Jan Hus - Vom Sieg der Wahrheit über das Recht

Papst Franziskus ist bekanntlich skeptisch, was den Beitrag der Theologie zur Ökumene angeht. Er beruft sich dabei auf ein Zeugnis der ökumenischen Bewegung selbst: «Ich kann mich an das erinnern, was [Patriarch] Athenagoras zu Paul VI. gesagt haben soll: ‹Schicken wir diese ganzen Theologen doch einfach auf eine Insel, wo sie sich die Köpfe zerbrechen können, und wir machen hier inzwischen alleine weiter!› Ich hatte gemeint, das sei eine erfundene Geschichte, aber Bartholomäus hat mir versichert: ‹Nein, es stimmt. Genau das hat er gesagt!›»1

Papst Franziskus macht sich die Aussage zu eigen: «Bei Ökumene nicht auf die Theologen warten», meldete kürzlich Radio Vatikan.2 «Wenn wir glauben, dass die Theologen sich einmal einig werden, werden wir die Einheit nach dem Jüngsten Gericht erreichen», sagte der Papst am 23. Mai 2015 in einer Videobotschaft zum «Tag der Christlichen Einheit» in der US-Diözese Phoenix. «Theologen sind hilfreich, aber am hilfreichsten ist der gute Wille von uns allen, die mit offenen Herzen für den Heiligen Geist auf dem Weg sind.»

Forschung im Dienste der Versöhnung

Für Jan Hus benennt Papst Franziskus jedoch ausdrücklich den konstruktiven Beitrag der Forschung. Beim Besuch einer Delegation der Böhmischen Brüder und der hussitischen Gemeinschaft in Begleitung des emeritierten Erzbischofs von Prag, Kardinal Miloslav Vlk, am 15. Juni 2015 forderte der Papst zu einem vertieften Studium von Person und Werk des Jan Hus auf. «Eine solchermassen ohne ideologische Beeinflussung durchgeführte Forschung wird ein wichtiger Dienst an der geschichtlichen Wahrheit und an allen Christen und der gesamten Gesellschaft auch jenseits der Grenzen eurer Nation sein.»3 Neben vielen Einzelforschungen hat diese Arbeit bewusst als Versöhnungsprozess begonnen, wegweisend in der ökumenischen «Kommission für das Studium der mit der Persönlichkeit, dem Leben und dem Werk des Magisters Johannes Hus verbundenen Problematik» bei der Tschechischen Bischofskonferenz, die von 1993 bis 1999 tagte und in ein wissenschaftliches Symposion im Dezember 1999 an der Lateranuniversität in Rom mündete. Bei dieser Gelegenheit drückte Papst Johannes Paul II. sein «tiefes Bedauern über den grausamen Tod von Jan Hus» aus.4

Die diesjährige Versöhnungsliturgie an den Apostelgräbern, zu der die tschechische Delegation nach Rom gereist war, die ökumenische Bussfeier in der Prager Teynkirche am 20. Juni 2015 und die vielen Gedenkfeiern unter Christen verschiedener kirchlicher Tradition zeigen gemäss dem Wunsch des Papstes Schritte «auf dem Weg des Friedens und der Versöhnung» und verbinden die «historische Wahrheit» mit der einenden Kraft der Liebe, die theologische Arbeit mit dem guten Willen und dem offenen Herzen.

Heutige Aufgaben

Doch wo liegen die Aufgaben? Was ist in der Geschichte des Jan Hus eigentlich zu klären? Der erste Schritt mag darin liegen, «dass unsere Kirche Jan Hus als glaubwürdige christliche Persönlichkeit anerkennt», so Weihbischof Hans-Jochen Jaschke bei einer ökumenischen Gedenkfeier am 13. Juni 2015 in Hamburg. Doch bei dieser quasi «menschenrechtlichen» Argumentation kann die Forschung nicht stehen bleiben. Weshalb ist eine «glaubwürdige christliche Persönlichkeit» verbrannt worden? Sollen wir nach dem Klischee des bösen Ketzers nun das komplementäre Zerrbild der korrupten, machtgierigen Kirche stilisieren, die sich des aufrechten Reformers entledigt?

