Paul VI - unterschätzt und missverstanden

Es gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen des Vatikans: Einige Tage nach ihrer Wahl und – bei einem langen Pontifikat – alle fünf Jahre pflegen die Päpste die Auslandkorrespondenten in Privataudienz zu empfangen. Unvergesslich die erste Begegnung mit Johannes XXIII. Wegen einer allzu langen Generalaudienz liess er uns mehr als eine halbe Stunde warten, ohne Sitzgelegenheit wohlverstanden. Ein amerikanischer Journalist beschwerte sich: «Not even the president», nicht einmal unser Präsident würde sich so etwas zuschulden kommen lassen. Ein italienischer Kollege erklärte ihm: «Was ist denn ein amerikanischer Präsident im Vergleich zu einem Papst.»

Als der Johannespapst eintraf, entschuldigte er sich beiläufig für die Verspätung und nahm in seiner ganzen Fülle auf dem erhöhten Thronsessel Platz. Ob seines Italofranzösisch wären selbst die Franzosen froh gewesen, er hätte italienisch parliert. Der frühere Nuntius in Paris merkte es und sagte zur allgemeinen Erheiterung: «Moi, moi je parle le français comme si comme ça.» Diese Erklärung stiess auf allgemeine Begeisterung, nur schon, weil er statt des «pluralis maiestatis» Pius’ XII. das «moi», das bescheidene «ich» verwendete. Der neue Papst hatte unsere Herzen an jenem Oktobertag 1958 gleichsam im Höhenflug des wirklichen Verstehens erobert.

Geradezu peinlich die Begegnung mit Paul VI.

Völlig anders verlief die Begegnung mit Paul VI., fünf Jahre später. Es war alles in allem eine höchst peinliche Angelegenheit: Die südländischen und südamerikanischen Korrespondenten fielen auf die Knie. Allen voran blieben die US-Vertreter ostentativ stehen. Wir Mittel- und Nordeuropäer wussten nicht recht: Sind wir katholisch genug, um es den heimischen Italienern gleichzutun? Kein grosses Problem für die Protestanten weltweit!

Paul Vl. – in sozialen und politischen Belangen ein ausserordentlich progressiver und moderner Papst – war das Verhalten der knieenden Presseleute geradezu peinlich. War er nicht als Monsignore 1943 mit von der Partie bei der Gründung der «Democrazia Cristiana»? Im Vatikan wohlverstanden, lange vor der Verhaftung Benito Mussolinis? Duldete er nicht 1976 als Papst den historischen Kompromiss der Regierungspartei mit den Berlinguer-Kommunisten? Nachdem er notwendigerweise für das Überleben der katholischen Partei zehn Jahre früher die Nenni-Sozialisten für die Regierung mit den Christdemokraten gewann? Zwei Meisterleistungen der politischen Taktik in Absprache mit dem kürzlich verstorbenen Giulio Andreotti. Hat Paul VI. zuletzt noch mit dem Einverständnis für eine Regierung der sogenannten «non-sfiducia» (Nicht-Misstrauen) nicht nur für Italien Geschichte geschrieben? Stand mit dem Aufkommen der linksextremen Parteien nicht die ganze atlantische Bündnisgemeinschaft und damit der Weltfrieden auf dem Spiel? Vielleicht noch mehr als zur Zeit der Kubakrise 1962, als Johannes XXIII. je einen Brief mit dem genau gleichen Text Nikita Chruschtschow und John F. Kennedy zukommen liess? Die sowjetischen Schiffe mit Atombomben an Bord näherten sich bereits Kuba mit den Abschussrampen in Richtung der USA, als sie sich plötzlich zurückzogen. Niemand Geringerer als der sowjetische Machthaber hielt in seinen Memoiren die Intervention des Johannespapstes für wichtig, wenn nicht sogar ausschlaggebend.

