Religiöse Sprache heute

Ein Werkstattbericht

Als ich im Primarschulalter Religionsunterricht erhielt, war die ganze Katechese darauf ausgerichtet, beim Schüler eine lebendige Beziehung zu Jesus Christus aufzubauen. Die Mystik des «Mit- und In-Christus-Seins» prägte das ganze Pfarreileben. Die Frömmigkeit war vom göttlichen Kyrios-Christus erfüllt. Dass Jesus Mensch und Jude war, hatte auf diese Frömmigkeit kaum einen Einfluss. Als Mitte des 20. Jahrhunderts das römischkatholische Lehramt seine Abwehr gegen die historisch- kritische Bibelexegese Schritt für Schritt aufgab, erwachte neu das Interesse am historischen Jesus und an seiner Reich-Gottes-Predigt in Galiläa. Man entdeckte damit eine neue Dimension des Glaubens als Herausforderung und als Chance für Theologie, Spiritualität und Pastoral.

Ist Gott tot?

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und seit der Jahrtausendwende sehen sich die Kirchen mit einer ebenso tiefgreifenden Herausforderung konfrontiert: mit der Gottesfrage. Die zunehmende Säkularisierung der Kultur und die traumatische Erfahrung des Holocaust (Auschwitz) im Zweiten Weltkrieg liessen in den USA der sechziger Jahre zunächst eine theologische Bewegung entstehen, welche die traditionellen christlichen Gottesbilder und ihre religiöse Praxis radikal in Frage stellte: die «Gott-ist-tot-Theologie». Sie erklärte, dass die moderne säkulare Kultur jeden Sinn für das Sakrale verloren habe und keine sakramentale Bedeutung, kein transzendentes Ziel, keine Vorsehung mehr kenne. Für den modernen Geist sei Gott tot. Es sei eine transformierte, nachchristliche und postmoderne Kultur nötig, um erneuerte Erfahrungen des Göttlichen zu ermöglichen.

Zur religiösen Lage heute

Wenn diese theologische Bewegung auch nur von kurzer Lebensdauer war, so bildete sie doch so etwas wie das Fanal für eine Entwicklung, die seit den siebziger Jahren auch in Europa zunehmend die Theologie und die Pastoral beschäftigte. Die Glaubwürdigkeit der Rede von und mit Gott ist mehr und mehr in Frage gestellt. Diese Entwicklung kann hier nur mit einigen Stichworten skizziert werden:

– Die Säkularisierung und das Schwinden der Bindung an religiöse Traditionen: Kann/muss man a-theistisch an Gott glauben? Gibt es ein a-religiöses Christsein? Weit verbreitete agnostische Grundhaltung.

– Die Rückbesinnung auf die negative Theologie: Jede Affirmation Gottes bedarf auch ihres Gegenteils: Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Gott ist weder all-mächtig noch ohnmächtig. Gott ist männlich und weiblich.

– Ein neues Interesse an der Mystik und ihrer Rede von der Gotteserfahrung.

– Die modernen Naturwissenschaften und ihre Herausforderung für den Gottglauben: Ist das Universum ohne Gott erklärbar?

– Die Theodizee-Frage: Der abwesende Gott und das Leiden von Mensch und Natur: Abschied vom Opfer- und Sühnetod Jesu.

Der Verein Tagsatzung und die Gottesfrage

«Rasante Entwicklungen prägen unser Leben im 21. Jahrhundert. Die überkommenen, für unantastbar gehaltenen Bilder von Gott und der Welt verlieren an Einfluss und Tragkraft in dieser postmodernen, von Naturwissenschaft und Technik dominierten Zeit. Ungezählte, sich selber rasch ändernde Sichten auf Gott und die Welt überfluten uns und stellen unsere eigenen Gewissheiten und Sicherheiten in Frage.» Mit diesen Worten lud der Verein Tagsatzung im Mai 2010 zu seiner bisher letzten grossen Tagung ein und stellte ihr Programm unter den Titel: «Sintflut – ab in die Arche!? – Menschen-, Welt- und Gottesbilder im Streit». Eine der wichtigsten Einsichten an diesem Treffen war die Dringlichkeit einer Reform der religiösen Sprache. Die Glaubwürdigkeit der Kirchen in ihrem Sprechen von und mit Gott steht auf dem Spiel.

Eine Werkstatt für religiöse Sprache heute

Es bildete sich eine zwölfköpfige Projektgruppe, die sich gleich nach der Tagung unter der Leitung von Paul Zemp an die Arbeit machte. Der Verein tagsatzung.ch bot ihre Homepage als Plattform an. So konnten die Ergebnisse laufend unter der Adresse http://www.tagsatzung.ch/tagsatzung/nrs/index.htm publiziert werden. Es sind entstanden:

1. Eine umfangeiche Literaturliste, die in Zusammenarbeit mit der Ökumenischen Buchhandlung VOIROL in Bern alljährlich ergänzt und bereinigt wird. Die Besucherinnen und Besucher der Webseite sind eingeladen, geeignete Publikationen zur Aufnahme in die Liste vorzuschlagen.

