Reflexion auf "Kirche lebt aus den Dörfern"

Kleiner Engel Steinenstrasse Luzern © zVg

Markus Heil mag Recht haben, wenn er betont, dass die Pfarrei keine hinfällige Struktur ist und "Selbstversorgung" wie "Eigenverantwortung" wichtige Faktoren für ein Zukunftsmodell von Kirche sind (vgl. SKZ 25/2017). Ebenso wichtig ist es, aus der Peripherie auf die Entwicklung der Kirche zu schauen, gibt Damian Kaeser zu bedenken.

Der Vergleich mit dem Anliegen von Gandhi "Indien lebt aus den Dörfern" passt aus meiner Sicht nicht für die Katholische Kirche. Wir haben kein Stadt-Land-Problem. Wir können auch nicht sagen, dass wir in den letzten 50 Jahren nichts für die Selbstversorgung und Eigenverantwortung der Pfarreien getan haben. Wir haben fast nichts anderes getan.

Bischof Ivo Fürer sagte an seinem 80. Geburtstag 2010 sinngemäss: "Ich frage mich je länger, je mehr, was wir bei allen Bemühungen, das Beste für die Kirche und die Menschen zu erreichen, die Ideen des Konzils und der Synode 72 umzusetzen, falsch gemacht haben. Wie konnte es so weit kommen, dass der Zustand der Kirche heute so ist, wie er ist?" Es gilt aufzupassen, dass die verklärten Blicke auf die Möglichkeiten der Sozialform Pfarrei zu viel Raum einnehmen.

Was ist die Peripherie von Kirche?

Ich teile die Sichtweise von Markus Heil, dem Aufruf von Papst Franziskus zu folgen und die Kirche von der Peripherie her zu erfassen. Doch ist die Peripherie von Kirche kein geografisches, sondern ein inhaltliches Thema: Peripherie ist überall dort, wo das Heil und Wohl der Menschen nicht geschützt ist und Gerechtigkeit auf dem Spiel steht. Von diesem Ort her müssen wir uns anfragen lassen, ob wir noch diese Kirche Jesu sind, die nicht in einer selbstgefälligen Struktur verharrt, sondern ihre Botschaft weitererzählt und umsetzt. Ich möchte deshalb hier eine Geschichte erzählen.

Sie handelt davon, dass eine ganze Menge Menschen versuchten, neue Ideen umzusetzen – vor fünfzig Jahren vor allem Priester, später immer mehr Männer und Frauen, die Theologie studiert hatten. Diese Ideen wurden an grossen Versammlungen der Kirche in Rom und auch in der Schweiz entwickelt. Die Kirche sollte die Kirche aller Menschen sein. Alle sollten gerufen sein, mit dem, was sie in sich tragen, ihren Teil beizusteuern. Für eine neue Kirche aller Menschen, als Brüder und Schwestern. So sehr sich diese Menschen, welche für diese Arbeit bezahlt wurden, auch bemühten, irgendetwas klappte nicht so, wie sie sich das vorgestellt hatten. Sie fragten sich immer häufiger: Wieso gelingt es uns nicht, die Menschen für diese tollen Ideen zu begeistern? Wir machen so viel für und mit den Menschen, aber irgendwie springt der Funke nicht so richtig über. Wir werden immer weniger!

Dann kam ein neuer Papst in Rom dazu. Wie einer seiner Vorgänger sagte er: Nehmt euch nicht so wichtig, sondern seid mit den Menschen barmherzig. Seid für sie so da, damit sie in ihrem Leben besser zurechtkommen, dass sie Vertrauen zueinander haben und füreinander schauen. Er sagte auch, könnt ihr euch erinnern, dass es einen gab, der uns erzählte, es geht nicht darum, wer der Erste ist, sondern den Nächsten zu fragen: "Was kann ich für dich tun?"

