Orden dürfen sich nicht «exkulturieren»

Wie können die Orden in einer sich ständig beschleunigenden Welt ihre Berufung leben? Mit dieser Frage befasste sich der französische Soziologe und Dominikaner Jean-Claude Lavigne an der diesjährigen Versammlung der Höhern Ordensobern der Schweiz/VOS’USM (23.–25. Juni 2014 in Delsberg). Im geschäftlichen Teil verabschiedeten die Äbte und Provinziale ihre langjährige Sekretärin, ihren Präsidenten und den Delegierten der Schweizer Bischofskonferenz. «Das Ordensleben – ein Lebensentwurf»; oder in der französischen Fassung: «… art de vivre». So hiess das Referat von Jean-Claude Lavigne, Soziologe, Begleiter von Gemeinschaften, Exerzitienleiter, Buchautor und bereits Referent an der Tagsatzung der Orden im Jahr 2012.

Fruchtbares Spannungsverhältnis

Ordensleute dürfen sich nicht von ihrer Umwelt abkapseln, aber auch nicht in ihr aufgehen. Nur wenn sie zu ihr in einem «fruchtbaren Spannungsverhältnis» stünden, würden sie nicht ins Abseits geraten. Ausgehend von dieser These analysierte der Referent in einem brillanten Essay die heutige Gesellschaft. Diese sei als Erstes gekennzeichnet durch eine stets zunehmende Schnelligkeit. Die «Neophoben» gerieten dadurch in Angst und würden sich aus der Welt ausklinken. Wenn Ordensleute sich so verhielten, wäre die «Exkulturation» die Folge. Würden sie jedoch im Gegenteil zu «Neophilen», jagten sie von einem Event zu andern. Tätigkeiten würden abgebrochen, sobald man ihrer überdrüssig wird. Als Alternative empfahl der Referent «ein nicht ängstlich besorgter Bezug zur Welt, der die Schnelligkeit zu mässigen versteht, mit mehr Tiefgang, mehr Kontinuität, was beides zur Treue führt». Unter dem Stichwort «Der Bezug zum Raum» skizzierte Lavigne die globalisierte Moderne als einen Ort, der dank Techniken wie Internet oder superschnellen Verkehrsmitteln «die abgegrenzten Territorien zum Verschwinden bringt». Einige Gemeinschaften würden als Antwort darauf Oasen des Friedens und der Ruhe schaffen. Andere wendeten sich den Ärmsten zu und teilten ihr Leben. Wieder andere aber setzten die neuesten Kommunikationsmittel ein: «Sie übernehmen das Verhalten von höheren Kaderleuten oder von Handelsvertretern der Marke ‹Jesus›.» (In Anlehnung an den Begriff Gadget, der einen ausgeklügelten technischen Gegenstand bezeichnet, würden solche Brüder ironisch «Gadget-Marie» genannt …)

Brüderliche Verbundenheit mit Jesus

Zu den «sozialen Beziehungen» stellte der Dominikaner fest, diese würden mehr und mehr von der «Tyrannei des Marktes und der ökonomischen Beziehungen umgestaltet». Die Alternative hiesse Solidarität. Und die Lösung der Probleme in einer derart strukturierten Welt lautet gemäss dem Referenten: Das Ordensleben als Lebensentwurf im Gegenüber zur Gesellschaft hat Christus als Mittelpunkt. Es ist auf ihn ausgerichtet, in brüderlicher Verbundenheit mit ihm. Diese «mystische Dimension» sei zentral. Denn: «Wenn der Lebensentwurf der Ordensleute nicht das Bild von Jesus Christus trägt, läuft er Gefahr, die Verbindung zum Evangelium zu verlieren.»

Jean-Claude Lavigne zog die Schlussfolgerung: «Das Ordensleben ist vielfältig. Das kann von Vorteil sein, wenn die verschiedenen Ausprägungen miteinander im Gespräch bleiben und wenn die elementaren Verbindlichkeiten (die Treue, die missionarische Grundausrichtung, die geistliche Erfahrung) nicht verdunkelt werden. Diese Situation ist durchaus vorteilhaft, wenn es uns gelingt, Rechenschaft abzulegen über die unterschiedlichen Wege, auf denen wir Gefährten Jesu werden; wenn wir zu sagen vermögen, was Ordensleben jenseits von Werbekampagnen meint. Darin steckt eine grosse Herausforderung.» Der für einige Stunden als Gast anwesende Apostolische Nuntius Diego Causero zeigte sich über die Ausführungen des Referenten erfreut. Und er dankte den Ordensleuten für ihr «hingebungsvolles Leben»: «Wir haben Sie in der Schweiz nötig.»