Beide Extreme verweigern die eigentliche Aufgabe, Geschichte als einen unabgeschlossenen Prozess ernst zu nehmen, für den wir Mitverantwortung tragen: weil die Vergangenheit weiterwirkt und gerade dann Einfluss auf uns hat, wenn wir nicht um ihre Grenzen und kontextbedingten Weichenstellungen wissen; vor allem aber weil eine Wirkung von der Gegenwart auf die Geschichte ausgeht: Christen wissen, «dass es möglich ist, von einem späteren Zeitpunkt her den Sinn dessen, was früher, vielleicht vor Jahrtausenden geschehen ist, nicht nur auszudeuten, sondern geradezu zu stiften».5

Wo ist die Kirche Jesu Christi?

War es nicht wirklich zum Verzweifeln mit der Kirche? Seit 1378 gab es zwei Päpste, von denen einer die Obödienz der Avignoner Zeit repräsentierte, der andere die Obödienz der römischen Tradition. Selbst die Heiligen dieser Zeit wussten nicht, an welches Kirchenoberhaupt sie sich halten sollten. Seit dem Konzil von Pisa 1409 kam gar ein dritter Papst hinzu, Alexander V., dem 1410 Johannes XXIII. folgte. Dieser Papst hatte gegenüber Benedikt XII. und Gregor XIII., die in Pisa abgesetzt worden waren, zumindest eine gewisse kanonische Autorität auf seiner Seite und setzte sich, dem Drängen von König Sigismund folgend, für die Einberufung des Konzils von Konstanz ein. Neben der Frage der Einheit der Kirche (causa unionis) standen die dringlichen Fragen der Kirchenreform (causa reformationis) und der Rechtgläubigkeit (causa fidei) auf der Tagesordnung. Insbesondere die Verweltlichung des kirchlichen Verwaltungssystems mit seinem System von Pfründen, Abgaben und sonstigen Privilegien wurde zunehmend als anstössig empfunden. Gerade reformbereite Kreise in dieser Zeit fanden keinen eindeutigen äusseren Anhaltspunkt mehr, um die wahre Kirche Jesu Christi zu lokalisieren. Wer auch nur die Frage nach der Reform stellte, sah sich auf sich selbst und sein Urteilsvermögen zurückgeworfen.

Kein eindeutiges Urteil möglich

Ein kurzer Blick in die Quellen zeigt, dass in dieser Zeit niemand fähig war, ein eindeutiges Urteil über die Lage in Kirche und Politik zu fällen. Alle, die in dieser Welt verantwortlich zu handeln begannen, riskierten, Opfer der Widersprüche zu werden. Das Konzil von Konstanz stand vor demselben Problem wie Jan Hus: Seit dem frühen Mittelalter galt der Grundsatz: Prima sedes a nemine iudicetur – der Papst darf von niemandem gerichtet werden. Nun musste sich angesichts der drei Päpste im Konzil eine Urteilsinstanz konstituieren, die sich nicht auf die anerkannten Absetzungsgründe wie Häresie oder Geisteskrankheit berufen konnte. Die Frage «Wo liegt die Wahrheit des Glaubens?» verschob sich unweigerlich zu der Frage «Wer urteilt – und mit welcher Autorität?» Auch den Gegnern des Jan Hus war die schlichte Rückkehr zur alten Ordnung verwehrt:

– Als Papst Johannes XXIII. hoffte, seine durchaus plausible Vorrangstellung durch das Konzil bestätigen zu lassen, war sein Schicksal besiegelt: «Quis est iste ipse? Dignus est comburendus! – Wer ist denn er? Er verdient es, verbrannt zu werden!», rief Johannes von Rupescissa, Titularpatriarch von Konstantinopel, aus.6 Die Flucht von Johannes XXIII. konnte seine Verhaftung und Anklage nur verzögern. Man warf ihm Simonie, Sodomie, Vergewaltigung, Inzest, Folter und Mord vor. Seines Amtes enthoben, soll der ehemalige Papst in der Burg von Gottlieben inhaftiert gewesen sein, wo auch Hus seinem Todesurteil entgegensah. Dem Papst blieb der Scheiterhaufen erspart, nicht aber die Erniedrigung.