Die Männer und Frauen der Kirche nahmen sich das zu Herzen und machten es von dem Tag an anders. Sie besannen sich auf die ihnen wohlbekannten Geschichten dieses Einen und erzählten sie weiter. Die Menschen, die sie hörten, legten ihre Gedanken dazu und erzählten sie wiederum weiter. Es entstanden viele neue Geschichten, angeregt von den alten Geschichten, bereichert mit den Freuden und Leiden von heute. Die Menschen merkten, dass es guttut, miteinander über diese Themen zu reden, aber nicht nur das. Sie unterstützen sich gegenseitig und hatten einen Blick für jene, die es nicht so gut hatten. Sie diskutierten und feierten, teilten Brot und Wein. Andere Menschen wurden auf sie aufmerksam und wollten auch ein Teil davon sein. Die Frauen und Männer der Kirche sagten, das ist sehr gut, wir kommen gerne zu euch und erzählen euch einige Geschichten von einem, der uns sagte: Es geht nicht darum, wer der Erste ist, sondern den Nächsten zu fragen, was kann ich für dich tun? Es entstanden viele verschiedene Gruppen, und wenn eine Geschichte besonders anregend war, erzählten sie sich diese gegenseitig. So gingen sie weiter, nahe bei den Themen von heute.

Immer mehr Menschen fragten sich, was das ist, dieser Bund unter den Menschen. Diese antworteten: Wir machen nichts Besonderes. Wir hören uns gut zu, wenn wir Geschichten erzählen. Alle haben etwas zu sagen. Dabei machen wir die Erfahrung, dass wir alle zufriedener sind. Wir sind wacher für die Freuden und Leiden der anderen, auch über unsere Gruppe hinaus.

Immer mehr Menschen interessierten sich für die Geschichten. Als Erzählerinnen und Erzähler der alten Geschichten von dem Einen waren die Frauen und Männer der Kirche gefragt. Sie merkten, wie sie damit Salz und Licht in die Welt bringen. Bald hatten sie vergessen, dass sie eine Not hatten. Sie waren selber begeistert und freuten sich über alle Menschen, denen sie die alten Geschichten erzählen durften. Niemand mehr sehnte sich nach den alten Orten, sondern man freute sich an den neuen Orten, wo Brot und Wein geteilt wird.

Geschichten öffnen Horizonte

Ich sehe den Weg, dass die Kirche statt in Analysen, Diagnosen und Lösungswegen, künftig in die Prävention investiert – als Vorbeugung – in den Dialog mit Menschen zu den Geschichten der Bibel und unseren eigenen Erfahrungen. Das hilft, neue Bilder und Strategien entwickeln, um mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Ich denke, dass wir eine eigentliche Kultur (Spiritualität) des Geschichtenerzählens bis an die Peripherie pflegen sollten. Das Potenzial liegt in den Geschichten und den Menschen. So sind auch die meisten Geschichten der Bibel entstanden.

Damit verbunden werden sich die Aufgaben der Seelsorgenden verschieben. Die Definitionsmacht über die Frage "Was ist Kirche?" wird nicht mehr bei den Hauptamtlichen entsprechend ihrer von der Hierarchie zugeordneten Rolle liegen, sondern auch beim einzelnen, mündigen Christ, als handelndes Subjekt seiner ihm in der Taufe zugesprochenen Kompetenz. Dafür sind Missionarinnen und Missionare gefragt, welche immer wieder neue Menschen begeistern, fördern und fordern, die Botschaft Jesu weiterzuerzählen, zu leben und im Dialog mit der heutigen Zeit zu sein.

Damian Kaeser-Casutt © Bistum St. Gallen

Damian Kaeser-Casutt

Damian Kaeser-Casutt studierte Religionspädagogik in Luzern und absolvierte mehrere Weiterbildungen. Seit 2011 leitet er die Abteilung Pastorales Entwicklung und Beratung im Pastoralamt des Bistums St. Gallen.