Fluchen hebt die Betenden aus der Ohnmacht

Segen und Fluch sind in der Bibel eng miteinander verbunden. Doch über das Fluchen in der Bibel gibt es wenige theologische Beiträge. Dabei spielte es eine wichtige Rolle im rechtlichen Kontext und in existenzieller Not.

Urkunde einer Landabtretung in Form eines babylonischen Grenzsteins (schwarzer Kalkstein; Höhe 56,5 cm; im British Museum, London). Der Fundort ist unbekannt, die Datierung um 1000 v. Chr. durch die Inschrift möglich. Der Stein ist mit Flüchen gegen jene beschrieben, die den Vertrag verletzen. Symbole der Götter, die den Vertrag bezeugten, verstärken die Flüche. (Zeichnung und © Keel, Othmar, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, 51996, 86 Abb. 125).

 

Der Segen ist katholischen Christinnen und Christen vertraut. Reformierte Theologie und Kirchen haben ihm in den letzten zwanzig Jahren wieder mehr Geltung verschafft. Vom Fluchen liest und hört man hingegen praktisch nie etwas, nicht von jüdischer, nicht von christlicher Seite. In der biblischen Tradition ist der Fluch jedoch fast ebenso wichtig wie der Segen, und er ist mit diesem engstens verbunden.1 Diese Verbindung aufzulösen, nur den Teil zu brauchen, der ins heutige Weltbild passt, ist ein Kurzschluss, ganz ähnlich, wie wenn wir nur die «lieben» Gottesbilder an uns herankommen lassen und den zornigen Gott der Gerechtigkeit ausblenden.

Ijob verflucht das Leben

Ich beginne bei einem der wortgewaltigsten Texte des Alten Testaments, dem dritten Kapitel des Buches Ijob. Das ganze Kapitel ist ein einziger Fluch. Ijob verflucht die Nacht seiner eigenen Zeugung und seinen Geburtstag. Er wünscht seine Geburt und sein Leben mit aller Macht zurück in die Finsternis, in das Chaos vor der Schöpfung, das kosmische Dunkel. Der Text ist voller Licht-, Finsternis-, Chaos- und Schöpfungsmetaphern, rhythmisiert durch das wiederholte «Nicht», das Vernichtung und Auslöschen signalisiert. Ijob verflucht das Leben, das ihm gegeben wurde und das ihm nun gänzlich sinnlos und unerträglich geworden ist. Wir hören aus diesen Zeilen auch den Zorn, denn Ijob jammert nicht, sondern er flucht, er explodiert. Daran erkennen wir allerdings auch, dass dieser Ijob nicht nur ein Leidender, sondern zugleich ein Aufständischer ist. Er hat noch viel Energie in seinem Elend. Ganz fremd sind uns seine Gedanken nicht. In grosser Verzweiflung fragen Menschen «Warum überhaupt?», sie resümieren enttäuscht und zornig, dass nichts geblieben ist. Ijob wählt die Verfluchung, um dem Ausdruck zu geben. Was passiert bei seinem Fluch? Ist es nur ein Wünschen, Verwünschen? Ist es nur eine literarische Form?

Segen und Fluch schaffen Wirklichkeiten

In der biblischen Sichtweise schafft der gesprochene Fluch genau wie der Segen Wirklichkeit. Dem Wort nach bedeuten «qalal» und «arar» «herabmindern» und «mit Fluch belegen». Der Fluch mindert und schwächt, der Segen (berakah) hingegen lässt gedeihen. Und so ist der Segen immer auf Seiten der Schöpfung und des Lebens, des Wachsens und sich Vermehrens. Der Fluch ist verbunden mit dem lebensfeindlichen Chaos. Wie der Segen ist auch der Fluch nicht unbedingt an Worte gebunden, auch Steinewerfen (Koh 3,5; Joh 8,59) kann eine Form des Fluchens sein, ja schon das Abwenden des Gesichts und das Zukehren des Rückens. Gott segnet nach der Schöpfungserzählung in Genesis 1 Teile der Tierwelt und die Menschen. Anderen Schöpfungswerken wird ebenfalls bestätigt, dass in ihnen Segen ist: «Gott sah, dass es gut war». Gut, «tob», bedeutet «voll Segen». Später muss Gott feststellen, dass die Erde voller Bosheit ist (Gen 8,21) und beschliesst die Vernichtung. Die Ankündigung der grossen Flut, vor allem aber die Flut selber ist ein Fluch –  der Schöpfungssegen wird, wenn auch nicht vollständig, zurückgenommen. In deutschen Übersetzungen ist es nötig, sich zu entscheiden zwischen dem «ist» und dem «sei», ein Name beispielsweise ist oder sei verflucht oder gesegnet, aber in den hebräischen Sätzen gibt es diese Unterscheidung nicht. Ausgesprochen und zugleich bekräftigt wird, was bereits Wirklichkeit ist.

