Initiative und Exekutive

26. Sonntag im Jahreskreis: 1 Tim 6,11–16 (Am 6,1a.4–7; Lk 16,19–31)

Manche Projekte werden von ein und derselben Person entworfen und durchgezogen. Bei anderen liefert einer oder eine die Idee, andere entwickeln ein Konzept und wieder Andere setzen es um und bringen das Projekt zum Erfolg oder wenigstens zum Abschluss. Oft überstrahlt dabei der Glanz der Kreativität das ganze Projekt und stellt das Durchhaltevermögen und die Frustrationstoleranz in den Schatten, obwohl ohne diese der zündende Funke als Strohfeuer rasch zum Erlöschen kommen würde. Andererseits gäbe es ohne Initialzündungen auch keine Erneuerung und Veränderung und damit keine Lebendigkeit. Beides ist gleichermassen vonnöten und verdient die gegenseitige Anerkennung.

Religion ist ein Projekt, das in vielen Ideen – zum Teil unbekannter Herkunft – wurzelt, immer wieder neu konzipiert und von vielen weitergetragen wird – und erst in der Ewigkeit (vielleicht) vollendet sein wird.

Timotheus im jüdischen Kontext

Timotheus ist gemäss der Apostelgeschichte Schüler des Paulus und wird zweimal zusammen mit Silas, einmal mit Erastus und einmal mit weiteren Schülern zusammen genannt bzw. irgendwohin geschickt (Apg 17,14 f.; 18,5; 19,22; 20,4). Durch die beiden Timotheusbriefe erscheint er als einer, der, in einer Übergangsphase zwischen herkömmlichem Glauben und der Konsolidierung des neuen, eingesetzt wurde, um eine relativ frisch gegründete Gemeinde weiterzuführen und weiter zu strukturieren und so dafür zu sorgen, dass gewährleistet wird, dass der in ihr gelebte Glaube weiterbestehen kann, über den Tod ihres Gründers (Paulus) und über den Tod des Timotheus hinaus. Seine Funktion ist als solche unentbehrlich, auch wenn sein Platz von anderen Menschen eingenommen werden könnte. Vielleicht ist Timotheus uns daher wohl bekannt, jedoch lediglich als (fiktiver) Adressat der beiden nach ihm benannten Briefe und nicht als leibhaftige Person, als konkreter Mensch (abgesehen von der Skizzierung als «Sohn einer gläubig gewordenen Jüdin und eines Griechen» in Apg 16,1). Selbst sein Name muss nicht unbedingt auf eine historische Person schliessen lassen, denn er ist auch Programm, bedeutet (seiner Aufgabe entsprechend): (ich) ehre Gott.

Ähnlich ist es mit Josua, dessen Name «Gott ist Hilfe/Rettung» bedeutet und der oft im gleichen Atemzug mit Kaleb genannt wird. Der Name Josua entspricht der Situation, in welcher er zum Zug kommt, was den Verdacht erweckt, dass er ebenfalls nicht unbedingt für eine historische Person, sondern für deren Funktion steht. Josua führt das Volk Israel in das verheissene Land, welches allerdings besiedelt ist. Um die dort ansässigen zahlreichen Völker zu besiegen, ist Gottes Hilfe dringend nötig. Im Buch Josua ist denn auch viel zu lesen über die Menge der Gegner, die ihre Schlagkraft durch Koalitionen erhöhen und über die Kämpfe, Listen und Siege durch Gottes Hilfe sowie über die Aufteilung der eroberten Gebiete, doch vom Menschen Josua erfahren wir fast nur, dass er die Anweisungen Gottes getreulich ausführt und das Vermächtnis des Mose erfüllt (vgl. Jos 8,30 f.; 11,15). Josua ist somit ebenfalls ein Übergangsglied. Er ist der Diener des Mose, der als Diener Gottes das Unternehmen angeführt hat, aus Ägypten zu fliehen und durch die Wüste zum verheissenen Land zu ziehen. Moses wird nur der Ausblick auf das Land gewährt. Er stirbt und bleibt sozusagen im Alten zurück und mit ihm alle (Männer), welche die Verheissung erhalten haben. Nur Josua und Kaleb sichern den Weiterbestand bzw. die Wiederaufnahme des Hergebrachten im neuen Umfeld. So ist die erste Handlung nach dem Durchgang durch den Jordan (dessen Beschreibung an den Durchgang durchs Schilfmeer denken lässt) die Beschneidung der Israeliten. Josua sorgt dafür, dass sich die Israeliten (nach Stämmen) geordnet im Land niederlassen, und schärft ihnen ein: «Hört niemals auf, alles zu beachten und zu befolgen, was im Gesetzbuch des Mose steht; weicht nicht im Geringsten davon ab! Vermischt euch nicht mit den Völkern, die bei euch noch übriggeblieben sind; ruft nicht ihre Götter an (…), sondern haltet treu zum Herrn, eurem Gott …» (Jos 23,7–8). Nach einem Rückblick auf die bisherige (Heils-)Geschichte und der Zusage des Volkes, sich an das Gebotene zu halten und Gott treu zu bleiben, stirbt Josua. Seine Aufgabe ist erfüllt. Ähnlich erschöpft sich der 1. Brief an Timotheus in den Anordnungen für die Gemeinde und der Aufforderung: «Halte rein und ohne Tadel an dem Auftrag fest bis zum Erscheinen unseres Herrn Jesus Christus» (1 Tim 6,14).