«Vergreisung der Jungen»

In Gruppen wurde nach dem Vortrag über die Konsequenzen des Gesagten diskutiert, zum Beispiel im Bereich der spirituellen Bildung, der Förderung des Menschseins. Wie geht man etwa um mit den Jungen, die geprägt sind vom ewig Neuen, während das kirchlich-klösterliche Leben vielfach von uralten bewährten Ritualen geprägt ist? Diese müssten vertieft werden, damit ihre lebensförderliche Seite wirksam werde. Wichtig sei auch, den Jungen Wege in die Zukunft aufzuzeigen, zum Beispiel in Form gemeinsamer Projekte. Visionen sollten entwickelt werden. Es genüge nicht, ohne Vorgaben vor sie hinzustehen und zu fragen, was sie einst tun möchten. Gewarnt wurde auch vor einer «Vergreisung» der Jungen. Wenn sie als Einzelne oder kleine Gruppe in eine Gemeinschaft eintreten, bestehe die Gefahr, dass sie von der Mehrheit der alten Mitglieder vereinnahmt werden und sich ihnen nahtlos anpassen.

Die 68er-Generation

Und wie geht man in den Gemeinschaften mit den Alten um? Zum Beispiel mit jenen, die ins Pensionsalter kommen? Gefordert wurde, ihnen Aufgaben mit eigenständiger Verantwortung zu übergeben, damit sie sich nicht nutzlos vorkommen und resignieren. Am schwersten habe es heute die 68er-Generation. Sie habe für Unabhängigkeit gekämpft und werden nun allmählich durch die Alterungsprozesse immer abhängiger. Ebenso müsse sie erleben, dass Dinge, gegen die sie kämpften, von den Jungen wieder eingeführt würden.

Ordensleben geht anderswo weiter

Öfters kam in den Diskussionen die Tatsache zur Sprache, dass manche Gemeinschaften in der Schweiz vom Aussterben bedroht sind. In einigen sei der höhere Obere der Jüngste von allen – und werde in Ermangelung von Alternativen immer wiedergewählt. Der Vertreter der Weissen Väter sprach von einer «Transmission». Das Ordensleben gehe anderswo – in Afrika – weiter. Es sterbe also nicht aus. (Zwischenbemerkung des Berichterstatters: Wenn ein deutscher Kapuziner nach der Anzahl der Novizen gefragt wird, sagt er zum Erstaunen aller: «Mehr als 400.» Die Frage meinte die eigene Provinz, die Antwort bezieht sich auf den Weltorden …)

«Les sans»

Nach der Gruppen- und Plenumsdiskussion lenkte Jean-Claude Lavigne in einem kurzem Impuls den Blick auf – wie er französisch sagte – «les sans»: die «sans papiers», «sans abris»: die Papierlosen, Obdachlosen usw. Sie alle seien ohne Liebe und würden auch sich selbst nicht lieben. Sie seien ohne Zukunft. Denn sie hätten kein Geld, um ihre Zukunft zu gestalten. Und sie seien ohne Stimme, ohnmächtig in der Gesellschaft. Die Gelübde würden die Ordensleute dazu verpflichten, sich den «sans» zu nähern, mit ihnen in Beziehung zu treten und ihnen zu helfen, lebendig zu werden. Mit ihrem Gebet und ihren Aktivitäten könnten sie ihre Sorgen mittragen.

Juristisch nicht anerkannter Verband

Der geschäftliche Teil der diesjährigen VOS-Versammlung wurde eröffnet durch den Jahresbericht des Präsidenten Ephrem Bucher, Kapuziner. Der Vorstand hat sich u. a. beschäftigt mit den Themen «Ordensleben in einer säkularisierten Welt – mögliche Formen» sowie «Überlegungen zum Einfluss des Papstes Franziskus auf das Ordensleben».

