Namenlose verfolgte Christen

In der Nazi-Nomenklatur hiessen sie «jüdische Mischlinge». Überwiegend waren sie getauft. Die Kirchen standen ihren aus Rassegründen verfolgten Mitgliedern kaum bei während und nach dem Kriege. Bis heute sind diese Menschen und ihre Nachkommen kein Thema. Es fängt schon bei der Bezeichnung an. Wer oder was sind diese Menschen nun: Getaufte Juden, Christen und Christinnen jüdischer Herkunft, Judenchristen? Und was ist mit getauften Menschen, die zwar aus Rassegründen verfolgt wurden, sich jedoch nicht mehr als Christen verstehen? Gemeinsam ist allen, dass sie aus mehr oder weniger traumatisierten Familien stammen. Auch in der Schweiz gibt es nicht wenige davon: Einige kamen während des Krieges, als Flüchtlinge, andere danach, weitere später aus Ländern wie Ungarn oder der damaligen Tschechoslowakei. Die meisten schweigen ausdauernd über ihr Schicksal; die Kirchen tun dies ebenfalls. Nur wenige Menschen aus der Pfarrei unterstützten die Familie. Nachhaltigen Widerstand gegen die rassistische Gesetzgebung und staatliche Verfolgung der Juden wie sogenannter «Mischlinge» gab es allgemein kaum seitens der Kirchen. Auch Pfarrer wurden aufgrund der Rassengesetze entlassen. Ein Teil der evangelischen Landeskirchen schlossen Christen jüdischer Abstammung seit 1939 aus und verboten Judentaufen. Die bekennende Kirche versuchte, sogenannte Judenchristen über das Büro Grüber zur Ausreise zu verhelfen, auf katholischer Seite tat dies der Caritas-Verband unter Gertrud Luckner.

Leidvolles Schweigen

Johann1 engagierte sich nach dem Krieg stark in einem privaten «Hilfskomitee für Judenchristen». Dieses unterstützte verfolgte Christen jüdischer Herkunft. Manche kamen aus KZs, andere waren krank, hatten die Wohnung usw. verloren. Die Überlebenden erhielten auch nach dem Krieg kaum Hilfe von kirchlicher Seite. «Das alles lief für diejenigen, die unter den Nazis als Halb- oder Vierteljuden eingestuft worden waren, auf die Erkenntnis hinaus, dass ihr damaliger Mischlings-Status, wenn sie ihn offenbarten, ihr Zusammenleben mit ihren deutschen Mitbürgern nur komplizierter machen würde. Ihre Vergangenheit wegzuradieren oder zu retuschieren, schien der beste Ausweg zu sein (…). Zum einen zwang sie sie, ihre Vergangenheit zu verleugnen. Bei vielen funktionierte die Strategie viele Jahre lang. Viele haben jedoch für diese Entscheidung einen schweren Tribut entrichten müssen.»2 Wer in der Schweiz lebte schwieg ebenfalls. Johann engagierte sich weiter in der katholischen Kirche, auch nach seiner Übersiedlung in die Schweiz mit seiner Familie. Die Karfreitagsbitte für die «perfiden Juden» traf ihn aber jedes Mal! Über seine Herkunft und die Verfolgungen sprach er oft, jedoch nicht ausserhalb der Familie. Die Angst blieb sein dauerhafter Begleiter. Und die Vorstellung, dass man, wenn man schon gegen alle Vernunft überlebt hatte, sich für andere einzusetzen hatte. Dies ist, wie Trent feststellt, ein häufiges Verhalten. «Zahlreiche frühere Mischlinge leiden unter Schuldgefühlen, weil sie den Holocaust überlebt haben und so viele jüdische Verwandte nicht. Historiker, die mit überlebenden Mischlingen sprechen, erleben häufig, dass die Betreffenden die Diskriminierungen und die Entbehrungen, denen sie ausgesetzt waren, herunter spielen. Es handelt sich dabei um eine mischlingsspezifische Sonderform der ‹Schuldgefühle der Überlebenden›.»3 Heute ist Johann in einer Pflegeinstitution. Im hohen Alter kam sein Trauma mit aller Kraft zurück. Zuerst konnte sich dort niemand seine Reaktion erklären. Denn diese Gruppe Betroffener kennt man ja kaum!