Jean Gerson, Kanzler der Pariser Universität, gehörte zu denen, die sich aktiv für die Überwindung des Schismas, für das Konzil und für die Reform der Geistlichkeit einsetzte. Trotz dieser Nähe zu den Anliegen des Jan Hus betrieb er dessen Verurteilung und Hinrichtung, nicht zuletzt aus politischen Gründen: Hus hatte in Anknüpfung an Wyclifs berühmten Artikel «Nullus est dominus» geschrieben, ein Papst, Bischof oder Prälat im Stande der Todsünde könne nicht wirklich Papst, Bischof oder Prälat sein.7 So unannehmbar bereits diese Aussage für die Konzilsväter war, so wurde sie noch überboten, indem Hus hinzufügte, auch ein König im Stande der Todsünde könne nicht König sein. Nun war neben der kirchlichen Hierarchie auch jegliche weltliche Autorität bedroht. In ohnehin instabilen Zeiten stand die Anarchie als Bedrohung vor Augen. Nicht nur theoretisch waren diese Thesen brisant: Der Franziskaner Jean Petit hatte versucht, die Ermordung von Herzog Louis von Orléans im Jahre 1407 durch Anhänger von Herzog Johann von Burgund als Tyrannenmord zu rechtfertigen. Gerson kritisierte diese Argumentation und musste sich nach dem Abschluss des Konstanzer Konzils 1418 der Verfolgung durch den Herzog von Burgund durch Flucht entziehen, kam aber mit dem Leben davon, da der Herzog 1419 starb.

Erzbischof Sbinko von Prag hatte sich in den Anfängen der Prozesse gegen Hus als treuer Kämpfer für die kirchliche Verurteilung Wyclifs in Böhmen erwiesen und wollte die römischen Urteile gegen Hus mit Entschiedenheit durchsetzen. Anfangs hatte König Wenzel IV. den Erzbischof aufgrund eigener Machtinteressen unterstützt: Er wollte auf den Königsthron des Reiches zurückkehren, von dem er im Jahre 1400 abgesetzt worden war, und ihm lag daher an einem «häresiefreien» Böhmen. Doch genau aus diesem Grunde liess er den Erzbischof schliesslich fallen, weil dessen Klage gegen Hus an der Kurie Böhmen ihn umso stärker wegen Ketzerei in Verruf brachte. Der vom Erzbischof selbst erbetene Schiedsspruch des Herrschers fiel gegen Sbinko aus. Der Erzbischof wurde verpflichtet, dem Papst mitzuteilen, «dass es im Lande keine Irrlehren gebe, lediglich strittige Fragen mit der Universität».8 Für Hus schien damit alles eine Wende zum Guten zu nehmen. Doch Sbinko sandte den entworfenen Brief nicht ab und starb auf der Flucht nach Ungarn, wo er sich unter den Schutz von König Sigismund stellen wollte. Der zum Greifen nahe Triumph des Jan Hus schlug in bittere Enttäuschung um.

