Ikonen lesen und ihr Geheimnis verstehen

Zum sinnhaften und symbolischen Repertoire des Menschen gehören die Illustration und die Repräsentation durch Bilder und Ikonen. Letztere haben ein noch zu erforschendes religionspädagogisches Potenzial.

Das Ikonenschreiben erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit der abzubildenden Person. (Bild: Mike Qerkini)

 

Bilder und Ikonen wecken erneut das didaktische Interesse vieler Katecheten. Dies liegt darin begründet, dass Bilder und Ikonen in ihrer instrumentellen Funktion wesentlich zur Förderung religiöser Bildungs-, Erziehungs- sowie Lehr- und Lernprozesse beitragen. Kirchengeschichtlich betrachtet haben Ikonen als Erziehungs- und Lerninstrument in der römisch-katholischen Kirche eine lange Tradition. Erste schriftliche Zeugnisse für den pädagogischen Wert von Ikonen haben wir von Papst Gregor dem Grossen (540–604)1. Ein Blick in gegenwärtige Schulbuchreihen, Unterrichtshilfen, Anregungen für Katechese und kirchliche Jugendarbeit zeigt die Relevanz des Einsatzes von Bildern. In Bezug auf Ikonen ist zu beobachten, dass sie auf den illustrativen Charakter beschränkt sind. Betrachtet man hingegen den Einsatz und die Funktion der Ikonen in Lehrmitteln der orthodoxen Kirche, fällt auf, dass sie auf die Liturgie hin bezogen und gedeutet werden. In gewissen orthodoxen Schulen könnte das Schulfach «Ikonografie» fast mit unserer Katechese verglichen werden: Kinder und Jugendliche lernen Ikonenbetrachten, Ikonenschreiben, Ikonenlesen und Ikonenverehrung. Dazu kommen Ikonenschreibwettbewerbe. Im Umgang mit Ikonen in der Katechese der West- und Ostkirche wird der Unterschied deutlich: Ikonen sind in erster Linie liturgische Gegenstände, die den Glauben und das Evangelium verkünden. Sie können nicht auf den illustrativen Zweck reduziert werden. Wer Ikonen versteht, sie lesen, deuten und verinnerlichen kann, der versteht den christlichen Glauben und die Kirche. Diese Erkenntnis ist grundlegend für jeden Einsatz von Ikonen in der katechetischen Arbeit.

Didaktischer Wert der Ikone

Die religionspädagogische Grundlage der theologischen Auseinandersetzung mit Ikonen bildet für die römisch-katholische wie auch für die Ostkirchen das 7. Ökumenische Konzil aus dem Jahre 787. Die Konstitution des Zweiten Vatikanums «Sacrosanctum Concilium» bestätigt und aktualisiert den Brauch der Bilder für unsere Zeit (vgl. SC 122-–130).

Ziel der christlichen Ikonologie ist immer die Auseinandersetzung mit der auf der Ikone dargestellten Glaubenswahrheit. Dabei entstehen bei Kindern und Jugendlichen psychische und lernpsychologische Prozesse. In der persönlichen und intensiven Auseinandersetzung mit einer Ikone werden Glaubenswahrheiten erlebt. Durch diesen Prozess setzt man sich zugleich emotional mit dem auf der Ikone dargestellten Motiv auseinander und identifiziert sich idealerweise mit der darauf abgebildeten Glaubenswahrheit. Dazu einige Konkretisierungen: Jeder Mensch hat seine individuelle Entwicklungsgeschichte. Das zeigt sich auch im Bildverständnis. Ein Kind ist von charakteristischen Gesichtern von Bezugspersonen oder auch Traumbildern in seinem symbolischen Bildverständnis beeinflusst. Dementsprechend kann es die Gesichter auf einer Ikone als «streng» oder «ernst» wahrnehmen. Diese individuelle Entwicklungsgeschichte äussert sich ebenso im kreativen Ausdruck des Ikonenschreibens. Jedes Kind und jeder Jugendliche sucht einen Lebenssinn und will daraus das Leben gestalten. Wenn sie Ikonen abschreiben, ist ihnen die Angst vor der Gestaltung genommen, weil sie mit der Ikonenvorlage die Möglichkeit zur Nachahmung des Vorbildes haben. In den ikonografischen Bearbeitungsschritten können sich «Zwiegespräche mit einer Ikone» entwickeln, dies, weil die Ikone eine gründliche Aufmerksamkeit auslöst und einfordert. Lernpsychologisch bleiben Bilder länger als Texte im Gedächtnis. Mit dem nächsten Schritt, vom Ikonen-Betrachten zum Ikonenschreiben, intensiviert sich der Lerneffekt. Im Ikonenschreiben ereignet sich ein aufmerksamer Aneignungsprozess, der durch Betrachten, Lesen, Beten, Stille, Geduld, Ruhe und Achtsamkeit für die Farben oder Formen entsteht.

