Ist Christus ein Engel?

Die Frage, ob Christus ein Mensch oder Gott oder beides ist, beschäftigte Christinnen und Christen der ersten Jahrhunderte. Weniger bekannt ist, dass es auch die Idee gab, Christus sei ein Engel.

Giotto di Bondone: Die Stigmatisation des Franziskus (vor 1337). (Bild: Wikimedia)

 

In der Weihnachtszeit lächeln viele Englein aus allen Ecken. In Bethlehem erscheinen ihre Scharen und singen das «Gloria». Dass sie so arg süss wurden, verdanken wir ihrer Verniedlichung zu Putten seit der Renaissance. Das war nicht immer so. Ursprünglich waren sie Machtwesen, die sogar in Konkurrenz zu Christus standen. Und lange wurde Christus als eine Art Engel geglaubt. Uns Heutigen erscheint das Bekenntnis, dass Christus «nur» Mensch und Gott ist und nicht Engel, selbstverständlich. Aber es dauerte einige Jahrhunderte, bis das klar wurde.

Verwischter Unterschied

Die Auseinandersetzung beginnt mit dem Hebräerbrief: «Er ist um so viel erhabener geworden als die Engel. […] Sind sie nicht alle nur dienende Geister?» (Hebr 1,4.14) Der Vorrang Christi über die Engel wird dort so oft und ausdrücklich betont, dass man davon ausgehen muss, der Text wende sich gegen Gemeindemitglieder, die Christus als mächtigen Engel verehren. Das war recht naheliegend, denn in frühen Texten wird Christus als jemand vorgestellt, der mit finsteren Engeln, den Mächten und Gewalten, kämpft (Kol 2,15) und letztlich Tod und Teufel überwindet. In der Offenbarung des Johannes ist es Michael, der den Satansdrachen aus dem Himmel wirft. Der feurige Ritter «Herr der Herren», der das Endzeittier besiegt, ist Christus (Apk 12; 19,11–16.). Aufgrund dieser Ähnlichkeit sind Zeugen Jehovas heute noch der Überzeugung, dass Michael und Christus dieselbe Person sind. Johannes wirft sich vor dem Engel, der ihm die Visionen erklärt, nieder und will ihn anbeten, was dieser ablehnt: «Tu das nicht, ich bin ein Knecht wie du» (Apk 19,10 f.). Offensichtlich war die Erscheinung dieses Engels so herrlich, dass er für Jesus oder Gott gehalten werden konnte.

Das Alte Testament spielt geradezu mit dieser Verwechselbarkeit: Der «Engel des Herrn» («mal‘ak jhwh») tritt zwar stets als menschenähnliche Person auf, aber im Dialog mit Hagar, Abraham, Mose oder Manoach spricht er zeitweise als Gott oder wird als Gott angesprochen (Gen 16; 18; Ex 3; Ri 13). Der Text verwischt den Unterschied von Sender und Boten bewusst. Dieses Schema war auch auf Jesus anwendbar: Er trat in Menschengestalt auf, sprach aber nicht nur über Gott, sondern als Gott. «Ihr werdet erkennen, dass ich nichts im eigenen Namen tue, sondern nur das sage, was mich der Vater gelehrt hat. Und er, der mich gesandt hat, ist bei mir» (Joh 8,28 f). Im Johannesevangelium wird Jesus zwar nicht Bote («aggelos») genannt, wohl aber «der, den der Vater sandte» («apesteilen», vgl. «apostolos»). Das Vorbild «Engel des Herrn», der das Wort bringt, wird nun weitergeführt zum Sohn, der das Wort ist (Joh 1). Jesus ist sozusagen der authentischere Engel.

Mensch oder Engel?

Einer der ersten Theologen, Justin (+156), hat das aufgegriffen und Christus als universalen Logos verstanden, der in unterschiedlichsten Situationen und Verkleidungen spricht: aus den Propheten, aus den Philosophen, vor allem aber aus den Engeln im Alten Testament. Alle Angelophanien interpretiert er als Christophanien (Dialogus 126–128). Der Logos ist immer derselbe, aber einmal erscheint er als drei Männer vor Abraham, ein andermal als Dornbusch vor Mose, als Engel, der mit Jakob ringt, als Engel des Rates bei Jesaja usw. So nimmt es nicht wunder, dass viele christliche Texte des zweiten Jahrhunderts Jesus direkt als Engel bezeichnen: das Thomas-Evangelium, der Brief der Apostel, die Oden Salomos, das Hebräerevangelium, das Philippus-Evangelium (EvThom 13; EpAp 14; OdSal 36,4; EvHebr 8; EvPhil 26). Diese Texte wurden zwar nie Teil des Kanons und teilweise sogar häretisiert, aber sie bezeugen, dass es eine lebendige Engelchristologie gab. Noch im 3. Jahrhundert wehrte sich Novatian entschieden gegen Meinungen, dass Christus «nur» ein Engel war, indem er betont, dass Christus sowohl eine angelische als auch eine göttliche Natur besass (De trinitate 18,10).

