Existentielles Ringen um den Willen Gottes

Tag des Judentums (2. Fastensonntag): Gen 22,1–2.9a.10–13.15–18; Röm 8,31b–34; Mk 9,2–10.

Seit 2011 wird in der Schweiz am zweiten Fastensonntag der "Tag des Judentums" gefeiert (vgl. Amtlicher Teil in der vorliegenden SKZ-Ausgabe). Die Schweizer Bischofskonferenz hat diesen Tag eingeführt, "damit wir uns erneut der jüdischen Wurzeln des Christentums bewusst werden und dem Dialog mit dem Judentum neue Impulse geben".1 Der zweite Fastensonntag wurde trotz offensichtlicher Schwierigkeiten (Fastenopfer-Kampagnenzeit, Krankensonntag) nicht zuletzt deshalb dafür ausgewählt, weil die von der Leseordnung an diesem Sonntag vorgesehenen Texte in allen drei Lesejahren wegweisende Perspektiven für ein besseres Verständnis der jüdischen Wurzeln des Christentums eröffnen. Was können wir also von Jüdinnen und Juden bei der Lektüre dieser Texte für unsere eigene, christliche Theologie lernen?

Das aktuelle Lesejahr B sieht einen Ausschnitt aus Gen 22 vor, einem der schwierigsten Texte der Bibel überhaupt: die "Bindung Isaaks", wie die Szene von Jüdinnen und Juden in der Regel genannt wird. Schon der Unterschied zum üblichen christlichen Sprachgebrauch, der von der "Opferung Isaaks" spricht und darin in allegorischer Schriftauslegung häufig ein Vorausbild der Kreuzigung Jesu sieht, markiert massive Unterschiede in der Interpretation. Hier soll jedoch keine christologische Lektüre von Gen 22 gepflegt, sondern gefragt werden, was die genuin jüdischen Auslegungen von Gen 22 zu einem tieferen Verständnis spezifisch christlicher Identität und Theologie beitragen können.

Gen 22 in jüdischer Auslegung

An der überaus reichen jüdischen Auslegungstradition von Gen 22 fällt (mir) vor allem auf, wie sehr jüdische Schriftauslegung mit diesem Text ringt und ihn dabei "gegen den Strich" liest. Das Entsetzen, das wohl alle Leserinnen und Leser von Gen 22 befällt, wird in jüdischer Lektüre gerade nicht durch vorschnelle Hinweise auf die fromme theologische Interpretation, Gott habe Abraham eben auf die Probe stellen wollen (Gen 22,1), hinweg erklärt. Im Gegenteil: In jüdischen Auslegungen von der Antike bis in die Gegenwart hinein werden sämtliche Leerstellen des Textes kreativ gefüllt und in alle möglichen Richtungen gedreht und gewendet. So wird die verstörende Wirkung der Erzählung in grösstmöglicher Tiefe ausgelotet und zugleich der vordergründig eindeutige Sinn des Textes und die Authentizität des Auftrags Gottes in Frage gestellt.2 Die Midraschim zu Gen 22 erzählen z. B. von einem Dialog mit Gott, bei dem Abraham dem Auftrag zu entkommen sucht, indem er vorgibt, nicht zu wissen, welchen Sohn Gott meint. Sie führen ins Feld, dass Isaak, der nach jüdischer Tradition zum Zeitpunkt der Erzählung 37 Jahre alt ist, selber in das Geschehen eingewilligt habe. Und sie erklären den direkt nach Gen 22 erzählten Tod Saras als Folge ihres Schocks über die Beinahe-Tötung Isaaks. Der Sprecherwechsel vom (auftraggebenden) "Gott" (hebr. ha-elohim) in 22,1 zum (innehaltenden) "Engel JHWHs" in 22,11 ff. wird so interpretiert, dass Gott enttäuscht gewesen sei: Abraham habe die Prüfung eben gerade nicht bestanden – die von Gott erwartete, angemessene Reaktion wäre ultimativer Widerstand gegen diesen Auftrag gewesen. Die Prüfung (oder Versuchung?) Abrahams wird – ähnlich wie im Hiob- Buch – zudem als Initiative Satans dargestellt, und schliesslich wird sogar der Auftrag Gottes nicht als Auftrag zur Tötung/Opferung Isaaks, sondern lediglich als Auftrag zum "Hinaufführen" Isaaks auf den Berg gedeutet, was die Buber-Rosenzweig-Übersetzung in der Formulierung "höhe ihn dort zur Darhöhung" ausdrückt. Schlussendlich wird das verzweifelte, aber viel zu oft unausweichliche Sterben- Sehen jüdischer Kinder durch ihre Eltern in den ungezählten Situationen von Verfolgung und Kreuzzügen, Pogromen und Shoah als unerträglich-bittere Aktualisierung der Abraham-, Isaak- und Sara-Erzählung verstanden. "Die Aqedat Jitzchaq [Bindung Isaaks] stellte für das jüdische Volk in Zeiten der Verfolgung und Vernichtung ein Modell der Leidensbewältigung dar, das einem unbegreiflichen Unglück einen Sinn und die Würde des Martyriums verlieh, es tröstend in die solidarische Gemeinschaft der Opfer der jüdischen Geschichte einband."3

