Jesus Christus – Ikone für die Menschen

Wir sollen uns von Gott kein Bild machen. Doch sehnen sich die Menschen danach, das Angesicht Gottes zu sehen. In Jesus Christus wird dies möglich – wer ihn sieht, sieht den Vater.

Christusikone in der Kirche Kosmas und Damian in Illioupolis. (Bild: Stefanos Athanasiou)

 

Die Christusikone ist nicht nur eine Ikone unter anderen, sondern in gewisser Weise der Ursprung der gesamten Ikonentradition. Die Sehnsucht nach dem Angesicht Gottes durchzieht das Alte Testament: «Mein Herz denkt an dein Wort: Sucht mein Angesicht! Dein Angesicht, Herr, will ich suchen. Verbirg nicht dein Gesicht vor mir» (Ps 27,8-9). Im Angesicht Jesu ist uns das Angesicht des lebendigen Gottes erschienen: «Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen» (Joh 14,9). Wie sollten Christen nicht von Anfang an ein lebendiges Interesse daran gehabt haben, nicht nur allgemein von der Person Jesu zu wissen, sondern sein Gesicht sehen zu können? Jesus selbst schenkte Veronika an seinem Kreuzweg einen Gesichtsabdruck in dem Schweisstuch, das sie ihm überreichte. Das «Volto Santo» («heiliges Angesicht»), das in Manopello in Italien verehrt wird, ist der Überlieferung nach dieses Schweisstuch. Und das Grabtuch von Turin, das in den Gesichtszügen mit dem Heiligtum von Manopello übereinstimmt, wurde durch alle Jahrhunderte verehrt.

Auf der Suche nach dem Antlitz Gottes

Der Legende nach entstand die erste Ikone Christi bereits zu seinen Lebzeiten. König Abgar V. von Edessa1, der an Aussatz erkrankt war, schickte seinen Diener zu Jesus mit der Bitte, zu ihm zu kommen und ihn zu heilen. Falls Jesus nicht kommen könnte, bat Abgar seinen Diener, ein Porträt von ihm zu malen und mitzubringen. Als Jesus von der Bitte des Königs erfuhr, nahm er ein weisses Tuch, wusch sein Gesicht und trocknete es mit dem Tuch, auf dem sich ein Abbild seines Angesichts einprägte. Dieses «nicht von Menschenhand gemachte» Bild (Acheiropoieton) wurde viele Jahrhunderte hindurch in Edessa aufbewahrt und im 10. Jahrhundert feierlich nach Konstantinopel überführt, wo es in der Kreuzfahrerzeit verloren ging.

Wir sind nicht auf die historische Überprüfung dieser Legende angewiesen. Wo Paulus verkündigt, wer Christus ist, nennt er ihn «das Bild des unsichtbaren Gottes» (Kol 1,15; vgl. 2 Kor 4,4) und verwendet das griechische Wort «eikon», das dem Wort «Ikone» zugrunde liegt. Wir werden erinnert an den Schöpfungsbericht, der davon spricht, dass Gott den Menschen als sein Abbild und ihm ähnlich erschuf. Im griechischen Text heisst es: «kat' eikona kai kath' omoiosin» («nach Bild/Ikone und Gleichnis» [Gen 1,26]). Wenn er uns Jesus, den Christus, als Ikone Gottes vor Augen stellt, dann hört der Jude Paulus zugleich: Nun wissen wir wieder, was der Mensch in seiner Berufung zur Ikone sein kann. Das II. Vatikanische Konzil wird daher sagen: «Adam, der erste Mensch, war das Urbild des künftigen, nämlich Christi, des Herrn. Christus, der schlechthin neue Adam, macht eben in der Offenbarung des Mysteriums des Vaters und seiner Liebe dem Menschen selbst den Menschen voll kund und erschliesst ihm seine höchste Berufung» (Gaudium et Spes 22). Die Ikonen Christi tragen immer eine Wahrheit über den Menschen in sich.

Gott in den Grenzen des Endlichen

Doch die Ikonen als Darstellungen Christi waren nie völlig unumstritten. Rasch traten Fragen auf, die in der Regel nicht von Ungläubigen kamen, sondern von frommen Christen selbst. Nun, da Christus nicht mehr in Menschengestalt in unserer Mitte ist, hielten sie die Eucharistie für das einzig wahre und zuverlässige «Bild Christi». Das Glaubensbekenntnis selbst schreckte sie von der Verehrung der Ikone ab: Darstellbar ist doch nur die menschliche Gestalt Jesu – wie soll aber eine solche Darstellung zugleich den «unsichtbaren Gott» in ein Bild bringen? Im Jahr 787 gab das 7. Ökumenische Konzil, das Ost- und Westkirchen gemeinsam anerkennen, eine Antwort auf diese Frage: Die «Anbetung» gilt allein Gott, die Ikonen lenken uns im Glauben auf das Urbild und verdienen deshalb «achtungsvolle Verehrung». Aufschlussreich ist eine Bestimmung, die sich an den Lehrtext anschliesst: «Wer nicht bekennt, dass Christus, unser Gott, seiner Menschheit nach umgrenzt ist, der sei ausgeschlossen» (DH 606). Eine wesentliche Errungenschaft des Konzils liegt in der Bekräftigung, dass Gott durch seine Menschwerdung in die Grenzen des End- lichen eingegangen ist und hier wahrhaft gefunden werden kann. Seine menschliche Natur ist der Ort der Gegenwart des ewigen, unsichtbaren Gottes. Wir brauchen uns unserer eigenen Begrenztheit nicht mehr zu schämen, denn sie hindert Gott nicht daran, unter uns gegenwärtig zu sein.

