Gelassenheit gegenüber dem Bösen

Bereits im ersten Buch des Alten Testamentes begegnen wir dem, was wir als «böse» bezeichnen. Das Verhalten Gottes gegenüber dem Bösen erscheint ambivalent. Doch ist dem wirklich so?

Das Böse wird auf Hebräisch hauptsächlich mit den drei Konsonanten r ‘ ‘ bezeichnet. Das ‘ steht für einen Kehllaut, den es im Deutschen nicht gibt. Man kann diesen Kehllaut durch einen einfachen Stimmansatz ersetzen und das Wort folgendermassen aussprechen: ra‘a.

Vielfältiger Sprachgebrauch

Aus diesen drei Konsonanten können verschiedene Nomina und Verben gebildet werden, und sie werden sehr vielfältig verwendet, ähnlich wie das deutsche Substantiv «das Böse» und das Adjektiv «böse». Manchmal kommt ra‘a dem deutschen «schlecht» oder «schädlich» nahe. Ra‘a kann wie «schlecht» für etwas stehen, das ohne böse Absicht schadet wie beispielsweise eine Krankheit (z. B. Dtn 7,15; 28,35), unfruchtbares Land (Num 20,5) oder ungesundes Wasser (2 Kön 2,19). Wenn Handeln mit ra‘a beschrieben wird, kann es um etwas Schmerzliches und Unangenehmes gehen. So leidet Abraham unter Saras Vorschlag, Hagar und Ismael in die Wüste zu schicken (Gen 21,11; s. auch 1 Sam 1,8; 18,8). Ausserdem kann die Formulierung «gut und böse» wie «Himmel und Erde» und das deutsche «alles und nichts» einfach «alles» bedeuten (z. B. Gen 24,50; Lev 5,4; Jer 10,5; Zeph 1,12).

Auf der anderen Seite wird ra‘a häufig für Taten des Menschen eingesetzt, die Gott oder die Menschen missbilligen oder die anderen Menschen schaden. Gerade bei schädlichen Handlungen sind die Bedeutungen «schlecht» und «böse» nicht klar zu trennen. So verschärft der Pharao in Ex 5 die Fronarbeit der Israeliten, und Mose nennt das ra‘a (Ex 5,23). Dieses ra‘a kann mit «böse» oder «schlecht» übersetzt werden. Dagegen bedeutet ra‘a eindeutig «böse», wenn es um eine Sünde geht (z. B. Num 22,34; 1 Sam 12,19).

Das Böse als Teil der Schöpfung

Angesichts dieses vielfältigen Sprachgebrauchs ist es schwierig, zu bestimmen, was die alttestamentliche Rede von dem Bösen ausmacht. Es gibt dennoch einen Textkomplex, in dem wesentliche Kennzeichen der alttestamentlichen Rede über das Böse deutlich werden. Dabei handelt es sich um die Rahmung der Sintflutgeschichte Gen 6,5–7 und 8,21.

Die erste Stelle (Gen 6,5–7) begründet, warum Jahwe die Sintflut über die Schöpfung kommen lässt: «Jahwe sah, dass das Böse des Menschen viel war auf der Welt, denn der ganze Sinn, das Planen seines Herzens, war nur böse den ganzen Tag. Da bereute Jahwe, dass er den Menschen auf der Welt gemacht hatte, und war bekümmert in seinem Herzen. Jahwe sprach: Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, von der Erde vertilgen, vom Menschen bis zu den Tieren, bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln des Himmels. Denn es tut mir leid, dass ich sie gemacht habe.»

Gen 8,21 steht am Ende der Sintflutgeschichte. Noah, seine Familie und die Tiere auf der Arche sind gerettet und Noah hat Jahwe ein Brandopfer dargebracht: «Nun roch Jahwe den Beschwichtigungsgeruch und dachte: Ich will nicht mehr die Erde um des Menschen willen verfluchen, denn der Sinn des menschlichen Herzens ist böse von seiner Jugend an, und ich will nicht mehr alles Leben schlagen, wie ich es getan habe.»

