Gesprächsstoff für den Tag des Judentums

Zur Lesung am 2. Fastensonntag – Tag des Judentums: Phil 3,17–4,1 (Gen 15,5-12.17–18; Lk 9,28b-36)

Am 2. Fastensonntag feiern wir den Tag des Judentums. Er ruft ins Bewusstsein, was die Verwurzelung im Judentum für unseren christlichen Glauben bedeutet. Der Tag des Judentums ist im Gespräch entstanden – in der Jüdisch/Römisch-Katholischen Gesprächskommission. Dieses Jahr lädt die Kommission ein, den Tag weiter zu entwickeln zu einem Tag des gelebten Dialogs. «Dialogveranstaltungen zwischen Gemeinden, Begegnungen mit Vertreterinnen und Vertretern des Judentums, gemeinsame kulturelle oder soziale Initiativen sollen organisiert werden.»1 Wir vom Schweizerischen Katholischen Bibelwerk unterstützen dieses ambitionierte Ziel nach Kräften. Bei dieser Auslegung steht deswegen die Frage im Zentrum, ob sich aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Philippi Stoff für das christlich-jüdische Gespräch heute ergibt.

Paulus und die Gemeinde in Philippi im jüdischen Kontext

Gesprächsstoff bieten auch die beiden anderen Schriftlesungen dieses Tages. Im Lukasevangelium weist uns die Stimme aus dem Himmel darauf hin, wer Gottes geliebter Sohn ist, auf den wir hören sollen: der Gesprächspartner von Moses und Elia nämlich, die ja auf die Tora und die Prophetinnen und Propheten verweisen. Hört auf Jesus im Gespräch mit Tora und Propheten, d. h. mit der ganzen Bibel. Genesis 15 zeigt uns Gott, der sich in aller Deutlichkeit auf den Bund mit Abraham und seinen Nachkommen verpflichtet: Gott würde sich zerteilen lassen wie die Opfertiere, würde er den Bund nicht halten. Aber wir sind aufgerufen zu hören – höre, Israel und hört, ihr Jüngerinnen und Jünger Jesu – Gott ist und bleibt unverbrüchlich treu. Das Bekenntnis zur ganzen Schrift und zum nie gebrochenen Bund Gottes mit Israel – das sind zwei gute Ausgangspunkte für das Gespräch mit jüdischen Menschen. Worüber können wir von hier aus ins Gespräch kommen? Wofür liefert der Brief des Paulus nach Philippi Gesprächsstoff? Die Gemeinde in Philippi ist ja ein Ort, wo jüdische und nichtjüdische Menschen (hebr. Gojim) miteinander leben und glauben. Hier ist die grosse Vision des Paulus Wirklichkeit geworden, die solidarische Gemeinschaft von Menschen aus Israel und aus den Völkern, die Paulus den Leib des Messias/Leib Christi nennt.2 A ber dieses messianische Projekt hatte Gegner. Paulus greift sie an und nennt sie «Feinde des Kreuzes Christi». «Ihr Ende ist das Verderben, ihr Gott der Bauch, ihr Ruhm besteht in ihrer Schande; Irdisches haben sie im Sinn» (3,19). Wer sind diese Gegner? Die liturgischen Unterlagen zum Tag des Judentums vermuten hier Menschen, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Körper haben. Sie formulieren als gemeinsame Haltung von Juden und Christen in biblischer Tradition: Das Leibliche weder vergotten, noch verachten. Das ist ein wichtiger Impuls für das jüdisch-christliche Gespräch. Aber vielleicht geht es in Phil 3 doch um einen anderen Konflikt, um einen innerjüdischen Richtungsstreit. Darum, ob das messianische Projekt des Paulus, das Volk Gottes aus Juden und Gojim, der Weg des Volkes Israel im römischen Reich sein kann oder nicht? Andere jüdische Gemeinden und ihre Verantwortlichen favorisieren die Abgrenzung zwischen Juden und Gojim. Ein Unterscheidungsmerkmal sind die jüdischen Speisegebote. Vielleicht ist «der Bauch», den die Gegner nach Meinung des Paulus zum Gott erheben, ja ein Hinweis darauf. Denn wenn die strikte Einhaltung der Speisegebote im Zentrum steht, wird das Zusammenleben in einer Gemeinde von Juden und Gojim unmöglich. Die Feindschaft gegenüber dem «Kreuz des Messias» weist in die gleiche Richtung: Für die Gegner der Gemeinde in Philippi ist ein gekreuzigter Messias unmöglich. Das Kreuz ist Zeichen der römischen Macht, nicht der Hoffnung. Geht es in Vers 19 um das Ende der Gegner oder vielmehr um ihr Ziel (griechisch steht hier telos), nämlich die Auslöschung (der messianischen Gemeinde) bzw. deren Wiedereingliederung in den gewohnten Rahmen jüdischer Gemeinden im römischen Reich. Mit dieser Absicht legen sie für Paulus keine Ehre ein, sondern «Schande». Sie haben «Irdisches im Sinn», wenn sie die bestehende Form jüdischer Gemeinden über alles stellen. Paulus stellt ihnen ein himmlisches Gemeinwesen, griech. politeuma, gegenüber (die Formulierung der Einheitsübersetzung, «Heimat», ist da weniger politisch). Eine Politeuma ist in der hellenistisch geprägten Welt die Vereinigung der fremden Bewohner einer Stadt mit einer gewissen Autonomie in administrativen und juristischen Fragen. Es ist die Organisationsform der jüdischen Gemeinden in der Diaspora. Die Verantwortlichen einer jüdischen Politeuma schauten kritisch auf messianische Bewegungen aus Judäa (genau wie auf Widerstandsaktionen in Judäa), denn die brachten die mühsam erreichte und prekäre Autonomie in Gefahr. Wer einen von den Römern gekreuzigten Aufrührer als Messias ins Zentrum stellt oder – mit den Worten des Paulus – wessen Gott nicht der Bauch, sondern ein Gekreuzigter ist, der bringt alle jüdischen Menschen in Lebensgefahr. Kein Wunder, dass die Gegner des Paulus keine Freunde, sondern «Feinde des Kreuzes des Messias» waren.

