«Nicht wir machen Kirche»

Martin Grichting, Delegierter des Apostolischen Administrators des Bistums Chur, macht sich Gedanken über die vielerorts angegangenen Projekte zur «Erneuerung der Kirche».

Politische Parteien sind ihren Wählern verpflichtet. Wenn diese die Veränderung des Parteiprogramms mittragen, ist an einer politischen Kehrtwende nichts Unrechtes.

Der Kirche kann man jedoch nicht auf diese Art und Weise eine Programmreform verordnen. Sie würde dadurch zerstört. «Gibt es also in der Kirche Christi keinen Fortschritt der Religion?», fragte schon im 5. Jahrhundert Vinzenz von Lérins. Seine Antwort: «Natürlich soll es einen Fortschritt geben, und zwar einen sehr bedeutenden. […] Jedoch muss es wirklich ein Fortschritt im Glauben sein, und keine Veränderung» (Commonitorium, Kap. 23).

Gemäss Vinzenz soll die Religion der Seele die Gesetzmässigkeit des Körpers nachahmen: «Auch wenn dieser im Verlauf der Jahre seine Glieder entwickelt und entfaltet, bleibt er doch derselbe, der er vorher war. […] Es werden dieselben zu Greisen, die vorher junge Menschen gewesen waren.» So trete beim Greis nichts Neues zu Tage, was nicht vorher schon beim Knaben im Keim vorhanden gewesen sei. Wenn sich jedoch die menschliche Gestalt später in ein artfremdes Gebilde verwandle oder der Zahl der Glieder etwas weggenommen werde, gehe der Körper zugrunde oder werde zumindest geschwächt. Vinzenz folgert: «So ist es auch für die Lehre der christlichen Religion angemessen, diesen Gesetzen des Fortschritts zu folgen.» Wenn also etwas aus alter Zeit noch unausgebildet und unfertig sei, solle es von der Kirche näher ausgestaltet werden. Dies solle aber so geschehen, dass die kirchliche Lehre «unzerstört und unversehrt» bleibe. 

Vinzenz von Lérins hat damit treffend beschrieben, wie sich die Kirche und das, was sie im Auftrag des Herrn verkündet, erneuert. Reform der Kirche, derer sie stets bedarf, kann deshalb nicht bedeuten, dass eine andere Kirche entsteht, die andere Lehren vertritt. Vielmehr geht aus der wahren Reform dieselbe Kirche hervor, die nun aber besser für ihren Dienst im jeweiligen Heute aufgestellt ist. 

Wenn es derzeit wieder um «Erneuerung der Kirche» geht, darf sie auch heute in diesem Prozess nicht missgestaltet werden. Vielmehr muss sie darum ringen, das, was immer galt, tiefer zu durchdringen und neu so zu sagen, dass es von den Zeitgenossen besser verstanden und angenommen werden kann. Denn die Kirche verdankt ihre Existenz, ihr Wesen und ihre Botschaft nicht dem Gestaltungswillen ihrer Mitglieder, sondern unserem Herrn Jesus Christus. Was er am Anfang in sie hineingelegt hat, begründet ihr Wesen und ihre Botschaft. Und sie ist berufen, beides unter der Führung des Heiligen Geistes zu entfalten und auszudifferenzieren auf ihrem Weg durch die Zeit.

Von uns Gläubigen verlangt dies die Demut anzuerkennen, dass nicht wir die Kirche machen, sondern dass sie uns geboren hat. Sie ist uns ontologisch und zeitlich voraus. Deshalb ist sie für uns in ihrem Wesen und ihrer Lehre unverfügbar. Sie ist keine politische Partei, die eine von Menschen bestimmte Doktrin vertritt, sondern die Kirche Jesu Christi, gesandt zur Verkündigung seines Evangeliums.

Martin Grichting


Martin Grichting

Dr. habil. Martin Grichting (Jg. 1967) ist seit 2009 Generalvikar und seit letztem Jahr Delegierter des Apostolischen Administrators des Bistums Chur. Er gehört der Herausgeberkommission der Schweizerischen Kirchenzeitung an.