Heilungswunder

Yvonne A. Maurer: Heilungswunder. Eingreifen Gottes, biologischer Glücksfall oder Volksmythos? (= SpringerMedizin). (Springer Verlag) Berlin-Heidelberg 2012, 221 S.

Die Frage nach der Möglichkeit von Heilungswundern zu stellen stösst vielleicht nicht mehr auf Ablehnung, aber doch auf Skepsis oder zumindest Verlegenheit, auch bei aufgeklärten Theologen. Wenn die Theologin und Ärztin Yvonne Maurer sich dieser Thematik annimmt, dann nicht aus theoretischem Interesse, sondern aus der Erfahrung, dass ein Mensch, wenn er körperlich und/ oder seelisch leidet und am Verzweifeln ist, Hilfe sucht. Spätestens dann, wenn er «keine Hilfe in den säkularen Strukturen von Medizin, Psychologie und Psychotherapie finden kann, wird das Thema Heilung im religiösen oder alternativ im esoterischen Bereich aktuell» (7). Erkenntnisleitendes Interesse von Yvonne Maurers Forschungsarbeit ist es, von einer interdisziplinär-integrativen Sicht ein ethisch vertretbares Heilungs(zusatz)angebot im religiösen Bereich (aus katholischtheologischer Sicht) zu begründen. Yvonne Maurer tut dies, indem sie, nach einem einleitenden Teil, im Hauptteil das Phänomen «Heilungswunder» nicht nur aus philosophischer, (pastoral-) theologischer und medizinischer Sicht (inkl. der neuesten neurophysiologischen Erklärungen) thematisiert, sondern auch die Perspektive der Volksfrömmigkeit (zuerst historisch seit der Antike und dann am Beispiel der Wunderheilungen von Lourdes) mitberücksichtigt. Von der Feststellung ausgehend, dass Heilungswunder nicht nur im religiösen, sondern als Spontanheilungen auch im säkularen medizinischen Bereich vorkommen, versucht Yvonne Maurer zu klären, «ob und unter welchen Bedingungen religiöser, spiritueller, sozialer, psychischgeistiger, körperlicher oder anderer Art es zu einer medizinisch unerwarteten Heilung kommen kann» (10).

Entscheidend ist die Einsicht, dass die Engführung durch ein monokausales Erklärungsmodell gegen (Heilungs-)Wunder im Rahmen der philosophischen Wunderdebatte des 17. und 18. Jahrhunderts – welche sogar die Formulierung kirchlicher Kriterien für die Anerkennung von Wundern mitgeprägt hat! – sich aufgrund der neueren Forschungsergebnisse als ungenügend erweist. Es müssen auch spirituelle Aspekte einbezogen werden.

Nicht dann kann von einer Wunderheilung gesprochen werden, wenn Gott direkt in die Welt einwirkt, indem er die regulären Abläufe der Natur durchbricht. Impulse von Augustinus und Thomas von Aquin aufgreifend muss – so Yvonne Maurer – vielmehr gesagt werden, dass Gott (über Zweitverursachungen) dialogischinteraktiv, d. h. über die leib-seelische Verfasstheit, die sozialen Interaktionen und religiösen Dynamiken (Rituale, Gebetspraktiken, Heilungsgottesdienste auch an bestimmten Orten wie z. B. Lourdes) heilend zu wirken vermag. Was folgt daraus? Zunächst: Es gibt Heilungswunder – oder unreligiös gesprochen: Spontanheilungen – auch wenn damit noch nicht erklärt ist, wie diese Heilungen verursacht sind. Heilung als Erfahrung von Heil(werden) ereignet sich jedoch immer «im Zusammentreffen eines komplexen, multiplen (d. h. multidimensionalen und multifaktoriellen) Bedingungsgefüge » (182). Dabei will sich Gott – für den Glaubenden – als wirksam erweisen, indem er den bzw. die Menschen an diesem ineinander greifenden Bedingungsgefüge mitwirken lässt. Im Hinblick auf Seelsorgende unterstreicht Yvonne Maurer die Wichtigkeit, den Gläubigen zu erklären, «dass es diese komplexe Sicht von Heilungswundern mit sich bringt, dass sie das Augenmerk vermehrt auch auf ihre innere Begegnung und Erfahrung mit Gott richten dürfen, statt primär auf messbare wundersame Äusserlichkeiten ». Letztere sind indessen nicht nur möglich, sondern sogar «erwartbar, wenn die vielen biopsycho- sozial-religiös/spirituellen Bedingungen stimmen» (183). Auf den Punkt gebracht: Das Wunder besteht nicht im Unerklärlichen, sondern gerade darin, dass es erklärbar ist.

Yvonne Maurers Buch ist der mutige Versuch, anhand der Wunderproblematik die verschiedenen Disziplinen (Philosophie, Medizin, Theologie, Psychologie und Spiritualität) miteinander ins Gespräch zu bringen und auf die Ganzheitlichkeit des Menschen hin auszuweiten. Auch wenn Yvonne Maurers Buch primär für jene im seelsorgerisch-(psycho-) therapeutischen Bereich Tätige geschrieben ist, so ist zu hoffen, dass es auch anregend für all jene ist, die in Medizin und Pflege tätig sind.

 

Fulvio Gamba (Bild: kipa-apic.ch)

Fulvio Gamba