrenzung gegen aussen und hierarchische Disziplinierung im Innern. Dieser Positionsbezug führte zwar vorerst zu einem Aufschwung der katholischen Bewegung in ganz Europa, dann aber bald in eine Sackgasse. Auch folgte dieser zunehmenden Abschottung der «Kulturkampf» im deutschsprachigen Raum, ein eigentliches Zerwürfnis des gesellschaftlichen Gefüges in Europa. Die katholische Kirche geriet in eine tiefe Modernismuskrise, begleitet von einer teilweise radikalen Absage an das wissenschaftliche Weltbild. Der «Ultramontanismus» wurde mit dem langen Pontifikat von Pius IX. Leitideologie und erst mit dem nächsten Papst, Leo XIII. (Pontifikat 1878–1903), etwas gemildert.
In der Schweiz zeigte sich die politisch-religiöse Lage ambivalent. Einerseits verschärfte man im Zeichen des Kulturkampfes in der totalrevidierten Bundesverfassung von 1874 den «Jesuitenartikel», andererseits wurde mit der Einführung des fakultativen Referendums die Demokratie gestärkt. Diese bewies damit ihre integrative Kraft, auch und gerade bezüglich der Katholisch-Konservativen. Die Schweiz schlug so in Europa einen Sonderweg ein, als neutraler Staat nachfolgend auch im Ersten Weltkrieg.
Leo XIII., auch «Friedens»- oder «Arbeiterpapst» genannt, förderte intensiv die Bildung von religiösen Vereinen (besonders Frauenvereinen). Mit der ersten Sozialenzyklika «Rerum Novarum» von 1891 entwickelte er auf dem Boden des Naturrechts die katholische Soziallehre weiter und gab eine sinnvolle Antwort auf die soziale Frage der Industrialisierung. Diese Positionierung unterstützte unter anderem die Gründung der katholischen Arbeiterbewegung. In der ganzen Schweiz hatten sich christliche Arbeitervereine gebildet, die als Selbsthilfegruppen schliesslich eigene Gewerkschaften und Parteien gründeten, auch als Antwort auf die sozialistischen Ideen der Zeit.
Eine der bedeutendsten Tatsachen der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts ist die Erweiterung ihres Tätigkeitsgebietes über die ganze Erde. Die Mission des 19. Jahrhunderts stand mit der imperialistischen Ausdehnung der führenden politischen Mächte in engstem Zusammenhang, wobei Mission und kolonisatorische Unternehmen sich gegenseitig förderten.
Papst Pius X. (Pontifikat 1903–1914) nahm dann das Narrativ des «Antimodernismus» wieder auf und verschärfte abermals die Tonlage und damit die Abgrenzung. Katholiken und Protestanten vermochten aufgrund dieser Schwächung dem aufziehenden Sturm des Ersten Weltkrieges nichts entgegenzusetzen.René Roca*
René Roca*