«Jeder kann zum Frieden beitragen»

Angesichts der vielen Kriegsgebiete stellt sich oft eine gewisse Resignation ein. Was kann da ein Einzelner tun? «Viel», meint Cesare Zucconi, Generalsekretär der Gemeinschaft Sant‘Egidio.

Cesare Zucconi (r.) mit dem ehemaligen Oberrabbiner von Frankreich, René Samuel Sirat, bei einer von Sant‘Egidio organisierten Konferenz. (Bild: zvg)

 

SKZ: Die Gemeinschaft Sant’Egidio ist seit Jahren in der Friedensarbeit tätig. Wie ist dieses Engagement entstanden?
Cesare Zucconi: Es wurde aus der Freundschaft mit den Armen geboren. Sant’Egidio ist täglich gelebte Solidarität und Freundschaft mit den Armen. Sie sind keine Kunden, sondern Freunde, die zur Familie gehören. Jedes Mitglied von Sant’Egidio hat mindestens einen armen Menschen als Freund. Jeden Tag in der Nähe der Armen zu sein, ist in der Tat eine grosse Schule der Menschlichkeit, und das Hören auf die Schmerzen anderer hilft uns, alle Schmerzen tiefer zu erfassen. Die Armen sind die ersten Opfer des Krieges. Andrea Riccardi1 sagt, dass der Krieg der Vater aller Armut ist. In der Nähe der Armen zu sein, bedeutet deshalb auch, sich auf vielen Ebenen für den Frieden einzusetzen.

Können Sie das näher ausführen?
Die Armen erinnern uns täglich daran, dass diese Welt ungerecht ist und verändert werden muss. Nur dort, wo es Frieden gibt, kann es Gerechtigkeit geben. Und dann gibt es die Armen, die uns erklären, was Krieg ist. Wir haben den Horror des Krieges in den Augen vieler Einwanderer gesehen, die nach Europa kommen. Viele Freunde unserer Gemeinschaft, die in Ländern leben, in denen Krieg oder weitverbreitete Gewalt herrscht, wie beispielsweise in Afrika oder in Lateinamerika, erzählen uns davon. Heute gibt es die Gemeinschaft Sant’Egidio in über 70 Ländern der Welt und sie kennt daher den Krieg aus eigener Erfahrung.

Sant’Egidio ist heute ein international anerkannter Partner in der Friedensarbeit und wurde auch schon als «UNO von Trastevere» bezeichnet. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Konkret ging die Friedensarbeit aus der Vermittlung in Mosambik hervor, die nach mehr als zwei Jahren Verhandlungen von Sant’Egidio zwischen den Konfliktparteien einen Friedensschluss erreichte. Der am 4. Oktober 1992 in Rom unterzeichnete Frieden beendete einen sechzehnjährigen Konflikt, der eine Million Todesopfer gefordert hatte. Wir betreiben eine «Handwerksdiplomatie»: Es gibt keine versteckten Interessen, es gibt nichts zu gewinnen. Im Gegenteil. In den ersten Jahren mussten wir die Kosten für den Frieden alleine tragen. Wir vertreten niemanden und können mit jedem sprechen. Frieden muss mit dem Feind geschlossen werden, aber oft können Regierungen nicht mit diesem Feind sprechen. Wir aber können dies tun, diskret, zurückhaltend, informell, unabhängig, frei von Interessen, schrittweise andere Akteure einbeziehend, die zu einer positiven Lösung beitragen können. Wir haben weder militärische Macht noch Geld, um zu überzeugen. Und doch haben wir eine Kraft. Man könnte sie als «schwache Kraft» bezeichnen: moralisch, fähig zu überzeugen. Heute ist Sant’Egidio ein internationaler Partner, der in Synergie mit vielen Ländern und internationalen Organisationen für den Frieden arbeitet, jedoch mit seiner eigenen Besonderheit.2

Schlüsselworte der Friedensarbeit von Sant’Egidio sind Freundschaft, Dialog und Flexibilität.
Freundschaft, menschliche Beziehungen und die Fähigkeit, anderen zuzuhören, sind entscheidend für den Beginn eines Friedens- und Versöhnungsprozesses. Es stellt sich beispielsweise die Frage nach der «Pathologie der Erinnerung», mit der wir uns konfrontieren müssen und die oft jede Versöhnungsarbeit blockiert. In der Tat gibt es einen menschlichen Faktor – im Gegensatz zu den marxistischen Interpretationen der Geschichte –, der für die Entscheidung über Frieden und Krieg grundlegend ist. Es ist daher bei der Arbeit für den Frieden notwendig, einen echten menschlichen Kontakt herzustellen, zuerst auf die Schmerzen und die Gründe des Anderen zu hören und den kulturellen und politischen Horizont eines Führers oder einer Führungsgruppe zu erweitern. Es muss jedoch gesagt werden, dass die «einfachen» Werkzeuge des Dialogs, des menschlichen Kontakts und des politischen Denkens nicht unter dem Banner des «Umarmen wir uns» stehen. Es braucht artikulierte, komplexe, durchdachte Einigungen, die ein Verständnis der Gründe und Gefühle erfordern. All dies kommt nicht durch vorgefertigte Modelle oder auferlegte Lösungen zu den Verhandlungspartnern. Wir müssen mit viel Flexibilität und Geduld auf eine Lösung hin begleiten, die eine Wahl der Kämpfenden sein muss. Es darf nie zur Eile gedrängt werden, auch wenn sie notwendig wäre, um Leben zu retten.