Gott ist helfende und schützende Macht

Im alten Orient hatte der Fluch eine juristische Funktion. Wir leben heute in der westlichen Welt in gut organisierten Staaten, die nicht nur Gesetze haben, sondern deren Einhaltung wir auf weite Strecken auch sanktionieren können. In der Antike war das extrem viel schwieriger. Der Arm des Gesetzes war kurz – und da half der Fluch über den Grabräuber, den man auf die Grabplatte meisselte, oder auf dem Grenzstein, der nicht verrückt werden sollte (vgl. Dtn 27,17; Spr 23,10f). Die Flüche im Buch Deuteronomium betreffen vielfach Vergehen, die in der Familie im Verborgenen passieren (Dtn 27). Durch den Fluch wurde Gott als schützende Macht herbeigerufen, insbesondere bei Verträgen. Am Schluss der drei grossen altisraelitischen Gesetzesbücher finden sich Segens- und Fluchlisten (Ex 23,25–33; Lev 26; Dtn 28). Juristisch spielte der Fluch auch eine Rolle, wenn jemand seine Unschuld beteuerte, aber keine Zeugen hatte. Eine Selbstverfluchung für den Fall, dass der Angeklagte doch Schuld auf sich geladen hätte, galt als rechtskräftig (Ijob 31). Umgekehrt waren Verfluchungen, insbesondere der Eltern, des Königs und Gottes, ein schwerer Straftatbestand (Lev 24,10–16).

Der Fluch ist im Alten Testament eine Sprachform der Ohnmächtigen.2 Dies gilt insbesondere für die vielen Psalmen (Ps 12;44;58;83;109;137;139), in denen Beterinnen und Beter in grösster Not Gott anrufen und zugleich die verfluchen, die ihnen das Leben schwer machen. Ihre Flüche bringen das Unrecht und die Sehnsucht nach Recht und Gerechtigkeit vor Gott zum Ausdruck. Die Problematik solcher Gebete ist aus heutiger Sicht nicht wegzuwischen. Gottes Gerechtigkeit und menschliche Selbstgerechtigkeit werden leicht verwechselt. Aber damals blieb denen, die keinen Einfluss und keinen Besitz hatten, das Recht oft verwehrt. Schulden wurden eingetrieben, Land, Tiere, die Ernte oder Kinder wurden weggenommen. Da blieben ihnen nur Gottes Hilfe und der Fluch über Betrüger, Verbrecher und Feinde. Das Fluchen bedeutet zugleich, dass sie sich Gott anvertrauen und ihm die Sanktion überlassen und nicht selber zum Dolch greifen. Der Psalter hält ja eine ganze Apotheke von Mitteln bereit, um mit schlimmen Erfahrungen zurechtzukommen. Menschen, die durch Unrecht und Gewalterfahrung traumatisiert sind, schicken wir heute zu professionellen Beratern und Therapeuten – auch die gab es damals nicht und der Fluch war sicher oft eine gute Therapie.