Fehlende theologische Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten

Die Liste könnte fortgesetzt werden. Niemand blieb von den Flammen der Geschichte verschont, bis hin zu Johannes von Jessinetz, dem juristischen Berater von Jan Hus, dem die Verteidigung seines Freundes selbst die Anklage des Wyclifismus eintrug. Wie konnte man in dieser Zeit «richtig» handeln, «in der Wahrheit» sein? Man konnte es nicht. Wir können es auch heute nicht in voller Eindeutigkeit, denn für alle Zeiten gilt das Wort des Psalmisten: «Der Herr blickt vom Himmel herab auf die Menschen, ob noch ein Verständiger da ist, der Gott sucht. Alle sind sie abtrünnig und verdorben, keiner tut Gutes, auch nicht ein einziger …» (Ps 14,2–3). Daher ist die Frage an Hus auch die Frage an uns. Für das Eingeständnis der Unfähigkeit zur eindeutigen Wahrheit in intellektueller wie in moralischer Hinsicht fehlte in der Zeit des Hus eine plausible theologische Perspektive, verbunden mit einer plausiblen Handlungsmöglichkeit. Wir beobachten, wie verschiedene Deutungs- und Hand lungsoptionen auseinandertreten, sich gegeneinander affirmieren und aneinander scheitern. Stets lautet die Grundfrage: Wer urteilt – und mit welcher Autorität? Auf allen Seiten bestand die Tendenz, Eindeutigkeit für die eigene Autorität zu beanspruchen. Stephan Paletsch, einer der Hauptgegner von Hus, proklamierte schon vor dem Konstanzer Prozess die unhinterfragbare kirchliche Vollmacht, der ohne Einwände zu gehorchen sei.9 Johannes von Jessinetz überschüttete die Erklärung der Prager Doktoren 1413, man müsse den Prozessbeschlüssen gegen Hus folgen, weil der Prager Klerus sie gebilligt habe, mit einer Flut von Spott: «Man hätte dann dem Teufel zu gehorchen, weil Adam und Eva ihm gehorcht hätten, Pilatus hätte Christus zu verurteilen gehabt, weil die höchsten Priester und das Volk von Jerusalem ihn verurteilt hätten» usw.10

Der Aufschrei von Hus aus einem Gefühl der tiefsten Ungerechtigkeit ist verständlich. Der Magister der Theologie und Rektor der berühmten Universität Prag musste z. B. entschieden die Forderung zurückweisen, eine Definition der Kirche gutzuheissen, der zufolge der Papst das Haupt der Kirche und die Kardinäle deren Leib sind.11

Hus als Opfer seiner eigenen Prinzipien

Hus hat dieser auf ihrer Unantastbarkeit beharrenden Autorität drei Bezugspunkte entgegenzusetzen: 1) Christus als den höchsten und wahren Richter, 2) das bessere Argument, durch das er überzeugt werden will und das ihn selbst zum Richter erhebt; 3) das irdische Recht, mit dem er die von ihm erkannte Wahrheit durchzusetzen versucht. In einem ersten Schritt hatte Hus 1410 gegen die Bulle des Pisaner Papstes Alexander V., die Predigten «an privaten Orten» verbot und die Bethlehemkapelle als den Predigtort für Hus einbezog, noch «an den besser zu informierenden Papst» appelliert.12 Sobald ihm dieser Weg hoffnungslos erschien, formulierte er am 18. Oktober 1412 seine Appellation gegen das Urteil des päpstlichen Gerichts an das Gericht Christi.

Dieser Appell bringt paradoxerweise die Dreiheit seiner theologischen und praktischen Bezüge endgültig zugunsten der irdischen Gerichtsbarkeit aus dem Gleichgewicht. Der Rechtsexperte Jiří Kejř formuliert hellsichtig: «Es ist bemerkenswert, dass jener Prozess, der nach fünf Jahren zur Verurteilung des böhmischen Reformators in Konstanz und zu seinem Tod führen sollte, durch dessen eigenen juristischen Schritt ausgelöst wurde».13

Die «Causa Hus» ist offenbar nicht nur der zufällige äussere Rahmen für seinen Kampf um die Wahrheit, sondern das von ihm zu diesem Zweck gewählte und konsequent angewandte Werkzeug. Zu spät wird ihm deutlich, dass der Weg das Ziel verhindert und Hus als «glaubwürdige christliche Persönlichkeit» zum Verschwinden bringt, nicht erst auf dem Scheiterhaufen. Bereits 1410 beginnen die Verfahren, die sich schier endlos hinziehen, überlagern, widersprechen, gegenseitig unterlaufen und für ganz unjuristische Zwecke funktionalisiert werden. Die Aussage, Jan Hus sei das Opfer einer Rechtsbeugung geworden, verkennt die tiefere Realität: Jan Hus wurde das Opfer der von ihm selbst in Gang gesetzten konsequenten Anwendung des Rechts auf die Wahrheit, die mit dem Recht nicht zu erfassen und schon gar nicht durchzusetzen ist.

