«Leaving no one behind/Niemand soll zurückbleiben» – diesem Slogan liegt das Bibelzitat aus Matthäus 25,40 zugrunde: «Alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan.» Der Slogan richtet sich an alle Minderheiten, Marginalisierten und Randgruppen und versteht sich als eine Vision von Einschluss und Zugehörigkeit aller Menschen (und Lebewesen). Zu den Marginalisierten gehören insbesondere Frauen und Mädchen in ländlichen Gebieten.
Neue defizitäre Situationen
Sylvie Durrer, Direktorin des Eidgenössischen Büros für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), eröffnete die zeitgleich zur Session laufende Nebenveranstaltung «Participation of Rural Women in Governance: Challenges and Opportunities» (Führungsteilnahme von Frauen im ländlichen Raum) mit dem Hinweis, dass 1933 – vor 85 Jahren – die erste internationale Frauenkonferenz in Stockholm stattfand.
Als 2012 die Rolle der Frauen im ländlichen Raum an der CSW thematisiert wurde, kam zum ersten Mal kein abschliessendes Konsensdokument zustande. Kontroverse Themen wie «Reproduktive Gesundheit und reproduktive Rechte von Frauen und Mädchen» spielten hinein, die inzwischen mehrheitlich integriert sind. Durch die Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals (SDGs) – 2015–2030) und die mit ihnen verbundenen global geltenden, universalen Zusammenhänge treten neue defizitäre Situationen für Frauen hervor, wie die Beispiele aus der Schweiz und Südafrika belegen.
Schweiz: Sensibilisierung ist notwendig
Auch in der Schweiz sind noch nicht alle Ziele der Vierten Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 umgesetzt. Gleiche Entlöhnung für gleiche Arbeit von Frau und Mann steht als ein nächstes Ziel an. Wie Durrer weiter ausführte, liege in der Landwirtschaft der Frauenanteil bei der Anzahl beschäftigter Personen bei 36 Prozent, wobei die Mehrheit der Frauen nicht entlöhnt wird (rund 56 Prozent der Partnerinnen von Betriebsleitern, gemäss Zusatzerhebung LBZ 2013). Für ihre rechtliche Stellung und soziale Absicherung müsse sensibilisiert werden.
Kathrin Bieri vertrat offiziell die NGOs in der Schweizer Delegation als Co-Geschäftsführerin des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands (SBLV). Diese Organisation gibt rund 58 000 Bäuerinnen und Landfrauen eine Stimme. Bieri schätzte die Vielfalt der erhaltenen Informationen und Kontakte aus aller Welt. «Viele Themen sind dieselben wie in der Schweizer Zivilgesellschaft. Zum einen geht es um die Teilhabe von Frauen an Regierung und Organisationen. Zum Beispiel sind in der Schweiz landwirtschaftliche Organisationen von Männern dominiert, die Entscheide fällen, welche die Bäuerinnen in den Betrieben ebenso betreffen wie die Männer. Deshalb möchten wir», erklärte Bieri weiter, «die Partizipation von Frauen fördern.» Die Wichtigkeit von Partizipation, Lohngleichheit, Zugang zu Land, Wasser und Recht ist das, was in vielen Beispielen der verschiedenen Länder deutlich wurde. Der Zugang von Frauen zu Krediten und zu Finanzierung ist ebenso ein wichtiges Kriterium zur Gleichstellung. Für den SBLV ist es ein wichtiges Ziel, die Situation der familieneigenen Mitarbeitenden zu verbessern. Die Mehrheit der Frauen der Betriebsleiter leistet unentgeltlich wichtige Arbeiten z. B. in der Hauswirtschaft, Kinderbetreuung, Buchhaltung und in weiteren Betriebszweigen; unentgeltliche Arbeiten, die einen Mangel an Sozialversicherungsschutz mit sich bringen (z. B. keinen Anspruch auf Mutter- schaftsversicherung und Arbeitslosenversicherung). Für diese Verbesserung und für die Sensibili- sierung für die Rechte der Frauen setzt sich der SBLV ein.
Südafrika: Traditionen vs. Gleichstellung
Ein Höhepunkt für die zu tausenden angereisten NGO-Delegierten bildete die Verleihung des «Woman of Distinction Award 2018» an die 72-jährige Südafrikanerin Sizani Ngubane. Sie stand im Jahr 1994 als engagierte Aktivistin der sozialdemokratischen Partei von Südafrika (ANC) vor einer neuen, demokratischen Gesellschaftsordnung: Mit der Wahl des ANC in die Regierung entschied sie sich für einen Wechsel zugunsten von Frauen in ländlichen Gebieten. Zusammen mit vier anderen ländlichen Frauen gründete sie die «Rural Women’s Movement» (RWM), die Landfrauenbewegung. 1998 verliess Sizani ihre Stellung als Genderspezialistin in der «Association for Rural Development», um ihre Anstrengungen als Genderspezialistin fortan auf den Aufbau der RWM zu richten.
