Menschenwürde

Paolo Becchi: Il principio dignità umana. (Morcelliana) Brescia 2009, 122 S.

Der u. a. in Luzern lehrende Genueser Rechts- und Staatsphilosoph Paolo Becchi legt mit diesem Buch einen kurzen, luziden Überblick über die aktuelle Diskussion zum Begriff Menschenwürde vor. Es geht Becchi nicht darum, den Menschenwürde-Begriff zu analysieren – als Jurist steht für ihn die Verwendung dieses Prinzips in den ethisch-juristischen Diskursen im Fokus.

Aufschlussreich ist seine Gegenüberstellung der Präambel der italienischen Verfassung und jener des deutschen Grundgesetzes. Die italienische Verfassung statuiert, dass Italien eine Republik ist, die auf Arbeit gründet. Während die deutsche Formel von der Unantastbarkeit der Menschenwürde aus der naturrechtlichen Tradition zu verstehen ist und zunächst abstrakt bleibt, zielt der Rekurs auf den Begriff der Arbeit auf die gesellschaftliche Dimension, innerhalb derer Würde erst konkret wird. Arbeit ermöglicht die Entwicklung der Persönlichkeit und damit der Würde jedes Einzelnen.

In Italien wird bis heute viel weniger mit dem Menschenwürdebegriff argumentiert als in den deutschschprachigen Ländern, ja wer dort mit Menschenwürde argumentiert, wird, so Becchi, als «katholischer Bioethiker» apostrophiert. Der Autor, mit Publikationen zu Fragen des Lebensendes hervorgetreten, will dies ändern. Das Buch vermittelt den einschlägigen Diskussionsstand einem italienischen Publikum, stellt jedoch auch einen originellen Beitrag dar. Zum Beispiel da, wo es auf Bedeutung der Privatsphäre eingeht. Man kann einem Menschen die Würde nicht nur durch Folter nehmen, auch die öffentliche Diskreditierung seiner Person verletzt die Menschenwürde. Jeder Mensch hat nicht nur positiv ein Recht, für das respektiert zu werden, was er gesellschaftlich repräsentiert, sondern auch negativ für das, was er der Öffentlichkeit vorenthalten will. Je transparenter wir für die Öffentlichkeit werden, desto mehr wächst das Bedürfnis, jenen Kern an Intimität, der dem allgemeinen Blick entzogen bleiben muss, zu verteidigen (so Becchi auf S. 51). So seltsam es prima facie für mitteleuropäische Ohren klingen mag, Menschenwürde mit dem Arbeitsbegriff zu explizieren, so gut würde es namentlich den sich auf Kant berufenden Philosophen tun, Menschenwürde als einen in konkreten sozialen Zusammenhängen sich zeigenden Begriff zu denken. Die Reflexion auf die Menschenwürde führte dann eher zur Postulierung eines Rechts auf Arbeit denn zur Forderung nach einem arbeitsunabhängigen Einkommen, wie es heute bei uns en vogue ist. Jenseits von Erwerbsarbeit bedeutet eben auch jenseits sozialer Inklusion. Die Forderung nach einem Einkommen ohne Arbeit ist der konkret verstandenen Menschenwürde kaum dienlich.

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.