Seit die Maschinerie der Rechtsprozesse von ihm selbst in Gang gesetzt ist, geht es hauptsächlich um Verfahrensfragen. Nicht mehr die Rechtgläubigkeit steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern eine Fülle von sekundären Aspekten: Hatte die Berufung aufschiebende Wirkung oder nicht? Waren die Beweisanträge zugelassen und offiziell in die Gerichtsregister eingetragen? Musste Hus persönlich vor dem römischen Gericht erscheinen oder hatte er das Recht, sich vertreten zu lassen? Wie sollte er umgehen mit dem unlösbaren Dilemma, «entweder vor Gericht zu erscheinen in dem Wissen, dass er verurteilt würde, oder wegen Ungehorsams gegenüber dem Gericht verfolgt zu werden»?14

Oft hing es von sehr zufälligen und äusserlichen Faktoren ab, ob sich das Geschick von Hus zum Guten oder zum Schlechten wandte. Immer mehr trat der eigentliche Beweggrund zurück: das Leben nach dem Evangelium und die Reform der Kirche. Das führte gar zu der abstrusen Lage, dass Papst und Kardinäle in Konstanz eigentlich angesichts der Anwesenheit von Hus keine Messen hätten feiern dürfen, sodass schliesslich «der Papst aus der Fülle seiner Macht das Interdikt und den gegen Hus ausgesprochenen Bann aufhob».15

Trennung von weltlicher und kirchlicher Gerichtsbarkeit

Im Zuge der rechtlichen Auseinandersetzungen um Hus kam es auf Druck von König Wenzel zu der symbolträchtigen Grundsatzentscheidung, kirchliche und weltliche Gerichtsbarkeit klar voneinander zu trennen. Das kirchliche Gericht durfte sich nicht länger in weltliche Angelegenheiten einmischen. Indem Hus also vom kirchlichen (päpstlichen) Gericht an Christus appelliert hatte, war er ein «Homo sacer» geworden: vogelfrei, nicht mehr ein Gott wohlgefälliges Opfer und zugleich von keinem weltlichen Gericht mehr geschützt. Nicht zufällig bestand einer der ersten Akte von Jan Hus nach seiner Appellation an Christus in einem ausführlichen Rechtfertigungsschreiben an das böhmische Landesgericht – von dem er doch selbst wusste, dass es für ihn nicht zuständig war und das doch sein einziger und letzter Ansprechpartner blieb.

Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen. Wer zum Recht greift, wird durch das Recht umkommen. Propter inimicitias, wegen der rechtsbezogenen Feindschaften, sieht Hus seine rechtlichen Handlungsmöglichkeiten eingeschränkt.16 Doch hat er selbst den Weg gewählt, in dem Freundschaften, amicitiae, keinen mehr Platz haben, in dem das Recht des Einzelnen wichtiger wird als das Festhalten am anderen in der Gemeinschaft.

