Pathologien der Moderne

Elena Pulcini: La Cura del Mondo. Paura e responsabilità nell’era globale. (Bollati Boringhieri) Torino 2009, 290 Seiten.

Das anzuzeigende Buch ist eine Zeitdiagnose mit philosophischen Mitteln in der Tradition der Frankfurter Schule. Es geht darum, die Pathologien der Moderne zu beschreiben und Alternativen dafür aufzuzeigen. Unsere Gesellschaften leiden, so die Autorin, an zuviel Individualismus einerseits und an einem regressiven Kommunitarismus andererseits. Dabei ist der narzistische, sich bis zum Solipsismus steigernde Individualismus eine Pathologie der gesunden, wertvollen Individualität, der sich in sich einschliessende, fremdenfeindliche Kommunitarismus die Degeneration gesunder Gemeinschaften. Letzterer Analyse steht die Propaganda der Lega Nord vor Augen, einer rechtspopulistischen Partei, die vor allem in der Lombardei und in Venetien ihre Hochburgen hat. Tatsächlich vertritt diese ei nen seltsamen, aber in Europa keineswegs einzigartigen Regionalismus, der am liebsten alles Fremde ausschliessen würde. Elena Pulcini diagnostiziert auch Pathologien des Fühlens: Der lähmenden Angst steht die Ignorierung der Gefahren gegenüber – beide Zustände verhindern das Handeln. Die Autorin erkennt die handlungseröffnende Kraft der Angst, wenn sie als Furcht mit Erkenntnis der Situation verbunden werden kann. Die Furcht ermöglicht es uns, aus der Zuschauerperspektive herauszutreten und in die Position kollektiv Handelnder zu gelangen. So gesehen ist die Furcht notwendig, damit wir erkennen, dass es um uns, um unsere Welt geht. So eingängig Pulcinis Analysen auch sind, methodisch wird bald philosophisch, bald sozialpsychologisch, bald soziologisch argumentiert. Von Günther Anders, der gerade seine kleine Renaissance erlebt, bis zu Zygmut Bauman werden alle bekannten Namen der Gesellschafts- und Zeitdiagnose in Anschlag gebracht. Der Preis für eine solche Totale ist die fehlende Rückbindung an die Empirie. Nichtsdestotrotz ist Elena Pulcini ein kluges Buch gelungen.

 

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.