Eine besondere Knacknuss war die Neustrukturierung des Dachverbandes aller Konferenzen der höheren Ordensoberinnen und Ordensobern der Schweiz / KOVOSS’CORISS. Er wurde im Schweizer Jubiläumsjahr 1991 gegründet. Ihm gehören an:

  • VOS’USM: Vereinigung der Höhern Ordensobern der Schweiz/Union des Supérieurs Majeurs;
  • VONOS: Vereinigung der Ordensoberinnen der deutschsprachigen Schweiz und Liechtenstein;
  • VOKOS: Vereinigung der Oberinnen kontemplativer Orden der deutschsprachigen Schweiz;
  • USMSR: Union des Supérieurs Majeurs de la Suisse romande;
  • UCSR: Union des Contemplatives de Suisse romande;
  • ARL: Associazione delle Religiose Diocesi di Lugano;
  • AGSI: Arbeitsgemeinschaft der Säkularinstitute.

Davon haben nur drei Konferenzen einen kirchenrechtlichen Status: VOS’USM, VONOS und USMSR. Die KOVOSS als solche ist ein formloser Zusammenschluss ohne eine feste, juristisch anerkannte Form. Als es nun galt, dafür eine Sekretärin in Teilzeit anzustellen, zeigte es sich, dass der Verband eine zivilrechtliche Körperschaft sein muss. Nach einer möglichst unkomplizierten Lösung wird noch gesucht.

Abschiede

Damit sind wir bei den personellen Veränderungen. Wegen Erreichen des Pensionsalters musste die Ingenbohler Schwester Susanna Baumann von der Funktion als Sekretärin von VOS und KOVOSS zurücktreten. Der VOS-Präsident betonte, ihre Verdienste in den mehr als 20 Jahren Einsatz seien nicht aufzuzählen. Isabelle Catzeflis, Mitglied der Fokolar-Bewegung, wurde mit einem 60-Prozent-Pensum als VOS-Sekretärin angestellt. Sobald die erwähnte juristische Regelung der KOVOSS feststeht, wird für den Dachverband eine Sekretärin (etwa zu 30 Prozent) gesucht. Auch die Amtszeit des VOS-Präsidenten Ephrem Bucher lief ab. Sein Amt übernimmt Peter von Sury, Abt von Mariastein. Neu in den Vorstand kommt Agostino Del Pietro, Provinzial der Kapuziner. Verabschiedet hat sich ebenfalls der demnächst emeritierte Basler Weihbischof Martin Gächter, der die Bischofskonferenz bei den Ordensobernvereinigungen vertreten hat. «Es war eine Freude, bei euch zu sein», gestand er.

Sistierte Pastoralkommission

Nach jahrzehntelanger, intensiver Arbeit wird die Pastoralkommission/PK der Ordensobernvereinigungen sistiert. Ihr letztes grösseres Werk war die Organisation des Ordenstages vom kommenden 10. September in Bern. Im Jahresbericht der KOVOSS’CORISS heisst es dazu: «In Zukunft wird die PK für bestimmte Aufgaben als Arbeitsgruppe reaktiviert, eventuell mit personeller Verstärkung, je nach Auftrag.» Die VOS-Jahresversammlung liess sich auch über das Projekt «Transeamus» informieren. Ordensgemeinschaften in der Phase der Auflösung sollen Hilfen angeboten werden. Konkretes konnte noch nicht geplant werden. Ebenfalls in der Phase der Planung ist der von der Bischofskonferenz ins Auge gefasste «Fonds für Auszahlungen an Opfer sexueller Übergriffe durch kirchliches Personal». Die VOS unterstützt den Plan, ohne sich jedoch auf bestimmte Formen der Kooperation festzulegen.

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Jahr der Orden

Nach kurzer Diskussion beschlossen die in Delsberg versammelten Äbte und Provinziale, Beiträge zum «Jahr der Orden» zu leisten. (Man wählte diese Formulierung, weil «Jahr des geweihten Lebens» für die öffentliche Wahrnehmung zu wenig griffig ist.) Der anwesende Hauptverantwortliche der Information kirchliche Berufe/IKB, Thomas Leist, versprach tatkräftige Unterstützung. Demnächst sollen ein attraktives Logo und ein ebensolches Motto kreiert werden. Die Angebote sind auf einen Tag zu konzentrieren, damit sie von den Medien besser beachtet werden. Selbstverständlich ist es nicht verboten, auch an andern Tagen etwas anzubieten

Walter Ludin

Walter Ludin

Br. Walter Ludin ist Kapuziner und schreibt als Journalist BR für verschiedene Medien. Er lebt im Kloster Wesemlin in Luzern.