Die theologische Aufarbeitung ist noch zu leisten

Ja, auch die theologischen Inhalte der Predigten und Schriften von Jan Hus harren der Aufarbeitung. Die zentrale Schrift «De ecclesia» (1412), die mit John Wyclifs gleichnamigem Traktat (1384) die Geburtsstunde der Ekklesiologie im Zeichen der Kirchenspaltung markiert, ist noch nicht in der kritischen Ausgabe der «Magistri Iohannis Hus Opera Omnia» ediert worden, weder in Prag noch bei Brepols in Turnhout.17 In den vorhandenen Dokumenten begegnen wir einem belesenen, in der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern gut verwurzelten, traditionsbewussten Theologen der Kirche. Mit den verurteilten Thesen Wyclifs hat er sich nie ausdrücklich solidarisiert, sondern nur deren Diskussionswürdigkeit und vielfältige Interpretationsmöglichkeiten betont. Seine Eucharistielehre scheint rechtgläubig zu sein. In den Kampf für den Laienkelch wurde er offenbar nachträglich hineingezogen.

Anhaltspunkte für einen klar überführbaren Häretiker zeigen sich nicht. Was sich jedoch zeigt, ist eine immer klarere Trennungslogik, die im Plädoyer für die Reinheit des Evangeliums die Geschichte ihrer Gottlosigkeit überlässt und den Reformator selbst letztlich einsam zurücklässt. Kaum jemand in der wissenschaftlichen Forschung über Jan Hus hat die Tragik dieser Gestalt so gut verstanden wie Edzard Schaper, der dem böhmischen Reformator zu seinem 550. Todestag aufgrund ausgiebiger Quellenstudien ein Hörspiel gewidmet hat.18 Er lässt die «Huren und Buhlen», gegen die Hus bei seiner Ankunft in Konstanz im Namen des Evangeliums gewettert hat, an seinem Scheiterhaufen um ihn weinen …

Die Wahrheit siegt!

Die Wahrheit siegt! Pravda vítězí! Der Wahlspruch Tschechiens und der ehemaligen Tschechoslowakei führt sich auf ein Schreiben von Jan Hus zurück. In Christus hat die Wahrheit gesiegt. Doch Jesus der Messias, «der Weg, die Wahrheit und das Leben» (Joh 14,6), siegt nicht über die Geschichte, er siegt in der Geschichte und durch ihre radikale Annahme. Der Sieg vollzieht sich am Kreuz, durch das «erlösende Opfer» (Edzard Schaper).

Der Tod des Jan Hus behält eine vor dem menschlichen Gericht nicht klärbare Vieldeutigkeit. Der Kämpfer für die Wahrheit hat die ausweglose Lage, die er standhaft angenommen hat, in vieler Hinsicht selbst herbeigeführt.

Er hat jedoch auch Anteil am Opfer Christi, der sein Leben hingibt für seine Freunde. Daraus ergibt sich die Antwort auf die Frage, weshalb er nicht widerrufen hat und widerrufen konnte: Die Wahrheit in ihrer sakramentalen Gestalt der geschichtlichen Barmherzigkeit ist ihm offenbar nicht hinreichend klar aufgeleuchtet, um den Widerruf nicht als Kapitulation gegenüber der Selbstbehauptung kirchlicher Macht gegen das Evangelium zu sehen wie auch als Verrat an seinen böhmischen Freunden. Die in Böhmen ausbrechenden Unruhen, die ganz den Zielen von Hus widerstreiten, bestätigen auf tragische Weise die ausbleibende Versöhnung. Die heutige Tschechoslowakische Hussitische Kirche steht nicht in einer ungebrochenen Kontinuität zum Erbe des Reformators, sondern ging 1919/20 aus einer Abspaltung von der römisch-katholischen Kirche aus Protest gegen den römischen Antimodernismus hervor. Die Hus verpflichteten böhmischen Gemeinden leben in der Brüder-Unität und später in der Herrnhuter Brüdergemeine weiter.