Heute mit Paulus und seinen «Feinden» im Gespräch

Paulus hat seine Hoffnung auf den Leib des Messias gesetzt, auf das Volk Gottes aus Juden und Gojim. Seine Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Er hat die Katastrophe nicht mehr erlebt, in die der messianisch angefachte Widerstand gegen Rom das Volk Israel geführt hat. Die Frage nach dem Verhältnis Israels zu den Völkern fand schliesslich zwei unterschiedliche Antworten. Etwas zugespitzt: die (christliche) Kirche ohne Juden und das (rabbinische) Judentum ohne Gojim. Beide Antworten sind 2000 Jahre lang lebendig geblieben. Zur Zeit des Paulus wurde den Gojim die Berechtigung abgesprochen, sich als Teil des Volkes Gottes zu fühlen. Im Laufe der Geschichte hat sich das umgekehrt. Als aus den Gojim die christliche Kirche wurde, verstand sie sich selbst als das neue Israel und sah im Judentum das Volk des alten und aufgekündigten Bundes. Erst langsam lösen wir uns heute aus diesen Vorstellungen. Der Tag des Judentums ist eine wichtige Etappe auf dem Weg zu einer neuen christlich-jüdischen Begegnung, die uns zugleich zu unseren Wurzeln zurückführt. Dafür bietet sich uns heute eine historische Chance. Auch wenn wir wahrhaben und achten müssen, dass das Interesse jüdischer Menschen an dieser Begegnung viel weniger gross ist. Aus der Geschichte heraus ist das mehr als verständlich. Die Auseinandersetzung um die Gemeinde in Philippi bzw. um den Weg des Volkes Gottes unter den Völkern ist heute überraschend aktuell. Sie stellt sich für jüdische und immer mehr auch für christliche Gemeinden. Das römische Weltreich ist abgelöst worden vom ökonomischen Weltreich. Für alle Menschen, die in der Tradition der Bibel stehen, stellt sich die Frage, wie wir hier und heute von Schöpfung, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Befreiung, kurz vom Gott der Bibel sprechen und entsprechend leben können. Das ist Stoff für christlich-jüdische Gespräche am Tag des Judentums.

 

 

1 Aus den Erläuterungen der Co-Präsidentin der Kommission, Prof. Verena Lenzen, zum Tag des Judentums 2013 in der Schweiz auf der Homepage der Schweizer Bischofkonferenz (www.bischoefe.ch/fachgremien).

2 Siehe meine Auslegungen zum Brief an die Gemeinde in Philippi in: SKZ 180(2012), Nr. 47, 755, Nr. 48, 770.

Peter Zürn

Peter Zürn

Peter Zürn ist Präsident des Vereins Bibliodrama und Seelsorge.