Der verpasste Sozialisierungsprozess G. B. Montinis

Wie in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens ist die Versuchung gross, etwas, das verstanden werden sollte, zu beurteilen, gar zu verurteilen. Was im Buch von Jörg Ernesti über Paul VI. (Jörg Ernesti. Paul VI. Der vergessene Papst. [Herder Verlag] Freiburg im Breisgau 2012) – vor kurzem in der SKZ-Nr. 25 / 2013 (S. 397 f.) von Urban Fink-Wagner angezeigt – bereits angedeutet wurde, muss noch mehr hervorgehoben werden. Im Gegensatz zu Johannes XXIII. tat sich Paul VI. ausserordentlich schwer im Umgang mit ihm unbekannten Menschen, besonders anlässlich von Massenkundgebungen. Aus sehr verständlichen Gründen und nicht nur wegen seiner prekären Gesundheit: Von ausgesuchten Hauslehrern über Jahre hinaus bestens unterrichtet, fehlte dem zukünftigen langjährigen Monsignore im Vatikan ein Leben lang das Wichtigste, was noch vor hundert Jahren für alle sozialen Schichten auch in Italien üblich wurde und heute da und dort und nicht zuletzt in der Schweiz und den USA gelegentlich sogar systematisch unterbunden wird: die Sozialisierung des Einzelnen unter gleichaltrigen Buben und Mädchen nicht nur im sogenannten Klassenzimmer, sondern auch in der Freizeit. Die Erkenntnis und Erfahrung, dass für die normale Entwicklung des Menschen für ein ganzes Leben das «Zusammenfinden» mit Gleichaltrigen – auch mal durch Streit, aber auch durch besonders freundschaftliche Beziehungen – wichtig ist.

Dagegen ist die schnelle effiziente Aneignung des Lehrstoffes weit weniger bedeutsam als die unersetzbare Vergesellschaftung im besten Sinn des Wortes – nicht nur in jungen Jahren! In seinem speziellen Fall verfügte Paul VI. nicht über die Orgelstimme seines Vorgängers und dessen sprichwörtlichen Witz, der ihn einmal sagen liess: «Jeder kann Papst werden, der beste Beweis bin ich.» Oder bei der Besichtigung des Vatikans auf die Frage einer Besucherin: «Wie viele arbeiten denn in diesen riesigen Gebäuden?» seine humorvolle Antwort: «Ungefähr die Hälfte.»

«Das grenzt an eine Heiligenlegende»

Umso liebenswürdiger und geradezu einmalig war Pauls Vl. Verständnis für die Aussenseiter und Zurechtgewiesenen, beispielsweise für den von ihm abgesetzten Don Giovanni Franzoni, langjähriger Abt des Klosters von «San Paolo fuori le mura» in Rom. An einem folgenden Weihnachtsabend besuchte er ihn. Die Begründung lag auf der Hand und musste gar nicht ausgesprochen werden: Tröstet sich ein laisierter Geistlicher nicht mit einer Frau und Kindern, so fühlt er sich am Tag der Geburt von Jesus Christus besonders einsam.

«Das grenzt an eine Heiligenlegende», hielt Jean Guitton in seiner Biografie über Paul VI. fest. Das erste Buchexemplar überreichte er dem langjährigen Freund, worauf der Papst nach seinem Dank erwiderte: «Jetzt bin ich ein ziemlich berühmter Mann, aber in hundert Jahren spricht man über mich vielleicht nur noch wegen Ihres Buches.» Obwohl Montini und Guitton sich seit Jahrzehnten kannten und gegenseitig ausserordentlich schätzten, blieben sie miteinander auf Sie. Darin kam der gegenseitige Respekt zum Ausdruck, etwas, was heute unter dem amerikanischen Einfluss kaum verstanden wird. Begreiflicherweise, denn die englische Sprache findet nur für Gott einen besonderen Ausdruck der Hochachtung!

Enzyklika «Humanae vitae»

Behutsamkeit und Rücksicht Pauls VI. finden sich auch in der besonders nördlich der Alpen sehr umstrittenen Enzyklika «Humanae vitae». Am Ende dieses für Katholiken verbindlichen Rundschreibens bekundet Paul VI. sein Verständnis für abweichende Ansichten in Sachen der künstlichen Empfängnisverhütung. Der uns Journalisten dieses Verdikt erklärende Prälat hielt bereits bei der Bekanntgabe fest: «Wer dieses Nein aus dem Vatikan mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann» – beispielsweise wie meine Schwester Rosmarie, die bereits sechs Kindern das Licht der Welt erblicken liess –, «darf auf das Verzeihen eines gnädigen Richters weit über uns fehlbare Menschen hoffen.»

