Kein Himmel ohne Erde

4. Sonntag in der Osterzeit: Offb 7,9.14b–17 (Apg 13,14.43b–52; Joh 10,27–30)

Der von der Perikopenordnung vorgesehene Text ist wiederum ein Hymnus und Bestandteil einer himmlischen Liturgie. Verortet ist diese himmlische Liturgie in einem irdischen Kontext. Offb 6,1–8,1 ist eine Analyse der geschichtlichen Realität. Der Hymnus gehört zum sechsten der sieben Siegel, die das Lamm öffnet. Die ersten vier Siegel beschreiben die Wirklichkeit. Vier Pferde stehen für die Unterdrückung: Der Reiter des weissen Pferdes symbolisiert das siegende Rom, dessen Siege aber durch den Bogen in der Hand des Reiters als besonders barbarisch qualifiziert werden. Der zweite Reiter auf dem roten Pferd steht für die Grausamkeit. Während der Reiter auf dem schwarzen Pferd mit der Waage in der Hand die erschreckende Inflation aufzeigt. Die Preise für die Güter des Alltags sind horrend und für die Armen praktisch unerschwinglich, diejenigen für Luxusgüter indessen bleiben unverändert. Der letzte Reiter schliesslich auf dem fahlen Pferd heisst Tod. Die vier Reiter zusammen lassen sich als Bestandteil eines tödlichen Systems sehen, dessen mörderische Art einigen wenigen dient, andere aber – es sind die sogenannten Feinde des Systems und die durch Krieg unterworfenen Völker – rücksichtslos ausbeutet und opfert. Etwas von dem, was das mörderische System verschweigt und unsichtbar macht, wird beim Öffnen des fünften Siegels sichtbar: Es sind diejenigen, die gemordet wurden «um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, das sie abgelegt hatten» (Offb 6,9). Sie schreien und fordern von Gott Gerechtigkeit: Wie lange n och? S ie e rhalten e in w eisses Gewand. Zugleich wird ihnen gesagt, dass sie sich noch eine kurze Zeit gedulden müssten. Auf diese Art werden die Toten, die die grausame Herrschaft fordert, aber als selbstverständlich hinnimmt und damit auch für belanglos erklärt, sichtbar gemacht und als Lebendige eingeschrieben in das Gedächtnis der Gemeinde. Beim Öffnen des sechsten Siegels (Offb 6,12–7,17) geht es um diese «noch kurze Zeit». Es ist die Zeit, in der der Verfasser lebt. Zunächst ereignet sich eine kosmische Katastrophe, die nichts mehr an dem ihm ursprünglich zugedachten Ort bestehen lässt. «Und die Könige der Erde, ihre Grossen und ihre Befehlshaber, die Reichen und die Mächtigen und jeder, Sklave und Freier, verbargen sich in den Höhlen …» (Offb 6,15). Diese Zeit ist eine Zeit der Entscheidung und des Gerichts. Sie betrifft alle, auch die Auserwählten – das gesamte Volk Gottes, dargestellt durch die 12 Stämme Israels –, die zum Schutz mit einem Siegel bezeichnet werden. Das Gericht hat also noch eine andere Dimension, eine Tiefendimension sozusagen, welche die kosmische Katastrophe für die Gemeinde lesbar macht (Offb 7,1–7,17).