Vom Judentum lernen

In der jüdischen Exegese wird um die Bindung Isaaks und um den in dieser Erzählung erkennbaren Willen – oder Nicht-Willen! – Gottes gerungen wie um kaum etwas anderes. Keiner jüdischen Auslegung geht eine Interpretation von Gen 22 leicht von der Hand. Es ist nun gerade diese Tradition des existentiellen Ringens um den unbegreiflichen Willen Gottes, in der auch Paulus steht, wenn er in der zweiten Lesung des zweiten Fastensonntages schreibt, dass Gott "seinen eigenen Sohn nicht verschont" habe (Röm 8,32). Es ist dieselbe Tradition, in der der Evangelist Markus erzählt, Jesus habe den engsten Dreierkreis seiner Jüngerinnen und Jünger sechs Tage nach der ersten Leidensankündigung (Mk 8,31 ff.) auf einen hohen Berg mitgenommen, um dort im mystischen Gespräch mit Mose und Elija Klarheit über seinen eigenen (Leidens-)Weg zu erhalten und auch seine Jünger anschliessend darüber zu belehren (Mk 9,2–13; vgl. Lk 9,31!). Beide Lesungen und auch das Evangelium des zweiten Fastensonntages ringen also auf Leben und Tod mit einem Gott, der sich trotz aller Menschennähe und Zuwendung in seinem (von Menschen so interpretierten!) Handeln oder Nicht-Handeln, Sprechen oder Nicht-Sprechen immer wieder auch als vollkommen unbegreiflich und verstörend erweist.

Es gehört wohl zu den grössten Herausforderungen des Glaubens, unseren eigenen Lebens- und Glaubensgeschichten gerade in höchst persönlicher, existentieller Gefährdung oder Gottes-Verstörung das Bekenntnis abzuringen, dass wir es immer noch mit demselben, liebenden Gott zu tun haben, der uns vom Mutterleib an erwählt hat (Ps 22,11 u. ä.). Abraham, Paulus und Jesus ist dies nach Zeugnis der Schrift gelungen. In den Schoss gefallen ist es ihnen ganz und gar nicht. Deshalb sei die Frage erlaubt: Gehen uns solche Bekenntnisse oft nicht allzu leicht von den Lippen? Stimmen wir nicht allzu unerschrocken (und konkretem Leid gegenüber abgestumpft) in die nachösterlich verklärten Worte Jesu ein: "So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass …" (Joh 3,16)? Von unseren jüdischen Wurzeln und den jüdischen Auslegungen zu Gen 22 können wir lernen, wie existentiell um den Willen Gottes gerade in verstörenden Zeiten gerungen werden sollte, wenn das anschliessende Bekenntnis – gerade auch zum gekreuzigten und erhöhten Herrn – nicht hohl und falsch klingen und einem problematischen Gottesbild Vorschub leisten soll.

1 Bischof Felix Gmür in den Handreichungen der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission zum Tag des Judentums 2012, 3.

2 Vgl. Verena Lenzen: B: Gen 22,1–18: Das Opfer von Abraham, in Jüdisch/ Römisch-katholische Gesprächskommission (Hrsg.): Tag des Judentums. Wegleitung (abrufbar unter www.kirchenzeitung.ch, SKZ-Ausgabe Nr. 7–8/2015), 35–41, sowie die Beiträge von Dieter Bauer in: SKZ 177 (2009), Nr. 9, 139, und Winfried Bader in: SKZ 176 (2008), Nr. 11, 183.

3 Verena Lenzen (wie Anm. 2), 40.

 


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.