«Säkulares Zeitalter»

 

Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. (Suhrkamp Verlag) Frankfurt am Main 2009, 1297 Seiten, gebunden (Taschenbuchausgabe 2012, 1299 Seiten).

Ein grosser Wurf, und zwar nicht nur quantitativ. Der kanadische Philosoph Charles Taylor, dem Publikum durch eine ganze Reihe von Arbeiten zu Hegel, dem Freiheitsbegriff und zu den Quellen des Selbst bekannt, legt nun ein Buch vor, das eine grosse, kritische Auseinandersetzung mit der Säkularisierungstheorie ist.

Neuansatz und neue Ebene

Die gängige Säkularisierungstheorie unterscheidet zwischen der Ebene der Trennung zwischen Staat und Kirche und dem Dahinschwinden von Glaubensüberzeugungen sowie der Frömmigkeitspraxis. Taylor führt eine dritte Ebene ein, der Veränderung der Bedingungen des Glaubens selbst. Glaube ist heute auch für den völlig überzeugten Hochreligiösen eine Option: «Es mag zwar undenkbar vorkommen, den eigenen Glauben fallenzulassen, doch es gibt andere Menschen, zu denen vielleicht auch solche gehören, die mir überaus nahestehen, deren Lebensweise ich, wenn ich ganz aufrichtig bin, nicht einfach als verkommen, verblendet oder unwürdig abtun kann, obwohl diese Menschen keinen Glauben haben (jedenfalls keinen Glauben an Gott oder das Transzendente) » (15).

Nicht die nackten religionssoziologischen Fakten interessieren Taylor, als Philosoph will er die Bedingungen der Erfahrung des Spirituellen artikulieren. Neben der Entwicklung als solcher geht es darum zu erkunden, wie der Wandel von einer Welt, in der Nichtglauben undenkbar war, zu unserer heutigen verweltlichten Situation überhaupt möglich wurde. Der heute wieder propagierte Säkularismus, wonach Aufklärung und Wissenschaft den Glauben widerlegt und Stück für Stück verdrängt hätten, wird im Zuge einer gross angelegten Rekonstruktion der westlichen Geistesgeschichte ab dem Spätmittelalter selbst widerlegt. Diese dürfte damit intellektuell wohl endgültig vom Tisch sein.

Entwicklungen

Es waren genuin innerchristliche Entwicklungen, die langfristig solche nicht intendierten Wirkungen zeitigten. Der Autor unterscheidet ein Zeitalter der REFORM – von ihm in Grossbuchstaben geschrieben, um es von der Reformation abzuheben –, das mit den Bettelorden beginnt und das allgemeine Glaubensniveau heben will; die Reformation wird dieses Ziel noch entschiedener verfolgen. Und eine Zeit des Deismus, die durch Anthropozentrik charakterisiert ist. Gott bleibt Baumeister der Welt und Ursprung der Naturgesetze, tritt jedoch selbst in den Hintergrund. Der Deismus bildet für Taylor das Zwischenglied zwischen der vorneuzeitlichen Welt der Geister und Mächte, in der der Beistand Gottes und seiner Heiligen überlebenswichtig war, und unserer heutigen Welt, in der ausschliesslich Menschen Akteure sein können. Bis ins 18. Jahrhundert waren Alternativen zum Christentum Sache kleiner Zirkel innerhalb der Eliten. Im 19. Jahrhundert wird der materialistische Humanismus zu einer gesellschaftlichen Option.

Daneben entstehen viele andere religiös-weltanschauliche Angebote. Aber nicht nur der Glaube selbst verändert sich, es ist vor allem der Rahmen, der uns etwas als unstrittig oder als höchst unplausibel erscheinen lässt, der sich verändert. Diese Entwicklung verlief keineswegs mit Notwendigkeit, wie man ex post meinen könnte, vielmehr ist sie kontingent – um sie zu verstehen, brauchen wir eine grosse Erzählung. Und diese Erzählung liefert jetzt Taylor, wobei immer auch die Wissenschaft selbst mit ihren nicht artikulierten Hintergrundsüberzeugungen in den Blick gerät.

Es sind just diese die Möglichkeit von Transzendenz ausschliessenden Vorannahmen, welche heute unter westlichen Intellektuellen grosse Plausibilität erreicht haben, die problematisiert werden. Zum Teil gründen sie auf einer fragwürdigen weltanschaulichen Verallgemeinerung naturwissenschaftlicher Theorien wie zum Beispiel dem Darwinismus. Die Diskussion zwischen Glaube und Nichtglaube ist damit neu eröffnet. Hier stehen sich aber nicht einfach zwei Positionen gegenüber: wie der Gläubige mit dem Zweifel konfrontiert ist, so der Nichtgläubige mit einem Gefühl geistiger Verarmung in der eindimensional gewordenen Welt.

Fazit

Charles Taylor hat ein opus magnum geschaffen, das viel dazu beiträgt, uns selbst und unser Zeitalter besser zu verstehen. Dass er dies in einer verständlichen, flüssigen Prosa getan hat, macht ihn zu einer Ausnahmeerscheinung unter akademischen Philosophen. Einzig die Länge des Werks mit seinen Redundanzen ist der Lektüre abträglich, wobei Eilige nach der Einleitung direkt zu Teil IV ff. übergehen können.

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.