Der erste Text (Gen 6,5–7) schildert Jahwes energischen Einsatz gegen das Böse. Aber nach der Flut akzeptiert Jahwe, dass die böse Gesinnung des Menschen Teil seiner Schöpfung ist. In einer Art von weiser Gelassenheit sieht Jahwe ein, dass das Böse kein Grund sein darf, sich gegen die eigene Schöpfung zu stellen. Beide Haltungen, der Kampf gegen das Böse und die Einsicht, dass das Böse Teil des Lebens ist, bestimmen die alttestamentliche Auseinandersetzung mit diesem Problem.

Gottes Antwort auf das Böse

Auf das böse Tun und Denken der Menschen reagiert Jahwe sehr emotional. Es reizt oder erzürnt ihn (z. B. 2 Kön 17,17 f; 24,19 f; Jer 32,30) oder er bereut sogar, dass er die Welt überhaupt geschaffen hat (Gen 6,6). Diese Gefühle können ihn motivieren, dass er auf böses Handeln mit schlimmen Taten reagiert und die Menschen straft (z. B. Jos 24,20; Jer 7,30–34; Mi 2,1–5).

Im Alten Testament ist beispielsweise ein grosses Thema, wie gute Menschen unter den Angriffen ihrer bösen Mitmenschen leiden. Wenn diese Menschen zu Gott flehen, dass er sie von ihren bösen Feinden befreie (z. B. Ps 22,17–22), lässt er sich oft zur Hilfe bewegen. Die Psalmbeter bekennen immer wieder, wie Jahwe sie vor den Anschlägen der Bösen geschützt hat (z. B. Ps 27,2; 94,16–18). Wenn Jahwe schlechtes Tun straft, kann das Opfer am Ende triumphieren, und einige alttestamentliche Beter äussern ihre Schadenfreude über den Untergang ihrer Feinde geradezu ungeniert (z. B. Ps 92,12).

Gelassenheit gegenüber dem Bösen

Die Einteilung der Menschen in Fromme und ihre böswilligen Gegner wirkt stark vereinfacht, ebenso die Vorstellung, dass Gott für die Frommen Partei ergreift, aber kein Mitleid mit ihren Feinden hat. Um die Texte zu verstehen, muss berücksichtigt werden, dass ihre Verfasser keine Lehre über Gott und das Böse vermitteln wollen. Vielmehr sprechen sie aus einer existenziellen Betroffenheit heraus. Sie sehen sich in Lebensgefahr, und es kommt ihnen nur darauf an, dass ihr Gott sie aus dieser Gefahr retten kann.

Das Alte Testament stellt selbst diese einfache Sicht infrage, und damit kommt die weise Gelassenheit gegenüber dem Bösen in den Blick. Die alttestamentlichen Theologen wissen, dass das Opfer nicht immer entkommt und der Täter nicht immer gestraft wird. Manchmal bleibt das schlechte Geschick für schlechte Menschen aus, und sie scheinen ungestraft davon zu kommen (z. B. Ps 73,4 f). Und selbst wenn Gott strafend eingegriffen hat, kann er das Böse nicht endgültig beseitigen, ohne alle Menschen oder vielleicht sogar alle Lebewesen zu vernichten. Das wird am Ende der Sintflutgeschichte deutlich. Noah und seine Familie sind für den Verfasser von Gen 6,5–7; 8,21 keine Ausnahmen, sondern ihre Gesinnung ist genauso böse wie die aller Menschen. Dass Noah verschont wird, begründet dieser Theologe allein mit Gottes Gnade für diesen Menschen (Gen 6,8).1 Noah und seine Nachkommen tragen also das Böse wieder in die Welt. Gott und die Menschen müssen damit zurechtkommen. Deshalb charakterisiert es einen frommen und weisen Menschen, dass er vor dem Bösen weicht (z. B. Ijob 1,1) und sich hütet, Böses zu tun (vgl. Jes 56,2). Beides ist eine ständige Aufgabe.