Adresse: E-Mail

2. Ein Katalog von fünfzehn wichtigen Kriterien, nach denen ein religiöser Text beurteilt werden kann.

3. Eine erste Reihe von Beurteilungen religiöser Texte und entsprechende Kommentare. Bis jetzt sind ein paar Beispiele religiöser Lyrik, religiöser Lieder und wichtiger Texte aus der Liturgie der Messfeier (Credo, Fürbitten, Hochgebet) erschienen. Im Laufe der Arbeit erwies sich eine Fokussierung auf die Sprache der Liturgie als sinnvoll und besonders dringlich: Wie geht gutes religiöses und christliches Sprechen in Gebet, Lied und Liturgie? So lautete nun der Auftrag. – Dabei zeigte sich bald, dass gutes religiöses und christliches Sprechen nicht nur durch ästhetische Eingriffe in Sprachstil, Sprachrhythmus, Nähe oder Abstand zur Umgangssprache, Genauigkeit der Übersetzung aus andern Sprachen, usw. zu haben ist. Jeder religiöse Text steht für ein bestimmtes Gottes-, Welt- und Menschenbild. Beispiel: Wie lautet eine Oration zum Thema Schöpfung/ Schöpfer, wenn das Welt- und Menschenbild des Betenden nicht kreationistisch, sondern evolutionistisch geprägt ist?

Zu den Gottesbildern der liturgischen Sprache

Die bisherigen Arbeiten der Projektgruppe «Neue Religiöse Sprache» widerspiegeln die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit der modernen Gottesfrage. Die Mehrzahl der fünfzehn Kriterien befasst sich denn auch mit der Rede von und mit Gott.

An der Vereins-GV der tagsatzung.ch vom 14. September 2013 in Winterthur konnte die Projektgruppe die Ergebnisse ihrer bisherigen Arbeit vorstellen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren eingeladen, sich zu verschiedenen Typen von «Fürbitten» zu äussern und entsprechende Erfahrungen auszutauschen. Alois Odermatt hat in die Werkstattarbeit eingeführt und sie geleitet. Seine Dokumentation zu den Problemen der «Fürbitten» bildet die zweite Folge dieses Berichts für die SKZ. – Eine Auswahl jener Kriterien, die sich direkt mit der Gottesfrage befassen, möge die Lektüre des zweiten Teils dieses Berichts begleiten (siehe Kasten «Kriterien für eine neue religiöse Sprache»).


Kriterien für eine neue religiöse Sprache

(Auswahl aus dem Kriterienkatalog)

Gutes religiöses und christliches Sprechen …

4. weiss den Menschen als Ebenbild Gottes und macht den Menschen nicht klein, um Gott gross sein zu lassen. Gott wird gross gedacht, indem christlich-religiöses Sprechen vom Menschen gross denkt;

5. verabschiedet sich von einer Tradition der Opfer- und Sühnetheologie, die den Menschen erniedrigt und das befreiende Gottesbild Jesu verrät;

6. überwindet den vereinfachenden Dualismus «Gott-Mensch» und damit ein Gottesbild im Sinne des «Deus ex machina»;

7. beruht auf dem Glauben, dass Schöpfung und Mensch von Gott schon immer geliebt sind. Der Geschenkcharakter geschöpflicher und menschlicher Existenz ist in Jesus verbürgt. Dank und Lobpreis sind Grundbotschaft christlich-religiöser Sprache;

9. hält Spannungen und Gegensätze im Gottesbild aus. Gott ist männlich-weiblich, personaltranspersonal, gerecht-barmherzig, fordernd-vergebend, bindend-befreiend, fern-nahe, Ehrfurcht gebietend-familiäre Geborgenheit schenkend, schweigend-sprechend, ruhend-handelnd, abwesend-gegenwärtig … Viele dieser Spannungspaare verlangen nach einem «sowohl – als auch» und widerspiegeln den Reichtum der religiös-christlichen Erfahrung und Sprache;

10. wird auch den Erfahrungen der «negativen Theologie» gerecht. Sie macht dem Beter/der Beterin bewusst, dass Gott nicht in eindeutigen Begriffen zu fassen ist, sondern dass Gott immer auch der/die «ganz andere», der/die Unsagbare ist. «Wenn du nämlich etwas aussagen willst und hast es in Worte gefasst, dann ist es nicht Gott. Wenn du etwas begreifen konntest, dann hast du statt Gott etwas anderes begriffen» (Augustinus);

12. vermeidet sexistische Einseitigkeit (auch im Sprechen von und zu Gott).

Paul Zemp

Dr. theol. Paul Zemp, geboren 1938, ist pensionierter Priester des Bistums Basel. Er war in den siebziger und achtziger Jahren verantwortlich für die Fortbildung der Seelsorgerinnen und Seelsorger des Bistums Basel und in den neunziger Jahren bis zur Pensionierung als Berater und Supervisor für Pfarreien und Kirchgemeinden tätig. In all den Jahren wirkte er teilzeitlich auch als Pfarradministrator oder als priesterlicher Mitarbeiter in verschiedenen Pfarreien mit.