Tiefendimension

Die Sonntags-Lesung setzt beim zweiten Teil dieser Tiefendimension ein: Johannes sieht «eine grosse Schar, die niemand zählen konnte, aus jedem Volk, aus allen Stämmen, allen Nationen und Sprachen» (Offb 7,9). Sie stehen vor dem Thron, tragen die Kleider der Märtyrer wie auch den Palmzweig in der Hand. Sie rufen (oder schreien karzein), dass die Rettung von Gott und vom Lamm kommt. In diesem Schrei klingt der Schrei des Volkes Israel an, das Gott zu seinem erlösenden Handeln motiviert (Ex 3,14). Das ist ein starker Schrei, zumal hier das Wort soteria in seiner Zuordnung zu Gott und Lamm als Gegenbegriff zu demselben im Herrscherkult verwendeten Begriff ist. Nicht vom Kaiser kommt Rettung, sondern von Gott. Es folgen Lobpreis und Anbetung. Die Weissgekleideten werden in V. 14 als jene identifiziert, die aus der grossen Bedrängnis kommen – was im Rahmen der Offenbarung nichts anderes heisst, als dass sie um des Wortes Gottes und um des Zeugnisses willen in diese Situation geraten sind. Dementsprechend sind die weissen Kleider in diesem Kontext nicht als Taufgewand zu interpretieren. Sie sind vielmehr Ausdruck einer Lebenshaltung, zu Gott zu gehören (Siegel). Solche Menschen stehen vor dem Thron (Offb 7,9). Diese Szene wiederum kontrastiert mit der Szene der kosmischen Katastrophe, bei der sich die Menschen wünschen, dass sie zugedeckt würden vor dem Angesichte dessen, der auf dem Thron sitzt, und vor dem Zorn des Lammes (Offb 6,16). Folglich ist diese Katastrophe auch Bestandteil der grossen Bedrängnis, in der sich die Weissgekleideten befinden. Die Szene im Himmel macht keinen Sinn ohne die Szene auf der Erde. Sie führt uns das Bewusstsein der in Bedrängnis Geratenen vor und zeigt, was deren Widerstand ermöglicht. Es ist die himmlische Gewissheit, «dass die Rettung bei unserem Gott steht». Sie ist es, welche die kosmische Katastrophe auslöst. Das mag in der konkreten historischen Situation zwar niemand sehen, denn wer wird schon dieses kleine Grüppchen von «Christen» zur Kenntnis nehmen, das ja nur am Rande eine Rolle spielt. Dennoch wird dieses kleine Grüppchen verfolgt und mit dem Tode bestraft, also wird es doch als gefährlich und subversiv eingestuft. In den Augen der herrschenden Klasse mögen es Spinner sein. Aber deren Gedankengut hat etwas in sich, das die Eliminierung der Anhängerinnen und Anhänger als politisch klug geraten sein lässt. Aus der Sicht der Verfolgten sieht es anders aus: Wenn die Rettung allein von Gott kommt, dann hat keine irdische Macht das Recht, sich als göttliche Macht aufzuspielen. Es ist die Absage an jeden Herrscherkult mit all seinen Implikationen. Zwar könnte man sagen, dass man ja dem Kaiser durchaus göttliche Ehren entgegenbringen könnte, wenn man ihn nur nicht als Gott anerkennt. Das heisst, man opfert ihm, indem man tut als ob. Aber diese Argumentation greift zu kurz: Kaiserkult ist nicht einfach ein Kult, er ist ein System, das tief in die alltäglichen Beziehungen hineinreicht. Er ist sozusagen das Eintritts-Billett in die Gesellschaft. In diesem Sinne regelt er die gesellschaftliche Zugehörigkeit. Deshalb betrifft die grosse Katastrophe alle, angefangen bei den Reichen, Grossen und Mächtigen bis hin zu den untersten gesellschaftlichen Chargen. Sie alle tragen dieses System mit, es sei denn, sie widersetzen sich ihm aktiv. Im Unterschied zu ihnen sind diejenigen, die sich weigern, mit einem Siegel bezeichnet. Ihre Zugehörigkeit ist eine andere. Erkauft mit Christi Blut sind sie jene, die teilhaben an der Königsherrschaft. Sie sind ein geschwisterliche solidarische Gemeinschaft. Es ist eine grosse Schar, die niemand zählen kann. Rang, Name und Herkunft spielen keine Rolle. Es folgen die grandiosen prophetischen Bilder: Das Lamm wird ein Zelt über ihnen aufschlagen. Sie werden weder hungern noch dürsten, noch wird Sonne und Hitze ihnen schaden (vgl. Jes 49,10). Nicht ein Hirte, sondern das Lamm wird sie weiden, es wird sie zu Quellen lebendigen Wassers führen. Gott wird abwischen jede Träne.

Mit Johannes im Gespräch

Johannes nimmt sich Zeit, die Realität zu analysieren. Er spricht nicht einfach über ein «noch nicht», sondern zeigt auf, wie dieses «noch nicht» ausschaut. Er verkündet nicht einfach den Sieg des Lammes, sondern macht deutlich, was diese Haltung auf Erden bewirkt. Ich denke, dass er damit auch uns Heutigen sagen könnte, dass mit Auferstehung nicht einfach ein Geschehen gemeint ist, das uns aus der Geschichte hinauskatapultiert. Auferstehung soll hier und jetzt und heute wirksam sein.

 

Hanspeter Ernst

Hanspeter Ernst

Der Theologe und Judaist Hanspeter Ernst ist Geschäftsleiter der Stiftung Zürcher Lehrhaus – Judentum, Christentum, Islam