Nicht nur der Körper leidet

Wegweisende Ansätze für den Dialog von Medizin und Seelsorge

Körperliche Schmerzen sind nicht zu trennen von den Empfindungen, die sie hervorrufen. Psychotherapie und Seelsorge bieten Hilfe.

Das «Theologische Buch» ist diesmal von einem Psychiater verfasst. Trotzdem hat es eine unbestreitbare theologische Relevanz. Insbesondere den seelsorgerlich Tätigen ist es zur Lektüre wärmstens zu empfehlen. Für das interprofessionelle Gespräch vor allem im Gesundheitswesen erachte ich es als wegweisend.

Der Autor Daniel Hell ist als kritischer Angehöriger seiner eigenen Zunft auf der Suche nach der «Seele der Psychiatrie». Er setzt sich differenziert mit dem medizinischen Fortschritt auseinander, der einerseits unbestreitbaren Nutzen bringe und dazu selbstverständlich naturwissenschaftlicher Forschung bedürfe. Anderseits bekomme dabei die «Therapie körperlicher Strukturen und Funktionen [. . .] ein so grosses Gewicht, dass das Seelische zum Nebenschauplatz wird». Kritisch beleuchtet Daniel Hell den in der Medizin heute vorherrschenden Empirismus, welcher zu einer Marginalisierung, oftmals sogar Ignorierung des Seelischen führe. Demgegenüber plädiert Hell konsequent für einen Primat des Seelischen. Es gehe nicht nur um objektiv wahrnehmbare Körper und Organe, sondern auch und vorrangig um Befindlichkeiten wie Wohlbefinden und Leiden. Diese können nur subjektiv erlebt werden. Die Spannung zwischen Aussen- und Innenperspektive gelte es auszuhalten: Es gehe nicht an, «vorschnell und unsachlich körperlich Beobachtetes und seelisch Empfundenes miteinander zu vermischen». Was das heissen kann, illustriert der vorliegende Sammelband anhand des Leidens; der Fachrichtung des Autors entsprechend vorwiegend im psychiatrischen Kontext. Daniel Hell thematisiert das Leiden als existenzielle Grunderfahrung. Er zeigt auf, dass «Leiden etwas Umfassenderes ausdrückt als Schmerz: Ein Organ schmerzt, eine Person leidet.In Kenntnis neuster Forschungsergebnisse wagt es der Autor, sehr grundlegend darüber nachzudenken, was Menschsein in der Spätmoderne ausmacht. So stellt er etwa die ketzerische Frage: «Ist es angebracht, Wohlbefinden mit Gesundheit gleichzusetzen und entsprechend unserer ‹Wohlfühlgesellschaft› zum wichtigsten Element des Lebensglücks zu machen? »

Suche nach Heimat und Identität

Hell diagnostiziert eine weitverbreitete «Sehnsucht nach Ganzheit und Erfüllung». Viele Menschen litten in der heutigen offenen, pluralistischen Gesellschaft. Sie seien auf der Suche nach Heimat, Identität und Sicherheit. Der Autor erachtet es als hilfreich, wenn sie «in der verwirrenden Vielfalt von Eindrücken therapeutische Erfahrungen machen, die nicht von sich ablenken, sondern auf sich zentrieren».

Dabei weist Daniel Hell Psychotherapeuten und Seelsorgerinnen eine wichtige Aufgabe zu. Er versteht die beiden Disziplinen gleichwertig als «Überbrückungshilfe »: Mit sich selbst ringende, leidende Menschen brauchten «ein verständiges Gegenüber, gleichsam ein Hilfs-Ich, das das ‹Kern-Selbst› des verzweifelten Menschen im Blick behält, auch wenn Ohnmacht, Schmerz oder Lebensschutt es verdeckt halten».

Sich angenommen fühlen

In Übereinstimmung mit zentralen Anliegen der Seelsorge beschreibt der Psychiater «die Entstehung einer Art Resonanzraum, [in dem] sich der notleidende Mensch angenommen fühlt und neu erfährt». Explizit und konsequent stellt er Seelsorge und Psychotherapie auf die gleiche Höhe. Er bleibt bei seinem Leisten und argumentiert als Psychiater Psychotherapeut. Aber er scheut sich nicht, unter Rekurs auf Romano Guardini, Dietrich Bonhoeffer und Manfred Priner auch wesentliche Aspekte des jüdischchristlichen Erbes zu benennen. Sowohl Psychotherapeutinnen als auch Seelsorgern schreibt er ins Stammbuch, «Verständnis dafür zu haben, dass die komplexe, multikulturelle und globalisierte Spätmoderne die Menschen herausfordert, sich immer wieder neu zu orientieren und ihre persönliche Identität nicht nur in Vergangenem zu verankern, sondern auch ständig wechselnden Anforderungen anzupassen». Kritisch anzumerken habe ich nur zwei Dinge. Erstens, dass das vorliegende Buch als Sammelband zwar eine eindrückliche Bandbreite von Themen aufgreift, aber die Stringenz einer Monographie vermissen lässt. Und zweitens, dass es noch keine Fortsetzung aus seelsorgerlicher Perspektive gibt. Das ist aber nicht Aufgabe des Psychiaters, sondern der theologischen Zunft.

Daniel Hell: Krankheit als seelische Herausforderung. Schwabe-Verlag, Basel 2013. 212 Seiten, Fr. 19.50.

Die «Reformierte Presse» und die «Schweizerische Kirchenzeitung » stellen monatlich Bücher der besonderen Art vor.

Claudia Graf (Bild: luks.ch)

Claudia Graf

Dr. theol. Claudia Graf ist Spitalpfarrerin am Kantonsspital Luzern.