Fördert «Aperuit illis» die Ökumene?

Der reformierte Theologe Reinhold Bernhardt sieht in «Aperuit illis» eher eine symbolische Annäherung. Das dabei zugrunde gelegte Bibelverständnis erscheint ihm dagegen problematisch.

Die ursprüngliche Selbstbezeichnung der reformierten Kirche war: «die nach Gottes Wort reformierte Kirche». Sie verstand und versteht sich als «Schöpfung des Wortes Gottes» (creatura verbi). Wenn nun in «Aperuit illis» (AI) das Wort Gottes dadurch eine Aufwertung erfährt, dass der dritte Sonntag im kirchlichen Jahreskreis diesem Thema gewidmet sein soll, so ist das ökumenisch sehr zu begrüssen. Damit wird das, was im Zweiten Vatikanischen Konzil in der Konstitution Dei Verbum (DV) als theologische Lehre entfaltet wurde, nun auch spirituell in der gottesdienstlichen Praxis verankert. In Nr. 3 von «Aperuit illis» wird die ökumenische Bedeutung dieser Entscheidung ja auch ausdrücklich hervorgehoben und zwar sowohl für die Beziehung zum Judentum als auch für die Einheit der Christen. Wenn wir aber nicht bei der symbolischen Bedeutung stehenbleiben und etwas genauer auf den Inhalt dieser päpstlichen Verlautbarung schauen, stellen sich aus der Sicht der evangelisch-reformierten Theologie doch auch einige kritische Rückfragen.

Schrift und Tradition

Das betrifft etwa die Frage, wie sich die Heilige Schrift zur lehramtlichen Tradition der Kirche verhält. In der Offenbarungskonstitution hatte das Zweite Vatikanische Konzil dekretiert, dass die Überlieferung der Kirche und die Heilige Schrift «mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden» sollen (DV 9). In Karl Barth, dem grossen reformierten Basler Theologen, entfachte das einen urprotestantischen Protest: Die kirchliche Lehrüberlieferung dürfe nicht als eine zweite Offenbarungsquelle neben der Heiligen Schrift angesehen werden. Diese allein sei Grundlage des christlichen Glaubens und der Theologie.

In «Aperuit illis» wird nun festgehalten, dass die Heilige Schrift und die kirchliche Überlieferung «gemeinsam die alleinige Quelle der Offenbarung sind». Es wird also klargestellt, dass es keine zwei Quellen sind, sondern nur eine. Aber der Einwand bleibt bestehen: Schrift und Tradition werden ohne Abstufung zusammen als Offenbarungsquelle bezeichnet. Auch die evangelische Theologie betont, dass es die Schrift nicht ohne ihre Auslegung gibt – wie sollte sie sonst die Menschen erreichen? Aber sie hat doch immer darauf bestanden, der Schrift einen sachlichen Vorrang vor der Tradition einzuräumen.

Wort Gottes, Heilige Schrift und Bibel

Eine zweite Rückfrage bezieht sich auf die Bedeutung von «Wort Gottes». In «Aperuit illis» ist damit die Bibel als «Heilige Schrift» gemeint. Das aber ist eine Verengung. Die Bibel gibt Zeugnis vom Wort Gottes. Das Wort Gottes besteht in der schöpferischen Urkraft, die alles ins Sein rief und ruft; es besteht in der prophetischen Kritik an gottwidrigen Verhältnissen in der Geschichte; und es besteht in der Person Jesu, als dem fleischgewordenen, d. h. leiblichen Gotteswort. «Wort» meint hier mehr als einen sprachlichen Ausdruck. Das Wort Gottes liegt der biblischen Überlieferung und der kirchlichen Tradition voraus und es steht ihr gegenüber. Es ist ein Ereignis, in dem Gott sich mitteilt. Diese Mitteilung erfolgt durch weltliche Medien. Auch die Bibel gehört dazu. Sie ist aber nicht identisch mit Gottes Wort, sondern Gott spricht durch sie hindurch. Erst wo das geschieht, wird sie für die «Hörer des Wortes» zum Wort Gottes. Das geschieht aber nicht quasi automatisch. Man kann die Bibel nämlich auch so gebrauchen und auslegen, dass das Wort Gottes nicht zur Sprache kommt, dass es verdeckt oder verdreht wird, etwa um kirchliche oder politische Interessen zu bedienen. Wir erinnern uns noch an die Propagandaaktion von Donald Trump, der sich am 2. Juni 2020 mit der Bibel in der Hand vor der St. John‘s Church in Washington fotografieren liess. Viele Christinnen und Christen empfanden das als eine Entheiligung der Heiligen Schrift.

Man muss daher unterscheiden zwischen der Bibel, der Heiligen Schrift und dem Wort Gottes: Die Bibel ist eine Sammlung historischer Schriften, die auch als solche zu untersuchen ist – im Blick auf ihren Inhalt, ihre Entstehung und Überlieferung sowie auf ihren Gebrauch. Wo diese Sammlung theologisch als Zeugnis der Offenbarung Gottes verstanden wird, gilt sie als Heilige Schrift. Das Wort Gottes aber ist die Selbstmitteilung Gottes, die sich durch die Bibel zur Sprache bringt. Erst dadurch wird diese zur Heiligen Schrift. «Aperuit illis» legt alles Gewicht auf den zweiten Teil dieser dreifachen Unterscheidung zwischen Wort Gottes, Heiliger Schrift und Bibel. Für die evangelisch-reformierte Theologie und eigentlich ja auch für die akademische katholische Theologie sind aber die anderen beiden Dimensionen ebenso wichtig.