Das selbst gelegte oder provozierte Feuer ist immer ein nicht normgebender Grenzfall des Ausbruchs aus einer ausweglos gewordenen Geschichtssituation. Das gilt auch für den Studenten Jan Palach, der sich am 19. Januar 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz, wenige Schritte vom Jan-Hus-Denkmal entfernt, selbst verbrannt hat, um als lebendige Fackel gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings und die daraus resultierende Apathie der Bevölkerung zu protestieren. Kurz vor seinem Tod diktierte er einem Freund: «Meine Tat hat ihren Sinn erfüllt. Aber niemand sollte sie wiederholen …»

«Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner»

Hus betete nach dem Zeugnis der Quellen auf dem Weg zum Scheiterhaufen wiederholt inbrünstig das «Christus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner». Hier wendet er sich an Christus, nicht mehr an den gerechten Richter, der ihm, Hus, Recht verschafft, sondern an den barmherzigen Heiland, der ihn in Freundschaft umarmt. Hier liegt die tiefste Botschaft des Jan Hus, die vielleicht in der Tat die Theologie zum Verstummen bringt: «Hier und jetzt von der Wahrheit des Reichs, das nicht von hier ist, Zeugnis zu geben, heisst anzuerkennen, das wir das, was wir erlösen wollen, richten. Denn die Welt in ihrer Vergänglichkeit will nicht Erlösung, sondern Gerechtigkeit. Und sie will sie eben deshalb, weil sie nicht erlöst werden möchte. Als unrettbare urteilen die Geschöpfe über das Ewige – so lautet das Paradox, das Jesus zuletzt, als er vor Pilatus steht, das Wort raubt. Hier ist das Kreuz, hier ist die Geschichte.»19 

1 Pressekonferenz mit dem Heiligen Vater auf dem Rückflug nach Rom, 30. November 2014: http://w2.vatican.va/content/francesco/de/speeches/2014/november/documents/papa-francesco_20141130_turchia-conferenza-stampa.html

2 http://de.radiovaticana.va/news/2015/05/24/papst_bei_der_%C3%B6kumene_nicht_auf_die_theologen_warten/1146422

3 Ansprache von Papst Franziskus an die Delegation der Tschechischen Republik anlässlich des 600. Jahrestages des Todes von Jan Hus: https://w2.vatican.va/content/francesco/it/speeches/2015/june/documents/papa-francesco_20150615_anniversario-jan-hus.html

4 https://w2.vatican.va/content/john-paul-ii/de/speeches/1999/december/documents/hf_jp-ii_spe_17121999_jan-hus.html

5 Hans Urs von Balthasar: Theologie der Geschichte. Einsiedeln 31959, 58 f.

6 Stephan Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann. München 2011, 179.

7 In der Schrift «Contra Palecz»; Quellenangaben vgl. Jiří Kejř: Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche. Regensburg 2005, 159 mit Anm. 252.

8 Ebd., 64.

9 «qui contra Romanam ecclesiam derogando loquitur, hereticus deputatur»: aus dem Traktat «Replicatio contra Quidamistas»; zit. nach Kejř, Die Causa Johannes Hus (wie Anm. 7), 109 und Anm. 109.

10 Ebd., 108 mit Anm. 102.

11 Jan Hus: «Contra falsa consilia doctorum» (1413); diese Ekklesiologie, deren theologiegeschichtliche Herkunft unklar ist, bekämpft Hus auch in seiner Schrift «De ecclesia».

12 Vgl. Kejř, Die Causa Johannes Hus (wie Anm. 7), 33 f. mit Anm. 116.

13 Ebd. 47.

14 Ebd. 54.

15 Ebd. 142.

16 Vgl. ebd., 56 und 76.

17 Für November 2015 ist bei der Evangelischen Verlagsanstalt ein Band «Johannes Hus deutsch» mit der ersten vollständigen deutschen Übersetzung von «De ecclesia» angekündigt, herausgegeben von Armin Kohnle und Thomas Krzenk. Englische Ausgabe: The Church by John Huss. New York 1915 und Reprints.

18 Siehe dazu den Leitartikell auf Seite 365 der vorliegenden SKZ-Ausgabe.

19 Giorgio Agamben: Pilatus und Jesus. Berlin 2014, 61.


Barbara Hallensleben

Prof. Dr. Barbara Hallensleben (Jg. 1957) ist Professorin der Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Fribourg und Direktorin des Zentrums für das Studium der Ostkirchen.