Glaubwürdigkeit der Kirche – Würde der Glaubenden

Cover

Am 2. April 2012 wurde Leo Karrer, während 26 Jahren Professor für Pastoraltheologie an der Universität Freiburg i. Ü ., 75 Jahre alt. Zu seinen Ehren wurde am 27. April des vergangenen Jahres ein Symposium durchgeführt, das illustre Referenten aus drei Ländern Mitteleuropas zusammenbrachte. Was davon als Referat schriftlich festgehalten werden konnte, wurde bis Ende August druckfertig zusammengestellt und kam noch vor Jahresende als Buch heraus (Michael Felder / Jörg Schwaratzki [Hrsg.]: Glaubwürdigkeit der Kirche – Würde der Glaubenden. Für Leo Karrer. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012, 337 S.). Auf die Festfreude legte sich am 5. August 2012 ein tiefer Schatten, als der Organisator des Symposiums und Herausgeber des Buches, Prof. Michael Felder, Nachfolger von Leo Karrer an der Universität Freiburg i. Ü ., erst 46 Jahre alt plötzlich in Zermatt an Her z versagen starb. Sein eigener Beitrag im Buch steht unter dem Titel «Individualität über den Tod hinaus. Bestattungskultur und praktisches Sebstverständnis der Moderne». Es ist, als ob sein Tod den nicht mehr bis ins Letzte ausgefeilten Beitrag authentisch besiegeln sollte. Sehr gut hat der Mitherausgeber Jörg Schwaratzki, der Assistent von Michael Felder, dessen Ausführungen unter dem Gedanken zusammengefasst, «die christliche Praxis solle dafür einstehen, dass die Bedeutsamkeit des Einzelnen, durch Autonomie und Authentizität prononciert, durch den Tod nicht ausgelöscht werde». Dieser mutige und Mut machende Gedanke liegt auch über dem ganzen Anlass: Die Moderne soll nicht verteufelt werden, sondern ihre Anliegen sollen aufgenommen und authentisch christlich anverwandelt werden. Und damit ist auch die ganze Lehr- und Forschungstätigkeit von Leo Karrer charakterisiert. Er hat übrigens seinem Freund Michael Felder einen tief empfundenen Nachruf gewidmet, der die Festschrift zugleich zu einer Gedenkschrift macht.

Tadellose Aufmachung

Dieses unter so schwierigen Umständen so rasch und so gut herausgekommene Buch verdient zunächst ein hohes Lob für seine Thematik, die schon dem Symposium vorgegeben war. Der erste Teil des Titels schimmert durch alle Beiträge durch: eine gar nicht rebellische, aber echte Trauer durchzieht sie über den fortlaufenden Verlust der Glaubwürdigkeit der Kirche. Aber gleichzeitig wird die Würde der Glaubenden in Erinnerung gerufen, die allüberall aufblitzt und Hoffnung weckt. Leo Karrer kennzeichnet sich zutreffend als Menschen mit langem Atem, in der Spannung zwischen Wirklichkeit und Vision, nie resignativ, nie aufmüpferisch, aber kristallklar in der Benennung der Problemfelder. Seine nur etwas jüngeren Kollegen Norbert Mette, Ottmar Fuchs und Hermann Steinkamp stossen ins gleiche Horn, wenn sie die Kirche «den Menschen nahe», vom Zwang befreit, mit mehr Vertrauen vorstellen. Jedem Beitrag ist eine Literaturliste beigefügt, sodass sich die Fussnoten knapp halten lassen, die Beiträge sind gut gegliedert und fügen sich fugenlos in bestimmte Rahmenthemen ein, ein Verzeichnis der Abkürzungen und eines der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gibt Auskunft über Geburtsjahr und Tätigkeit. Druck und Einband sind tadellos.

Drei Themenbereiche

Eine erste Gruppe von Beiträgen artikuliert «Geist und Struktur». Da findet man eine positive Deutung des Amtes der Pastoralreferentinnen und Pastoralreferenten (Christian Bauer), statt sie als «gescheiterten Versuch» abzuqualifizieren. Anton Rotzetter plädiert für eine Spiritualität kirchlicher Praxis, während Franz-Xaver Kaufmann das Elend des römischen Zentralismus beklagt. Die Laien werden als tragendes Prinzip der Kirche hervorgehoben – es ist fehl am Platz, sich weiterhin am schwindenden Klerus festzuklammern (Stefan Knobloch). Man bemüht sich ganz konkret um Pfarreimodelle in pastoralen Grossräumen (Sabine Demel), vergisst aber nicht die Geschwisterlichkeit als Strukturmerkmal der Gemeinde (Stephanie Klein). An einem Beispiel aus Südamerika, im Anschluss an Beschlüsse des Lateinamerikanischen Bischofsrates 2007 in Aparecida, wird gezeigt, wie man in Riesenräumen mit äusserst beschränktem Personal schrittweise vorwärtsgeht (Klaus Vellguth).