Wieso braucht Christus auch eine Engelsnatur? Nun, es wäre viel logischer, dass sich Gott über Geistwesen in der Welt mitteilt als über fehlbare Menschen. Aber Jesus war Mensch. Bevor er jedoch in Bethlehem geboren wurde, musste der ewige Sohn durch die Sphären der Geistwesen herabsteigen. Alles beginnt damit, dass Origenes den Satz des Paulus, wonach ein Apostel allen alles werden müsse (1 Kor 9,22), auf Christus anwendet: Wie dieser für die Menschen ein Mensch geworden ist, so muss er für die Engel ein Engel geworden sein (Comm. Joh 1,217). Daraus sind Erzählungen – am bekanntesten ist die «Himmelfahrt Jesajas» – entstanden, wie Christus angelische Naturen annimmt. Darin schleicht sich Jesus durch die sieben Himmel, wo verschiedene Geistwesen wohnen (Throne, Geistengel, Seelen von Verstorbenen, Luftengel, Teufel). Überall nimmt er die jeweilige Engelsgestalt an, damit ihn keiner erkennt. Denn nur, wenn er inkognito zur Erde gelangt und dort ein unerkanntes Menschenleben übersteht, kann er wieder in den Himmel fahren. Teufel und Engel müssen ihn dann anerkennen, denn er hat sie überlistet. Christus setzt sich schliesslich auf seinen Thron und alle Engelsscharen huldigen ihm (AscJes 11,22–33). Ohne die angelische Camouflage würden die Zwischenmächte sofort erkennen, dass der Gottessohn unterwegs ist. Sie würden sich verstellen und versuchen, einen guten Eindruck zu machen, weil sie wüssten, dass sie es mit dem Herrn zu tun haben. Vor derselben Herausforderung stehen ja auch die Menschen: «Herr, wann haben wir dich hungrig oder durstig […] oder im Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen?» (Mt 25,44) Aus diesem Grund wurde Christus den Cherubim ein Cherub, den Seraphim ein Seraph, den Thronen ein Thron usw. und schliesslich den Menschen ein Mensch. Die Inkarnation ist nur eine Stufe nach verschiedenen In-Spirationen, Engelwerdungen. Die «Himmelfahrt Jesajas» war weithin bekannt, was Zitate bei Kirchenvätern und die vielen Übersetzungen in der Spätantike belegen. Danach verliert sich die Spur, weil Engelchristologie als Irrweg verurteilt wurde. Das implizit durch die Definition der Zweinaturenlehre 451 und explizit durch die Anathematismen gegen Origenes 543. Nur ganz selten noch wird Christus in die Nähe von Engeln gebracht, z. B. in der Vision des Franziskus, wo ihm Christus als Seraph am Kreuz erscheint, oder in Texten von Katharern, wo Gott zwei angelische Söhne hat: den hochmütigen Satan und den demütigen Christus.

Leidender Menschensohn

Man könnte diese Vorstellungen als späte Gedankenspiele
deuten, die nichts mit Jesu Selbstbild zu tun haben. Wie hat Jesus sich selbst gesehen? Ganz sicher wissen wir, dass er sich als «Menschensohn» oder in enger Verbindung mit dem Menschensohn verstanden hat. Diesen Titel findet man in Jesu Reden in allen vier Evangelien. In einigen Fällen ist damit schlicht «ein Mensch» gemeint, in den meisten Fällen aber eine fast-göttliche Figur der Endzeit. Der Menschensohn wird als Anführer von Engeln auf Wolken kommen und das Gericht vollziehen (Mk 13,26 f). Jesus greift damit eine damals bekannte Tradition aus dem Daniel- und dem Henochbuch auf. Demnach verläuft die Geschichte in einer chaotischen Abfolge von Kriegen zwischen Grossreichen. Sie wird zu einem Ende kommen, wenn Gott inmitten von Tausenden von Engeln erscheint und zusammen mit ihm «einer wie ein Menschensohn» (Dan 7), der die Herrschaft übernehmen und ein ewiges Reich errichten wird. Im ersten Henochbuch wird der Menschensohn als der «vor aller Schöpfung» (1 Hen 48) Erwählte gerühmt, vor dem alle niederfallen. Er ist der zum Himmelswesen verwandelte Mensch Henoch (1 Hen 72). Im zweiten Henochbuch wird dessen Himmelsreise und Verherrlichung erzählt (2 Hen 64). Jesus bezieht die Figur eines zum Über-Engel erhöhten Menschen auf sich, der das Wissen vom Anfang der Welt besitzt, ein gerechtes Reich am Ende regiert und von allen Engeln verehrt wird. Und die ersten Christinnen und Christen rühmen ihn in genau diesen Bildern (vgl. 1 Thess 4; Phil 2; Eph 1; Kol 1).

Aber Jesus hat eine scharfe Korrektur am «Menschensohn» vorgenommen. Er ist nicht nur ein zum Engel erhöhter Mensch, sondern er muss vorher leiden. Der Sieger nimmt an der Schwäche und am Leiden der Unterdrückten teil. Engel dagegen können nicht leiden. Die Weihnachtsszene mit dem verletzlichen Kind einerseits und den seligen Engeln andererseits illustriert diesen Unterschied wunderbar.

Johann Ev. Hafner


Johann Ev. Hafner

Prof. Dr. Johann Ev. Hafner (Jg. 1963) studierte katholische Theologie und Philosophie in Augsburg und München. Seit 2004 ist er Professor für «Religionswissenschaft mit dem Schwerpunkt Christentum» an der Universität Potsdam.