Kein Recht, eigenes Land zu besitzen
Wie kam Sizani zu diesem Engagement, sie, die keine abgeschlossene Schulbildung vorzuweisen hat? Geboren ist sie in Pietermaritzburg. Ihre Mutter erfuhr häusliche Gewalt vom Ehemann und von männlichen Verwandten. Mit zehn Jahren wurde Sizani Zeugin davon, wie abträglich die Auswirkungen von geschlechterspezifischer Ungleichheit und ungerechtfertigter Belastung für Frauen sind. Sizanis Vater war als Wanderarbeiter in Johannesburg und verliess das von Sizanis Mutter geführte Haus für Monate. Während seiner Abwesenheit kam sein Bruder auf Sizanis Mutter zu und verlangte, dass sie das Haus verlasse und es ihm samt Land überlasse. Nach der Bantu Administration Act von 1927 und Bantu Authorities Act von 1951 wurden alle indigenen Frauen als Minderjährige betrachtet und konnten deshalb kein Land besitzen. Die Mutter und Sizani gingen zu ihrem traditionellen Führer und baten um Hilfe. Dieser antwortete, er würde ja gerne helfen, wenn Sizani ein Sohn wäre. Aber da sie ein Mädchen und ihr ältester Bruder noch zu jung sei, könne er ihr leider das Land nicht zuteilen. So wurden Sizani, ihre Mutter und vier Geschwister gewaltsam vertrieben und obdachlos. Sie suchten Zuflucht im Haus einer Tante. Zwei Jahre später schrieb Sizanis Mutter einem jungen männlichen Familienmitglied und bat ihn, sich zu ihren Gunsten einzusetzen. So konnte sie ein Stück Land erwerben. Sie zogen in das neue Haus ein, aber das Land gehörte juristisch ihrem jungen männlichen Verwandten, der sie jederzeit vertreiben und den Besitz zurückverlangen konnte. Sizani wusste, dass dies eine Ungerechtigkeit war und nahm sich vor, selbst etwas zu unternehmen, um diese zu beenden.
Entführt und zur Ehe gezwungen
Auf dem Lande herrschen heute noch traditionelle Bräuche, dazu gehört auch die erzwungene (frühe) Verheiratung von Mädchen. Durch Entführung werden Mädchen zur Ehe gezwungen. Sizani erzählte in ihrer Rede anlässlich der Preisverleihung ein aktuelles Beispiel: Von ihrer Grossmutter erzogen, wurde M. mit 14 Jahren nach der Schule durch einen Onkel in die Berge zu einem Mann entführt, der sie kaufen wollte. Sie wehrte sich, wurde jedoch geschlagen und vergewaltigt. Sie zwangen sie, einen Brief zu unterschreiben, dass sie ihn heiraten wolle, was sie aus Angst tat. Der Mann übergab dem Onkel acht Kühe. Es gelang M. später, durch eine List zu fliehen und zur Polizei zu gehen. Der Mann wurde verhaftet. Aus seiner Sicht handelte er gemäss der Tradition rechtens. Sizanis Frauenorganisa- tion setzte sich für dieses Mädchen ein.
Die Preisträgerin engagiert sich stark dafür, dass das heiratsfähige Alter von 14 auf 18 Jahre angehoben wird mit der Begründung, frühe (erzwungene) Ehen hätten nichts mit ihrer Kultur zu tun und seien kriminell. Sizani führte Workshops über «Mädchen und Menschenrechte» durch und hoffte, dass Frauen darin gegen erzwungene frühe Ehen aussagen würden. Stattdessen fingen diese jedoch an, sich auszusprechen. Sizani lud sie ein, in kleinen Gruppen zu fünft anhand eines Fragebogens darüber zu reden. Eine der Fragen war, ob sie zur Ehe gezwungen worden waren. 99 von 100 Frauen bejahten dies.
Sizani hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, blieb jedoch aus Überzeugung unverheiratet. Sie gilt als leuchtendes Beispiel und Rollenmodell für junge Mädchen und Frauen. Mit ihrem Leben zeigt sie, dass Frauen die vorgegebene Situation nicht selbst verschuldet haben, sondern vielmehr die Kraft haben, auszubrechen und ihre eigenen Ziele zu erreichen. Immer noch ist sie von viel Hoffnung erfüllt, was die Zukunft Südafrikas und der Frauen angeht.
Esther R. Suter