Das Erbe

Johanns Tochter studierte katholische Theologie, das Verhältnis Kirche-Judentum war ihr sehr wichtig. Nach dem Konzil wurde «Nostra aetate» zum Lichtblick für sie. Die Karfreitagsbitte verschwand aus dem Gottesdienst. Es blieben allerdings weitere Fragen. Die junge Frau arbeitete wissenschaftlich zum Antijudaismus der Kirche. Was sie dort entdeckte – etwa bei den Kirchenvätern – vergrösserte den Zwiespalt. Sie verstand sich als Brücke zwischen Kirche und Judentum. Und erinnert daran, dass Therese von Avila, die von ihr sehr geschätzt wird, auch aus einer Familie getaufter Juden stammt. Es stellen sich der Theologin aber bis heute Fragen: «Es zeigt sich, dass die neue Einstellung zum Judentum zwar in Fachkreisen der Kirche Allgemeingut, an der Basis aber noch nicht wirklich angekommen ist. Ich erlebte antisemitische Attacken in kirchlichen Kreisen, nicht gegen mich persönlich, da ich mich ja nicht outete, doch sie gaben mir zu denken.»

Herkunft als Erbe

Kinder und Enkel aus betroffenen Familien tragen ihre Herkunft als Erbe. Manche merkten immer, dass «da etwas nicht stimmt mit der Familie», trotz Kirchenmitgliedschaft. Da werden etwa jüdische Feste – ohne sie beim Namen zu nennen – begangen. Es stellen sich (auch seelsorgerlich relevante) Fragen: Wieviel Jüdisches und wieviel Christliches bestimmte damals und bestimmt heute die Identität der Betroffenen und ihrer Nachkommen? Sind sie eine Mischung von beidem, etwas ganz Neues, oder spielt das Ganze keine Rolle (mehr) für ihr Leben? Wie definieren sie sich? Nach dem Tod der ersten Generation treten viele nun auch konkret ihr Erbe an – etwa Schachteln mit Fotos von Personen, die sie nicht kennen. Oder es tauchen Verwandte auf, über die nie gesprochen wurde. Andere erleben, dass alte Eltern trotz ihrer Taufe auf dem jüdischen Friedhof bestattet werden wollen. In der Altersseelsorge ist kaum jemand auf diese Fragen und Probleme vorbereitet. Die Familien erhalten auch sonst wenig Unterstützung, sie wissen meist auch nicht, wo sie psychologische Hilfe suchen sollen. Eine bedeutende Anzahl der Enkel wendet sich wieder dem Judentum zu; vielleicht auch, weil sie in den dortigen Gemeinden mehr Verständnis für ihre Familiensituation und die Traumata, die meist dazu gehören, finden. Allerdings zeigt sich hier ein anders Problem: Jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter/Grossmutter hat. Die Taufe spielt dabei eine nachgeordnete Rolle. Er/sie kann nach dem Kirchenaustritt wieder einer jüdischen Gemeinde beitreten, als Frau zusammen mit den Kindern. Wer aber väterlicherseits jüdischer Abstammung ist, muss einen sehr komplizierten meist mehrjährigen Konversionsprozess durchlaufen! Nach den Jahrzehnten des Schweigens ist es Zeit, den Betroffenen eine Stimme zu geben. Im Herbst trafen sich erstmals einige in der Schweiz, ein kleiner Anfang. Die Kirchen sind nun gefragt.