Sicht auf die konkrete Seelsorge

Eine zweite Gruppe eröffnet die Sicht auf die konkrete Seelsorge (unter dem Thema «Wort und Tat»). Dem Mitleidenkönnen wird das Wort geredet (Klaus Kissling), anhand der Dichtung wird der Sprung in die Pastoral gewagt, mit höchst erhellenden Beispielen (Erich Garhammer, Stefan Gärtner, Christoph Gellner), ein Plädoyer für die Predigt macht neuen Mut (Franziska Loretan-Saladin), ein anderes macht Anmerkungen zur Bewahrung oder Wiedergewinnung von Glaubwürdigkeit der Liturgie (Martin Klöckener). Mariano Delgado schöpft aus seiner umfassenden Kenntnis der Mystik, um sich für eine mystagogische Seelsorge einzusetzen.

«Zeit und Identität»

Eine dritte Gruppe endlich widmet sich dem Thema «Zeit und Identität». Aus der Sicht der Religionssoziologie beobachtet Arnd Bünker Zwang und Zwanglosigkeit in den Religionen, Hubertus Lutterbach überblickt kritisch die christliche Abwertung der Sexualität (die kultische Reinheit des Sexualverzichts überwog vor der ethischen Reinheit des ganzen Menschen). Manfred Belok greift das leidvolle Thema der wiederverheirateten Geschiedenen auf: Hier ist die römische Kirche nun wirklich blockiert und vergisst Seelsorge vor lauter Rechtsnormen. Was Michael Felder in seiner geistesgeschichtlichen Einleitung zu einer Studie über die Bestattungskultur angetönt hat, wird auch von Jochen Sautermeister aufgenommen und von François-Xavier Amherdt durch einen «geistlichen Blick aus der Postmoderne» abgerundet.

Impulse und Ausführungen

Dem Symposium waren – neben Wirklichkeit und Vision – drei weitere Impulse vorgelegt; Menschennähe, Freiheit, Parrhesia. Das letzte Wort ist vermutlich nicht mehr allen geläufig, Aber es hat eine geradezu umwerfende Aktualität. Es ist aus den griechischen Wörtern «pan» und «rhêsis» zusammengesetzt, «alles» und «Rede, Wort», und meint somit freie, offene Rede, im christlichen Bereich etwa die Rede der Apostel in der Öffentlichtkeit, dann aber auch das freie Wort des Menschen vor Gott, und weitet sich aus zu Mut, Zuversicht, Freudigkeit. Das Wort «rhêsis» übrigens ist über das zu Grunde liegende Tätigkeitswort «eirô» mit dem lateinischen «verbum» und dem deutschen «Wort» verwandt. Parrhesia wurde 1966 auch als Titel der Festschrift für Karl Barths 80. Geburtstag gebraucht und u. a. als «fröhliche Zuversicht» übersetzt. Wer diese Zusammenhänge bedenkt, macht sich auf die Suche nach dem freien Wort in der Kirche: Reden die Künder des Wortes offen und frei oder nicht oft doch zu verklausuliert, gesetzlich, hochgeschraubt – und reden die Gläubigen vor den andern (Mitmenschen, Kirchenamtlichen) in froher Offenheit?

Dass diese offene Rede auf der grundlegenden und umfassenden Freiheit des Menschen beruht, einem anthropologischen Charakterstikum, liegt auf der Hand. Und damit dies alles erfahrbar wird, bedarf es der Menschennähe, wofür eben die «Seelsorge» steht, oft verbunden mit «Leibsorge», d. h. Sorge für den ganzen Menschen in seinem Sozialgefüge (was schon die lateinamerikanische Befreiungstheologie wusste).

Diese Impulse wurden von den Referenten (und den Gesprächsteilnehmern, was in diesem Band nicht nachvollzogen werden konnte) lebhaft umgesetzt und können nun von einem weiten Kreis aufgenommen werden. Es wäre nur zu wünschen, dass es in der Gesinnung, voll Hoffnung und mit dem Freimut, mit dem Leo Karrer und Michael Felder auftraten bzw. auftreten, weitergetragen werde.

 

Iso Baumer

Iso Baumer

Dr. Iso Baumer, geboren 1929 in St. Gallen, studierte Sprach- und Literaturwissenschaft und war als Gymnasiallehrer in Bern und Lehrbeauftragter für Ostkirchenkunde an der Universität Freiburg (Schweiz) tätig. Er befasste sich früh mit Theologie und verfasste viele Publikationen zur westlichen und östlichen Kirchengeschichte (religiöse Volkskunde, Ostkirchenkunde).