Segnen und fluchen nur mit Gott

Segen und noch mehr Fluch stehen unter Magieverdacht. Aber Fluch im Alten Testament hat nichts mit Zauberei zu tun. So heisst es im Buch der Sprüche: «Wie ein Spatz wegflattert, so ein unverdienter Fluch» (Spr 26,2). Der Seher Bileam soll Israel im Auftrag Balaks, des Königs von Moab, im Hinblick auf den geplanten Krieg verfluchen. Aber das geht nicht, weil JHWH es nicht will: «Wie soll ich fluchen, wem Gott nicht flucht?» (Num 23,8). Umgekehrt hält König David seine Leibgarde davon ab, den ihn mit Steinen bewerfenden und als Blutmensch beschimpfenden Simei umzubringen, weil David annimmt, dass Gott Simei geheissen habe zu fluchen (2 Sam 16). Fluchen gegen Gottes Willen ist nicht möglich, Flüche im Keim zu ersticken, wenn sie von Gott kommen, ist ebenfalls nicht möglich. Menschen haben keine autonome Macht beim Segnen oder Fluchen, sie stehen dabei in einem Dienst. Wenn sie wirklich im Sinne Gottes handeln oder sprechen, wird sich das zeigen, und dann hat ihr Handeln und Sprechen Kraft und Wirkung. Wenn nicht, dann verfliegen Flüche ohne Folgen.

Welchen Teil dieser biblischen Tradition sollten wir behalten oder wieder zurückholen in unseren Alltag, unser Sprechen, unsere Literatur, unsere Gebete, die Liturgie? Das Segnen von Häusern und Menschen ist weniger problematisch als eine Verweigerung des Segens oder gar der Fluch, diente er doch Obrigkeiten, gerade auch in der Kirchengeschichte, als Machtinstrument, z. B. in Gestalt des sog. Bannstrahls (Anathema) gegen Andersdenkende. Es gibt jedoch Lebenssituationen, in denen sich Menschen missbraucht, ausgeliefert, um ihr Leben betrogen sehen. Ist ein Fluchen, wie die Psalmenbeterinnen und -beter es praktizieren, dann nicht eine hilfreiche Ermächtigung, ein Schritt, um sich wieder aufzurichten? Fluchen ist ein Mittel gegen die Ohnmacht, die Verbitterung. Wer flucht, rechnet mit Gott und stellt Gott anheim, das Blatt auch wieder zu wenden. Unrecht und Enttäuschungen sollen nicht das letzte Wort behalten, aber auch nicht Selbstgerechtigkeit oder gar Selbstjustiz. Ist der Fluch nicht auch dann gefordert, wenn Menschenleben oder die Grundlagen des Lebens auf dieser Erde vernichtet werden? Es gibt nicht nur diese «Entwicklungen», sondern leider auch dafür verantwortliche Menschen. Sie stehen – nach biblischem Verständnis – bereits unter dem Fluch Gottes. Wer Genozide veranlasst oder zulässt, ist verflucht. Wer Menschenhandel organisiert und davon profitiert, ist verflucht. Wer sich solchen Kräften entgegenstellt, ist gesegnet. Nach biblischem Verständnis ruft der Segen Gottes nach dem Segen der Menschen, und der Fluch Gottes ruft nach unserem Fluch. Zu beidem sind wir ermächtigt. Die Wirkung der menschlichen Worte, die Segen oder Fluch formulieren und bekräftigen, liegt jedoch in Gott und Gottes Gerechtigkeit.

Silvia Schroer

 

1 Ausführlicher wird der enge Zusammenhang von Segen und Fluch in der alttestamentlichen Tradition mit vielen Beispielen und Bildmaterial aufgezeigt in: Staubli, Thomas / Schroer, Silvia, «Vom Segnen und Fluchen», in: Menschenbilder der Bibel, Ostfildern 2014, 552–558; vgl. auch Schroer, Silvia, Der Fluch von der Kanzel und andere Irritationen. Leonhard Ragaz und das Erste Testament, in: Neue Wege 101 (2007), 4–11.

2 Vgl. Wyss, Stephan, Fluchen: ohnmächtige und mächtige Rede der Ohnmacht. Ein philosophisch-theologischer   Essay zu einer Blütenlese, Freiburg i. Ü. 1984.

 


Silvia Schroer

Prof. Dr. theol. Silvia Schroer (Jg. 1958) ist katholische Theologin. Seit 1997 ist sie Professorin für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Bern, zurzeit Vizerektorin der Universität Bern. Sie ist bekannt durch zahlreiche Publikationen zu Ikonographie und Religionsgeschichte Israels/Palästinas, Schöpfungstheologie, biblischer Anthropologie sowie feministischer Exegese und Genderforschung.

 

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