Heute mit 1 Tim im Gespräch

Josua und Timotheus sind trotz ihrer leitenden Stellung das, was heute gemeinhin als «gute Geister im Hintergrund» bezeichnet wird. In der Wahrnehmung stehen sie im Schatten des Mose bzw. des Paulus und, obwohl sie wie diese ihr Leben ganz in den Dienst Gottes gestellt haben, gelten sie nur indirekt als Diener Gottes. Josua stand als Diener des Mose (Ex 24,13; 33,11) diesem zur Seite (Sir 46,1). Timotheus wird als «echtes Kind durch den Glauben» bezeichnet (1 Tim 1,1), was vielleicht eine Anspielung darauf ist, dass er, wie oben erwähnt, als Sohn einer jüdischen Mutter zwar Jude war, aber erst durch Paulus auch beschnitten und somit auch sichtbar Mitglied des Volkes Gottes wurde (Apg 16,1–3). Moses wurde direkt von Gott, Paulus von Christus zu ihrem jeweiligen Auftrag berufen. Josua und Timotheus hatten die schwierige Aufgabe der zweiten Generation, etwas nicht selber Initiiertes aufzunehmen und so überzeugend weiterzuführen, dass es sich festigen und weitere Generationen überdauern konnte. Sie hatten zudem die Herausforderung eines multikulturellen und zum Teil (nach den Eroberungskriegen sicher) auch feindlichen Umfeldes. Dabei hat Josua immerhin noch den Vorteil, dass er in dieser eingenommenen Umgebung eine alte Tradition neu installieren und bewahren konnte. Timotheus hingegen steht am Anfang einer neuen Tradition, die noch nicht klar von den sie umgebenden Weltanschauungen abgegrenzt ist. Er vereint sogar in seiner eigenen «Biografie» die jüdische und die griechische Kultur, der er auch in seiner Gemeinde in Ephesus begegnet. Wir sind mittlerweile sozusagen in der dritten Generation, bei der die Herkunftstradition(en) nicht mehr verunsichert, aber noch oder schon zum Verständnis der eigenen stabilisierten Tradition beitragen kann. Der Herausforderung einer multikulturell diversifizierten Umgebung haben auch wir uns zu stellen, wobei uns die Auseinandersetzung mit den uns umgebenden und begegnenden Kulturen helfen kann, unsere gefestigte eigene (Glaubens-) Kultur aufzufrischen und so das Gefestigte nicht erstarren und damit sterben zu lassen. Josua hat seine alte Religion in das Gebiet verschiedener Völker hineingetragen, Timotheus hat im Spannungsfeld vorhandener jüdischer und griechisch-römischer Kultur zum Aufbau einer neuen Religion beigetragen. Wir erleben, wie andere Kulturen Einzug halten in die westlich-christliche Welt. Wir sind in der privilegierten Situation, wählen zu können, ob wir ihnen mit interessierter Gastfreundschaft oder ignoranter Feindseligkeit begegnen wollen.

Katharina Schmocker Steiner

Katharina Schmocker Steiner

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.