Meinerseits bin ich ausserordentlich dankbar, dass Dr. Hans Lang, langjähriger Leiter der Paradesendung von Radio Beromünster/DRS, mir die Zeit liess, diese Enzyklika erst fünf Stunden nach der vatikanischen Verlautbarung im «Echo der Zeit» zu Pau l V I . Pau l V I . – u nt e r schät z t u nd m issv e r s tanden 2 7 – 2 8 / 2 0 13 441 kommentieren. So las ich genau den Anfang, etwas aus der Mitte und vor allem den sehr verständnisvollen Ausgang dieser 137-seitigen Verlautbarung vor, so wie dies aus naheliegenden Gründen aufgrund der weit längeren Erfahrung der Journalisten und Kommentatoren in Italien und weltweit in anderen katholischen Ländern geschehen ist. Das war nicht zuletzt der Grund, warum das buchstäbliche Entsetzen über die Enzyklika sich südlich der Alpen bis nach Afrika und Südamerika in Grenzen hielt. Mit Auswüchsen, die ihrerseits zu verstehen, nicht einfach zu beurteilen oder gar zu verurteilen sind. Die dort vorherrschende andersartige Mentalität im Verhältnis zu Schuld und Sühne, dass die Selbstgerechtigkeit eine, ja die grosse Sünde ist, die an Luzifer in der Genesis erinnert, während Gott die Quelle des Erbarmens, des Verzeihens und der Hoffnung darstellt, ist uns Mittel- und Nordeuropäern eher fremd und beschwört vom Protestantismus her gesehen grosse Missverständnisse herauf.

Es braucht ja nicht gleich die Ausmasse zu erreichen, wie im Handumdrehen dem afrikanischen Klerus angelastet wird: Dass in einem Land wie Nigeria nur jener Priester Bischof werden kann, der keine Kinder hat. Dass es in Madagaskar sogar hiess, es sei ein Glück, wenn der Priester nur eine Frau des Dorfes habe, sonst hätte er gleich noch eine andere im nächsten Dorf, entspricht wohl mehr der trotz aller Nöte oder gerade deshalb leicht aufkommenden überschwenglichen Fröhlichkeit der Afrikaner, überhaupt der sogenannten Südländer – freilich mit Ausnahme des wie die USA nicht zuletzt vom Puritanismus und der anglikanischen Kirche geprägten Australien.

Besondere Ehrfurcht für den vergeistigten Stellvertreter von Jesus Christus

Bei meiner ausgedehnten Befragung von etablierten Altgardisten hörte ich zu meinem Erstaunen: Kein anderer Papst durfte sich unter ihnen einer derartigen Verehrung erfreuen. Die burschikose Art Johannes XXIII. gefiel sicherlich dem einen oder andern. Wie jenem Freund aus Basel und Aarburg, der in Achtungsstellung vor Seiner Heiligkeit kniend den ehemaligen Bauernsohn aus Sotto il Monte in der Lombardei sagen hörte: «Ciaò Svizzero», und als dieser sich nicht gleich erhob, ihn ermunterte, schnellstens aufzustehen mit der Begründung: «Das ist doch eine unbequeme Stellung!»

Wer den Dienst für Seine Heiligkeit versieht, wenigstens zwei volle Jahre, kann seine Ehrfurcht für das Papsttum gegenüber einem Paul VI. auf besondere Weise zum Ausdruck bringen, dessen distanzierte, zugleich aber tief verinnerlichte Art besonders schätzen. Wenigstens früher, vielleicht aber auch heute und morgen, wenn die Menschheit und die Kirche von noch grösseren Belastungen heimgesucht wird und es gilt, die aufkommendenden Stürme nicht nur gegen die katholische Kirche abzuwehren, wenigstens zu entschärfen.

Besondere Achtung für den Urschweizer: der humorvolle Paul Vl.

So wenig Paul VI. im Gegensatz zum jetzigen Papst Franziskus, Sohn eines Einwanderers aus dem Piemont, ein Kirchenfürst zum Anfassen war, so ganz anders konnte er im Umgang mit seiner nächsten Umgebung und unter Freunden sein. Von Schweizergardisten – auf «Arbeitsbesuch» in meinem Garten – erfuhr ich manches, was ein Aussenstehender diesem Papst nie zutrauen würde. So war Paul VI. beispielsweise überaus zuvorkommend bei der spontanen Begegnung zwischen einem urwüchsigen Urner Ebenbild von Wilhelm Tell. Oberst Nünlist wollte offenbar dem feinfühligen Papst den Anblick dieses jungen alten Eidgenossen ersparen und soll ihn nach Zeitplan überall dort eingesetzt haben, wo ihn der Papst nicht sehen konnte. Für einen nicht vorgesehenen Besuch in Rom ausserhalb der riesigen Mauern bestieg Paul VI. einen einfachen Wagen und sah auf dem Weg zum Sant-Anna-Tor plötzlich diesen Unansehnlichen wie damals üblich mit der Hellebarde vorgestreckt auf den Knien den Papst erwarten. Paul VI. liess den Chauffeur anhalten, stieg aus, trat vor seinen besonderen Leibwächter, ermunterte ihn zum Aufstehen und sagte ihm Aug in Aug voller Anerkennung: «Endlich ein richtiger Schweizer!»

