Neu interpretieren statt «verabschieden»

Widerspruch zu «Religiöse Sprache heute» von Dr. theol. Paul Zemp

Der verdiente Kollege und langjährige Fortbildungsbeauftragte hat sich in SKZ 182 (2014), 334.339, denkwürdige Gedanken zur religiösen Sprache gemacht, die weitgehend zutreffen, denen ich aber in einem Punkt grundsätzlich widersprechen möchte. Seine Thesen als Leiter einer zwölfköpfigen Projektgruppe der «Tagsatzung» gipfeln in «Kriterien für eine neue religiöse Sprache». These 5 heisst dort: «Gutes religiöses und christliches Sprechen verabschiedet sich von einer Tradition der Opfer- und Sühnetheologie, die den Menschen erniedrigt und das befreiende Gottesbild Jesu verrät» (ebd., 339). Bereits oben subsumiert Paul Zemp bzw. die Projektgruppe dieses Postulat unter den Kennzeichen der «religiöse(n) Lage heute» bei der «Theodizee-Frage: der abwesende Gott und das Leiden von Mensch und Natur: Abschied vom Opfer- und Sühnetod» (ebd., 334).

Wenn alle Formulierungen in Bibel und Liturgie zum «Opfer- und Sühnetod Jesu» «verabschiedet» würden, käme das einem unnötigen Kahlschlag in der religiös- biblisch-theologischen Sprache gleich und dispensierte uns von der mühseligen Arbeit der Aktualisierung und Neuinterpretation dieser bedeutungsschweren Redeweisen. Der Opferbegriff, auch in den Hindu-Religionen und in der buddhistischen Religion ein Zentralbegriff, hat dort eine spiritualisierte Neuinterpretation erfahren, aber noch lange nicht ausgedient. Für den Tod Jesu ist er ein Interpretament unter vielen anderen. Neuere Vorschläge etwa von Alexander Gerken oder der Synode 72 (Anton Hänggi, Silja Walter u. a.) in den Kanones der Synode Schweiz übersetzen «Opfer Jesu» mit dem viel verständlicheren Begriff «Hingabe Jesu», ferner mit «Gedächtnis unserer Versöhnung» oder mit «Werk deiner Liebe». Die Thematik wurde auch am Katholikentag in Regensburg verhandelt, wo ausserdem auf poetische Neuübersetzungen hingewiesen wurde. Ratsam ist ferner etwas mehr Achtsamkeit und Respekt gegenüber der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament, in denen die beiden Begriffe häufig und sinnträchtig vorkommen. Statt sie zu verabschieden, schlage ich vor, Brücken zu bauen von diesen Begriffen zu neuen verstehbaren Umschreibungen, die weniger missverständlich sind und den Bedeutungsüberschuss definieren. Ein simples Vergeltungsdenken oder gar das Bild eines rächenden Gottes sollte vermieden werden. Da stimme ich Paul Zemp durchaus zu.

Der evangelische Theologe Rudolf Bultmann (1884–1976) hat sich vor geraumer Zeit der Säkularisierung und Entmythologisierung gewidmet. Hierbei befasste er sich u. a. mit dem zentralen Begriff «Auferstehung » in Bibel und christlicher Theologie. Da er sich diesem Begriff im Kontext des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht annähern konnte, hielt er diesen Begriff für Zeitgenossen für unbrauchbar, für inkompatibel mit dem derzeitigen Weltbild, und disqualifizierte alle Aussagen über die Auferstehung als «erledigt». Allerdings sind ihm die meisten Theologen auf evangelischer und katholischer Seite nicht gefolgt. Der Begriff «Auferstehung» wurde nicht aus den biblischen Geschichten «verabschiedet» oder «getilgt». Immer neu versuchen Predigerinnen und Prediger, Theologinnen und Theologen an Ostern und wann immer das Geheimnis der Auferstehung und das Zentrum des christlichen Glaubens zu ergründen und heute neu zu sagen ist. Genauer: Man versucht die mit Ostern verbundenen Erfahrungen der Frauen und der Jünger mit Erfahrungen von heutigen Menschen zu korrelieren. Die Frage lautet: Was heisst es heute, von Ostern zu reden? Was bedeutet die theologische Aussage, dass Jesus Christus auferstanden ist? – Hier zeigen sich ein paar Merkmale der religiösen Sprache. Sie hat beispielsweise symbolischen Charakter; sie baut auf der Alltagssprache auf, überschreitet sie aber, sie hat einen Bedeutungsüberschuss, weil sie mehr als Beobachtbares aussagt. Sie ist in Sprachspielen verankert, und sie kennt auch «Familienähnlichkeiten». Die religiöse Sprache ist mehr als bloss informatives Reden; sie engagiert die Sprechenden, hat performativen Charakter und involviert mehr als naturwissenschaftliche oder formale Sprachen. (Mehr dazu bei G. Gadamers Hermeneutik der «Horizontverschmelzung» oder beim späten Wittgenstein, bei John Austin, John Searle, D. D. Evans, Wim A de Pater u. a.)

In Liturgie und Verkündigung sind wir sensibel geworden für eine angemessene verständliche Sprache. Die Zuhörenden danken es uns. Einige religiöse Begriffe sind missverständlich, weil mehrdeutig geworden: Die Begriffe Schöpfung, Sünde, Schuld, Opfer, Kreuz und Sühne gehören dazu. Es sind alles elementare Begriffe der Bibel und der Überlieferung, die lange Zeit selbstverständlich klar und verständlich waren. Heute ist es unsere Aufgabe, den Sprachgebrauch so zu justieren, dass unsere Sätze der Ursprungsbedeutung gerecht werden und Brücken bauen zum modernen Hören und Begreifen. Deshalb: Neu interpretieren statt «verabschieden». Wichtige Begriffe umschreiben, verflüssigen, aber nicht aufgeben.

Stephan Leimgruber

Stephan Leimgruber

Dr. Stephan Leimgruber ist seit Februar 2014 Spiritual am Seminar St. Beat in Luzern und zuständig für die Theologinnen und Theologen in der Berufseinführung. Bis zu seiner Tätigkeit in Luzern war er Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät in München.