Und genau aus diesem Grund dürfen sich Gott und die Menschen von dem Bösen nicht aus der Ruhe bringen lassen. Dieses Bestreben äussert sich in den ersten drei Versen von Ps 37: «Rege dich nicht auf über die, die Böses tun, und ereifere dich nicht über die, die Schlechtes machen. Denn sie werden wie Gras eilends verwelken und wie grünes Kraut vertrocknen. Vertrau auf Jahwe und tu Gutes, wohne im Lande und pflege die Treue!» (Ps 37,1–3). Der Verfasser dieser Zeilen strebt nach weiser Gelassenheit. Es ist besser, sich auf das Gute zu besinnen und selbst gut zu handeln, als sich zu viel mit dem und den Bösen zu beschäftigen.

Die Ursache des Bösen bleibt ungeklärt

Es mag mit dieser weisen Gelassenheit zusammenhängen, dass im Alten Testament nicht nach der Ursache gefragt wird, wie das Böse in Gottes gute Schöpfung (Gen 1,31) eindringen konnte. Es wird nicht geklärt, woher die böse Gesinnung im Menschen kommt, die Gott so erzürnt, dass er fast seine Schöpfung zerstört hätte. Alle Texte, die später als Erklärungen für das Böse verstanden wurden, waren ursprünglich nicht so gemeint. Das gilt besonders für die Paradieserzählung in Gen 2–3. Es wurde viel darüber diskutiert, was die Schlange den Menschen verspricht, wenn sie sagt: «Ihr werdet sein wie Gott und um gut und böse wissen.» Gut und böse bedeuten hier meiner Meinung nach «alles». Die Schlange sagt den Menschen, dass sie als erkenntnis- und sprachfähige Wesen Gott oder den Göttern ähneln, was im Alten Orient allgemeine Überzeugung war (s. auch Gen 1,26 f). Die Menschen mobilisieren ihre Erkenntnisfähigkeit, indem sie die Frucht essen. Ihre erste Erkenntnis ist allerdings eher banal und peinlich, indem sie ihre eigene Nacktheit bemerken. Es geht dem Verfasser des Textes also um die Frage, was dem Menschen sein Verstand nützt, nicht um die Ursache von Sünde und Bösem.

Aus alttestamentlicher Sicht ist es gar nicht die Aufgabe des Menschen, nach der Ursache des Bösen zu suchen und sich gerade so auf das Böse zu fixieren. Vielmehr kommt es darauf an, gegenüber dem Bösen gelassen zu bleiben und sich dem Guten zuzuwenden. Es hilft, sich von dieser Haltung inspirieren zu lassen.


Susanne Rudnig-Zelt

 

1 Zu beachten ist, dass in Gen 6–9 zwei Fassungen der Flutgeschichte ineinandergearbeitet wurden. Der Verfasser des anderen Fadens ist bezüglich Noahs Charakter entschieden anderer Meinung und betont seine Gerechtigkeit (Gen 6,9).


Susanne Rudnig-Zelt

PD Dr. Susanne Rudnig-Zelt 
(Jg. 1971) studierte in Bethel und Münster. Sie schrieb ihre Habilitation über das Thema «Glaube im Alten Testament». Seit 2010 arbeitet sie als Hebräischlektorin in Kiel. Sie forscht zur Entstehung des Pentateuchs und der Prophetenbücher, zum Alten Testament als Quelle für die Achämenidenzeit sowie zu religionsgeschichtlichen Fragen. In diesem Zusammenhang beschäftigt sie sich mit göttlichen Wesen neben Jahwe im Alten Testament, z. B. niederen Göttern, Engeln und dem Teufel. Sie ist verheiratet mit Prof. Dr. Thilo Rudnig.