Schrittweise Annäherung

Wer Ikonen in der Katechese einsetzen möchte, muss sich im Vorfeld mit der Ikonentheologie auseinandersetzen. Dazu gehören unter anderem die Farbsymbolik, die Ikonensprache und die Ikonenmotive.

Zunächst kann mit den Kindern und Jugendlichen das Ikonenbetrachten und Ikonenlesen gelernt werden. Die Sinnerschliessung einer Ikone – oder überhaupt die Arbeit mit Bildquellen – gestaltet sich in der Kinder- und Jugendarbeit mit einem analytischen Verfahren: Im Stuhlkreis kann zum Beispiel eine kleine Christusikone der Reihe nach betrachtet werden. Der erste Schritt der Sinnerschliessung ist die spontane Wahrnehmung: Die Kinder und Jugendlichen zählen alles auf, was sie auf der Ikone sehen. Die Erfahrung zeigt, dass das glänzende Gold oder Silber, die intensiven Farben, aber auch der Ausdruck im Gesicht faszinieren. In einem zweiten Schritt wird die Formsprache der Ikone analysiert: Sie sehen, beschreiben, ordnen zu und können die Personen, die Farben, die Landschaft oder das Thema und den Inhalt der Ikone benennen. Als dritter Schritt kommen die Gefühle der Betrachter, eine Art Innenkonzentration, zur Sprache: Wie fühle ich mich, wenn ich diese Ikone anschaue? Zum Schluss erfolgt eine Identifizierung mit der Ikone: Die abgebildete Person hat eine wichtige Botschaft, die sie den Kindern mitteilen möchte. Was ist die Hauptaussage der Ikone? Dadurch geschieht eine Aktualisierung der Bedeutung der Ikone aus heutiger Sicht. Je öfters Lehrpersonen mit Kindern und Jugendlichen Ikonen betrachten und lesen, desto einfacher wird ihnen die Symbolsprache sowie der Zugang zu den christlichen Glaubenswahrheiten fallen.

Der intensivere Schritt ist das Ikonenschreiben. Es braucht Zeit und eine starke Vereinfachung der Ikonenmotive. Das angeleitete Schreiben und die Vorgaben für das Ikonenschreiben helfen den Kindern und Jugendlichen, ruhig und sicher zu arbeiten. Bei Kindern können Acrylfarben genommen werden, während bei Jugendlichen je nach Fähigkeiten auch schon mit Blattgold bzw. Schlagmetall gearbeitet werden kann. Beim jeweiligen Schreibschritt kann die Symbolsprache entziffert werden. Beispielsweise können der Nimbus und die Grundfarben von Gott und Mensch zum Gegenstand der Betrachtung werden. Bei der Ikonenherstellung wird in Farbschichten gearbeitet: vom Dunkel ins Helle oder bei der Enkaustik2 von den hellen Schichten in die dunklen. Deshalb benötigen Ikonen keine «Lichtreflexe» – sie scheinen selber respektive das Licht kommt «von innen», was wiederum ein Symbol für das Göttliche ist. Diese systematische Arbeit in Schichten ist eine didaktische Bildanalyse und lässt theologisch nachvollziehen, wie das Licht trotz des Dunkeln aufscheint. Diese einzelnen Schritte werden durch biblische Impulse verstärkt. Zum Schluss werden die Augen der auf der Ikone abgebildeten Person(en) geschrieben. So lädt beispielsweise der Blick Jesu den Betrachter liebevoll in die Gottesbeziehung ein.

Während des Ikonenschreibens können praktische Verehrungsgesten vor einer mitgebrachten Christusikone gelernt werden: Kommt ein Kind in einem der Schreibschritte an seine Grenzen, könnte es beispielsweise zur Christusikone gehen, dort verweilen oder eine Kerze anzünden. Es kann dabei die Erfahrung machen, im Gebet Lösungen zu finden. Der Höhepunkt des Ikonenkurses wäre dann die Ikonenweihe in einem Gottesdienst. Die Ikone wird die Kinder und Jugendlichen zum Gebet und zur Betrachtung einladen – dies ist der liturgische Zweck jeder Ikone.

Mike Qerkini

 

1 Vgl. Gregor der Grosse, Ausgewählte Briefe, IX, 105.

2 Eine Maltechnik, bei der in Wachs gebundene Farbpigmente heiss auf den Maluntergrund aufgetragen werden.

 


Mike Qerkini

Mike Qerkini (Jg. 1986) studierte zunächst Religionspädagogik am RPI in Luzern, danach Theologie in Luzern und Chur. 2019 wurde er zum Priester geweiht. Er gibt seit mehreren Jahren Kurse im Ikonenschreiben.