Humor und Bescheidenheit statt Hochmut

Humor und Bescheidenheit statt Hochmut – die in Demut verpackte Schlaumeierei? Für die Römer auch im Vatikan paart sich die Verehrung für das Papsttum immer auch mit der auch menschlichen Seite dieser ihrer uralten Institution, der Fortsetzung des Römischen Imperiums, dem «caput mundi», dem Kopf der Welt. So wird das charakteristische Nummernschild SCV (Sede della Città del Vaticano) verulkt mit der «Übersetzung» «Se Cristo Vedesse », wenn Christus das sähe. Darin verbindet sich zugleich der unumgänglich Abstand mit der inneren Verbundenheit gegenüber einer verehrungswürdigen göttlichen Einrichtung, aber auch unumgänglicherweise menschlichen Vertretung.

Zeugnis für diese nur scheinbar gespaltene Haltung erfuhr ich noch unter Paul Vl. im Gespräch mit einem hohen Prälaten in einem der grossen Gebäude in der Vatikanstadt. Er fragte mich nach der Art des Todes des ersten Papstes und nach dessen Gründen. «Kopf nach unten, weil er sich nicht ausreichend würdig hielt, wie Jesus am Kreuz zu sterben », gab ich fast gelangweilt zur Antwort und fügte bei: «So hält es die Kirchengeschichte fest.»

«Ohne Zweifel kein Glaube, lehrte der Kirchenvater Thomas von Aquin», gab mir der Monsignore zu bedenken. «Vielleicht ist mit dem Ökumenischen Konzil die Zeit gekommen, dass wir alle – Katholiken, Protestanten, Nichtchristen, Atheisten, wer auch immer – bescheidener werden und offen lassen, was auch eine andersartige als die bisher von uns für gültig gehaltene Erklärung zulässt, was wir so oder so nicht beweisen können. Was hat Petrus gedacht, auch gedacht, nicht nur ein äusserlich verständliches Zeichen zu setzen? Bescheidenheit statt Hochmut ist vonnöten, wie uns schon die Genesis lehrt. Um alle Menschen und deren verschiedenartigen Bekenntnisse zu versöhnen, braucht es – mehr als alles andere – Demut, Bescheidenheit, Selbstkritik, Offenheit. Im konkreten Fall die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, dass Petrus das Naheliegende, ja Selbstverständliche wusste, dass auf dieser Weise sein Leiden am Kreuz von kürzerer Dauer sein werde. Auch wenn derart die Schlaumeierei mit im Spiele stand, gilt es, den Glauben an Jesus Christus und eine höhere uns lenkende Kraft nicht zu verlieren, im Gegenteil durch vieles, was in uns und um uns geschieht, bestätigt zu finden.»

Dem höhnischen Satz vieler Nichtkatholiken «Die katholische Kirche regiert(e) die Welt mit dem schlechten Gewissen seiner Gläubigen» muss entgegengehalten werden: Das Bemühen des modernen Denkens, die Berechtigung der Schuldgefühls geringzuschätzen oder überhaupt nicht gelten zu lassen, kann meist nur durch die Oberflächlichkeit wenn nicht sogar durch die Ungerechtigkeit und Unfähigkeit des Verstehens des Andersartigen und – am wichtigsten – des Verstehens der Missverständnisse erkauft werden.

Mit der Umlegung der Apostolischen Stola um dessen Schultern hat Paul VI. den Patriarchen von Venedig, Albino Luciani, als seinen Nachfolger auserkoren, es jedenfalls gewünscht und ein bestimmtes Zeichen gesetzt, das Benedikt XVI. noch als Kardinal vielleicht sogar prophetisch mit einem Satz festhielt: «Er [= Papst Johannes Paul I.] hat sein Leiden in ein Lächeln der Güte verwandelt, und diese Botschaft ist besonders heute von grosser heilsamer Bedeutung.» Jedenfalls warnte Albino Luciani bereits als Patriarch von Venedig humorvoll vor dem gleichzeitigen Bemühen zur Erfüllung aller Tugenden. Dies würde lediglich ein höllisches Durcheinander heraufbeschwören. «Also konzentrieren wir uns auf Bescheidenheit und Liebe und verrichten sie in gelassener Heiterkeit.»

 

 

Victor J. Willi

Victor J. Willi

Der langjährige Rom-Korrespondent von Radio DRS und Journalist für viele Zeitungen beschäftigt sich auch nach seiner Pensionierung mit der katholischen Kirche und Zeitfragen