Rassisch verfolgte Christen in der Nazizeit

Der vom Staat 1934 verlangte «Ariernachweis» galt auch für getaufte Juden. Wer mit einem nichtjüdischen «arischen» Ehepartner und Kindern aus einer solchen Ehe lebte, war in einer «privilegierten Mischehe» in einem gewissen Mass geschützt. Menschen mit zwei jüdischen Grosseltern hiessen Halbjuden, mit einem Grosselternteil Vierteljuden. Diese Terminologie galt nur für Angehörige in Deutschland – ca. 72 000 waren damals Halb-, 40 000 Vierteljuden (Volkszählung im grossdeutschen Reich 1939). Sie wurden (vorläufig) nicht deportiert, jedoch massiv verfolgt im Bereich von Schulen, Bildung, Berufen, Heiraten. Im Warschauer Ghetto gab es mehrere Kirchen. Am Ende des Kriegs lebten um die 4000 «nichtarische » Christen im KZ Theresienstadt. Edith Stein, katholisch getaufte Philosophin und Nonne, wurde 1942 in Auschwitz als Jüdin umgebracht. Der evangelische geistliche Liederdichter Jochen Klepper nahm sich mit seiner getauften jüdischen Frau und deren Tochter aus erster Ehe vor deren erwarteten Deportation das Leben.

Nachkriegszeit

In der Nachkriegszeit erhielten die «Judenchristen » kaum Hilfe. Ausnahme war Rabbiner Arthur Michelson (First Hebrew Christian Synagogue). Viele Verfolgte blieben wie auch die Kirchen beim Schweigen. Bis heute erinnern nur wenige Kirchen an das Schicksal dieser Kirchenmitglieder und ihrer Angehörigen, es existieren kaum Gedenkbücher oder -tafeln usw.

Psycho-soziale Unterstützung heute:

Der halbe Stern

Für Menschen, die unter dem NS-Regime aufgrund ihrer jüdischen oder teiljüdischen Herkunft verfolgt wurden, Christen jüdischer Herkunft, Partner und Partnerinnen in sogenannten Mischehen oder «Mischlinge» und ihre Angehörigen. Venloer Strasse 46, 50672 Köln, Telefon 0049 221 55 00 838, E-Mail , Homepage www.der-halbe-stern.de/start.htm

Tamach

Psychosoziale Beratungsstelle für HolocaustÜberlebende und Angehörige in der Schweiz (unabhängig von der Religionszugehörigkeit), Postfach 1501, 8021 Zürich, Telefon 044 202 56 58, Fax 071 244 29 35, E-Mail

Projekt «Verfolgte Christen jüdischer Herkunft»

Um diesen Menschen eine Stimme zu geben, wird ein Projekt zu «Religiöse Identität bei Christen jüdischer Herkunft, die unter den Nazis verfolgt wurden und ihren Familien» erarbeitet. Betroffene Personen der 1., 2. und 3. Generation äussern sich in Interviews zu ihren Erfahrungen, ihrem Umgang damit und ihrer Identität. Dazu kommen historische, therapeutische sowie theologische Aspekte. Auskunft und Rückfragen: christiane

Literatur

James F. Tent: Im Schatten des Holocausts. Schicksale deutsch-jüdischer «Mischlinge» im Dritten Reich. Köln-Weimar-Wien 2007; Carol Rittner u. a. (ed.): The holocaust and the christian world. Reflections on the past, challenges for the future. New York 2000.


Scheinbare Nebenthemen des Konzils und ihre Wirkung

Darüber referiert Prof. Dr. theol. Klaus Baumann (Dekan und Direktor des Arbeitsbereichs Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. B r.) am Samstag, 23. März 2013, von 9.30 bis 16 Uhr im Seminar St. Beat, Luzern (Kostenbeitrag inkl. Mittagessen: 50 Franken). Dies ist ein öffentlicher Anlass der Akademischen Arbeitsgemeinschaft AAG .

Anmeldung: Dr. Robert Huber, Telefon 041 370 60 50, E-Mail

1 Namen geändert

2 James F. Tent: Im Schatten des Holocausts, Schicksale deutsch-jüdischer «Mischlinge » im Dritten Reich. Köln- Weimar-Wien 2007, 317.

3 Ebd.

Christiane Faschon

Christiane Faschon

Christiane Faschon ist dipl. Religionspädagogin, Fachjournalistin (BR) und Dozentin.