Mit Herz, Kopf und Hand

Diese Verengung schlägt sich im Verständnis der Bibelauslegung nieder. «Aperuit illis» hat eine spirituelle Verkündigung im Blick, die der Stärkung des Glaubens dienen soll. Das ist ein wichtiges Anliegen, das in manch nüchterner und «verkopfter» reformierter Predigt zu kurz kommt. Kritisch denkende Menschen erwarten aber, dass die Predigerin und der Prediger diese Überlieferungen nicht nur für das Innere der Menschen, d. h. für ihre Gottesbeziehung, fruchtbar macht, sondern auch auf ihre äusseren Lebens- und Weltverhältnisse bezieht. Die reformierte Theologie hat diesen Aspekt des Ethischen im weitesten Sinne, der auch das Sozialethische, Ökonomische und Politische einschliesst, stets betont. Dabei geht es auch um Selbstkritik der Kirche. Auch das ist ein urevangelisches Anliegen: dass die biblische Botschaft nicht nur von der Kirche in Anspruch genommen wird, sondern ihr auch kritisch gegenübersteht.

Und schliesslich geht es dabei um eine Anleitung zum rationalen Verstehen der biblischen Inhalte: Das kann sogar eine Kritik an bestimmten Inhalten einschliessen. Wo die Bibel mit Gottes Wort identifiziert wird, gibt es keinen Raum für eine solche Kritik. In der Bibel «menschelt» es aber zuweilen. Die Überlieferungen sind in das Weltbild und in die Werthaltungen ihrer Entstehungszeit eingebunden. Zugespitzt gesagt: Es ist nicht alles christlich, was in der Bibel steht, nur weil es dort steht. Luther hat einmal gesagt: «Wenn auch die Gegner die Schrift gegen Christus ins Feld führen, so führen wir Christus gegen die Schrift ins Feld» (WA 39/1, 47,19f Th: 19).

Es braucht also eine kritische Auslegungskompetenz. Dafür reicht es nicht, vom Auslegenden zu fordern, er/sie solle sich kontemplativ auf seine Aufgabe vorbereiten, so wie es «Aperuit illis» tut: «Wenn man innehält, um den Bibeltext zu meditieren und im Gebet zu betrachten, dann wird man fähig, mit dem Herzen zu sprechen, um die Herzen der Zuhörer zu erreichen» (AI 5). Wer biblische Überlieferungen auslegen will, der soll auch bibelwissenschaftliche Kommentare konsultieren, sich auf Spannungen im Text aufmerksam machen lassen und geschichtliche Hintergründe in den Blick nehmen. Jedenfalls dann, wenn er nicht nur das Herz, sondern auch den Kopf der Zuhörenden erreichen will. Es sind dies keine Schafe, die gehütet und vor Irritationen geschützt werden müssen, wie es in «Aperuit illis» offenbar angenommen wird, sondern aufgeklärte, mündige Zeitgenossen.

Altes und Neues Testament

Eine weitere Rückfrage betrifft die Sicht auf das Alte Testament, die offensichtlich (unter Berufung auf Lk 4,21) dem klassischen Erfüllungsmodell verpflichtet ist. In AI 12 heisst es: «Das Alte Testament ist nie alt, wenn es einmal Teil des Neuen ist, denn alles wird durch den einen Geist verwandelt, der es inspiriert.» Im Umkehrschluss bedeutet das: Ohne das Neue Testament ist das Alte geistlos und damit überholt. Wie ist das vereinbar mit dem in AI 3 bekundeten Bestreben, die Beziehungen zum Judentum zu festigen?

Mit all diesen Rückfragen soll die Bedeutung von «Aperuit illis» nicht infrage gestellt werden. Für die Ökumene mit den evangelisch-reformierten Kirchen hat dieses Dokument aber zunächst nur einen symbolischen Wert. Inhaltlich bleiben gravierende Differenzen bestehen. Ein Teil der hier vorgetragenen kritischen Rückfragen könnte allerdings ebenso von katholischen Theologinnen und Theologen stammen. Auf der Ebene der akademischen Theologie sind wir ökumenisch schon viel weiter als auf der Ebene der Kirchenpolitik. Die Sakralisierung der Bibel als Heiliger Schrift durch ihre Gleichsetzung mit dem Wort Gottes fällt hinter Einsichten zurück, die in ökumenischen Dialogen längst erreicht wurden.

Reinhold Bernhardt


Reinhold Bernhardt

Prof. Dr. Reinhold Bernhardt (Jg. 1957) ist seit 2001 Ordinarius für Systematische Theologie/Dogmatik an der Theologischen Fakultät der Universität Basel. Von 2004 bis 2017 war er Redaktor der «Theologischen Zeitschrift» und von 2006 bis 2008 sowie von 2018 bis 2020 Dekan der Theologischen Fakultät Basel.