Erzählen Sie uns von der «Jugend für den Frieden».
Die «Jugend für den Frieden» ist eine Bewegung von Sant’Egidio, die in 70 Ländern der Welt präsent ist. Sie möchte eine weltweite Freundschaft aufbauen: Brücken, welche die Mauern von Angst, Misstrauen und Ausgrenzung überwinden, die nicht nur unsere globalisierte Welt kennzeichnen, sondern auch das Leben in unseren Städten. Brücken zu älteren Menschen, zu Armen und Ausgeschlossenen, zu Immigranten usw. Unsere zersplitterte Welt braucht dringend Einigkeit. Frieden muss auf allen Ebenen beständig erkämpft werden. Er ist niemals ein Endprodukt, sondern die permanente Aufgabe aller, nicht nur der Regierenden. Jeder kann zum Frieden oder zum Krieg beitragen, angefangen bei den Jugendlichen.3

Und doch gibt es überall Krieg.
Der Kultur des Krieges muss eine Kultur des Friedens entgegenstehen. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Krieg zunehmend als etwas Unausweichliches, Normales betrachtet wird, ein nützliches Werkzeug zur Konfliktlösung. Doch gerade die Ergebnisse der letzten Kriege müssten einen Grabstein auf die Kriegskultur setzen. Denken wir an den Krieg in Afghanistan, wo wir nach Jahren des Krieges und des Todes jetzt die Verhandlungen zwischen Amerikanern, die demobilisieren wollen, und den Taliban erleben. Oder denken wir an Libyen. Die Konsequenzen des dortigen Konflikts sind uns allen vor Augen. Der Wettlauf um die Aufrüstung unserer Zeit ist ein Ausdruck dieser erneuerten Kriegskultur. Der orthodoxe Erzbischof von Albanien, Anastasios Yannoulatos, sagte, dass das Gegenteil von Frieden nicht Krieg sei, sondern Egozentrismus. Es ist sehr wahr: In einem Leben, das sich nur um sich selbst dreht, gibt es schon den Samen des Krieges. Das grosszügige und solidarische Leben dieser jungen Menschen hingegen enthält bereits den Samen des Friedens.

Ein anderes Engagement sind die «Schulen des Friedens».
Die «Schulen des Friedens» wurden vor 50 Jahren in den römischen Vororten gegründet und sind heute auf der ganzen Welt verbreitet. Wir müssen bei den Kindern beginnen, um Frieden zu schaffen. Wir müssen sie in der Schule des Friedens aufwachsen lassen, wo sie mit Kindern zusammenleben, die anders sind, und nicht in der Schule der Gewalt und des Misstrauens. Ich denke zum Beispiel an unsere Arbeit in Zentral- amerika, wo unsere Gemeinschaft mit den «Schulen des Friedens» Kinder aus den Schulen der Gewalt und des Todes der Maras holen, sehr gewalttätigen Jugendbanden, die Tod und Terror säen.

Wo ist Sant’Egidio aktuell engagiert?
Die Situationen, an denen wir in letzter Zeit stärker beteiligt sind, sind die Zentralafrikanische Republik, der Südsudan und Libyen. Es gibt aber auch noch andere Länder, insbesondere afrikanische. Und dann gibt es den Weg des interreligiösen Dialogs. Jedes Jahr organisieren wir ein grosses Treffen im «Geist von Assisi». Dieses Jahr werden wir Mitte September in Madrid sein. Es nimmt auch immer eine Vertretung unserer Gemeinschaft in der Schweiz, in Zürich und in Lausanne, teil. Wir führen diese Treffen seit 33 Jahren durch, seit diesem historischen Tag im Jahr 1986, der nicht einmalig bleiben konnte, sondern weitergeführt werden musste wegen des «Geistes von Assisi», ein Geist des Dialogs, des gegenseitigen Respekts und der Freundschaft zwischen Gläubigen verschiedener Religionen. Durch das gemeinsame Engagement für den Frieden und die Menschenwürde breitete sich dieser Geist in vielen religiösen und kulturellen Welten aus.

Interview: Rosmarie Schärer

 

1 Andrea Riccardi gründete 1968 die Gemeinschaft Sant’Egidio.

2 Siehe dazu: Morozzo della Rocca, Roberto, Wege zum Frieden. Die internationale Friedensarbeit von Sant'Egidio, Würzburg 2019.

3 Mehr zu den «Schulen des Friedens» in: Gulotta, Adriana (Hg.), In der Schule des Friedens. Kinder erziehen in einer globalen Welt, Würzburg 2018.

Sant’Egidio: wurde 1968 von Andrea Riccardi in Rom als Laienbewegung von Schülern und Studenten gegründet. Daraus ist ein Netzwerk von Gemeinschaften in über 70 Ländern der Welt entstanden, die sich besonders für die Menschen am Rande einsetzen. Die Grundpfeiler der Gemeinschaft sind das Gebet, der Einsatz für die Armen und für den Frieden. Der Hauptsitz ist in der Kirche Sant’Egidio in Trastevere (Rom). www.santegidio.org


Cesare Zucconi

Dr. Cesare Zucconi (Jg. 1962) wurde in London (GB) geboren und wohnt seit 1976 in Rom. Er promovierte in Politikwissenschaft an der staatlichen Universität La Sapienza in Rom. Seit 1994 übt er wissenschaftliche Tätigkeiten an verschiedene italienische Universitäten und bei einigen italienischen Stiftungen für historische Studien aus. Seit 1979 ist er Mitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio, seit 2008 Generalsekretär und Direktor für die Aussenbeziehungen.

 

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