Die Christusikone löst also eine doppelte Bewegung aus: Sie öffnet diejenigen, die sich glaubend und ehrfürchtig der Ikone nähern, für die Begegnung mit Jesus, dem Erlöser. Zugleich ermöglicht sie die Zuwendung Gottes in den Grenzen unserer Zeit. Der Betrachter wird zum Angeschauten, und im Blick Jesu erschliesst sich ihm seine eigene Berufung zur «Ikone», zum Abbild des Bildes Gottes. Auf einzigartige Weise wird dies in der Ikone Christus Pantokrator (Allherrscher) sichtbar, die sich heute im Museum des Katharinenklosters auf der Sinaihalbinsel befindet. Die Ikone stammt wohl aus dem 6. Jahrhundert und kam erst im Jahre 1962 wieder zum Vorschein, nachdem verschiedene Schichten von Übermalungen abgetragen worden waren. Bemerkenswert und typisch für Christusikonen ist die Asymmetrie zwischen den beiden Augen Jesu: Das rechte Auge ist auf den Betrachter gerichtet, das linke Auge blickt in die Weite und zugleich nach innen. Christus wird segnend dargestellt und trägt in der Hand das kostbar verzierte «Wort Gottes», das er selbst ist. So wird er dem Betrachter gegenüber zum Handelnden. Das angedeutete Kreuz im Heiligenschein Christ bildet ein Merkmal jeder Christusikone und wiederholt sich auf der Verzierung des Buches.

Geber und Gabe zugleich

Wegen ihrer Einladung zum kontemplativen Gebet gehören Ikonen eigentlich nicht in ein Museum, sondern in den Kirchenraum oder an einen besonders ehrfürchtig gestalteten Gebetsort in der eigenen Wohnung. Sie sollen auch nicht dem Scheinwerferlicht ausgesetzt sein, sondern sind eher für das flackernde Kerzenlicht gedacht, das die Gesichtszüge noch lebendiger erscheinen lässt und in Verbindung mit dem Gesang des Chors und dem Duft des Weihrauchs alle Sinne zum Gebet lenkt. Der bevorzugte Ort der Ikonen ist die Feier der Liturgie. Die Christusikone hat zusammen mit der Ikone der Mutter Gottes einen besonderen Platz neben der zentralen Tür der Ikonostase. Hier verbindet sich die Christus- ikone mit dem Bild Christi in der Eucharistie.

Die Eucharistiefeier selbst ist gleichsam eine «bewegte Ikone», weil sie als Abbild des Urbildes, also der himmlischen Liturgie gesehen wird. Sie eint im Handeln der Gemeinde die irdische und die himmlische Welt, den unsichtbaren Gott und die sichtbare Schöpfung, die Welt der Engel und die materielle, sinnenhafte Welt. Jesus Christus selbst handelt und befähigt uns zum Handeln in seinem Geist. Das zeigt die Ikone in der Kirche der heiligen Ärzte Kosmas und Damian in Ilioupolis, einem Vorort von Athen: Jesus Christus ist zweimal am Altar dargestellt und teilt den Aposteln im Beisein von Engeln die Kommunion aus. Er ist der Geber und die Gabe zugleich. Im Leib Christi, der Kirche, entfaltet sich unsere Existenz als «lebendige Ikonen Jesu Christi», der für uns die Ikone des lebendigen Gottes ist.

Stefanos Athanasiou

 

1 Stadt in der Türkei. Sie heisst heute Urfa.

 


Stefanos Athanasiou

Dr. Stefanos Athanasiou (Jg. 1981) ist Mitglied im erweiterten Direktorium des Zentrums St. Nikolaus für das Studium der Ostkirchen, Doktor und Dr. habil. (Theologische Fakultät Thessaloniki) der orthodoxen Theologie und ehemaliger Mitarbeiter am Institut für Christkatholische Theologie der Universität Bern. Derzeit ist er Lehrbeauftragter an den Theologischen Fakultäten in Freiburg i. Ue. und Chur.