Erinnerungen an Karl Rahner (1904 – 1984)

Ein unveröffentlichter Vortrag von Franz Kardinal König von 1994

Die Zwischentitel sind von der Redaktion gesetzt und die Anmerkungen nach der Verifizierung ergänzt oder gestrichen.

Ich habe nicht die Absicht, Ihnen in einer grossen Vorlesung Karl Rahners grosses Lebenswerk zu schildern, seine Stellung in der Theologie der Neuzeit, seinen Einfluss auf den Gang der Kirche und im geistigen Ringen unserer Tage zu erörtern. Ich möchte schlicht und einfach berichten, erzählen, warum ich den damals noch nicht so bekannten Innsbrucker Professor Rahner als Konzilstheologen nach Rom zur grossen Kirchenversammlung des Zweiten Vatikanischen Konzils mitgenommen habe. Ich will versuchen, Ihnen ein wenig zu zeigen, welche theologischen Ideen er mitbrachte, wie er als Konzilstheologe tätig sein konnte und welchen Einfluss er damit auf verschiedene Teile des Konzilsgeschehens hatte.

Bischof Karl Lehmann meinte vor einiger Zeit, die Geschichte des Einflusses Karl Rahners auf das Zweite Vatikanische Konzil müsse erst geschrieben werden. Dem stimme ich gerne zu, füge aber meinerseits hinzu: Es dürfte nicht leicht sein, den Einfluss Rahners in vielen Gesprächen auf die Kommissionsmitglieder, auf verschiedene Bischöfe aufzuspüren, die ihn in den Konzilsjahren in verschiedenen Vorträgen in ihre Sprachgruppen einluden. Mir selbst aber ist es hier ein noch grösseres Anliegen, zu zeigen, wie Rahner selbst durch das Konzilsgeschehen in seiner Gedankenweit angeregt und wiederholt beeinflusst wurde.

Die Ankündigung eines Konzils im Januar 1959 durch den damals bereits betagten Papst Johannes XXIII. hatte eine grosse Überraschung ausgelöst. Sie wirkte wie ein Fanfarenstoss innerhalb und vielleicht noch mehr ausserhalb der katholischen Kirche. Nach den umfassenden Vorbereitungen, der Befragung des gesamten Weltepiskopates zum Konzilsthema, fand die Eröffnungssitzung am 11. Oktober 1962 statt. Es bleibt mir unvergesslich, wie ich damals als relativ junger Erzbischof von Wien, die bischöfliche Mitra auf dem Haupte, in die Peterskirche mit eingezogen bin, inmitten einer kaum übersehbaren Zahl von Bischöfen aus der ganzen Welt, verschiedenen Rassen und Sprachen. Inmitten dieser Menge zog ich in die Peterskirche ein, das Längsschiff der Peterskirche mit den links und rechts aufgebauten langen Sitzreihen war für den Beginn des Konzils mit seinen zweieinhalbtausend stimmberechtigten Konzilsvätern gerüstet. Einige Sätze aus der Eröffnungsansprache des Papstes Johannes XXIII. klingen mir gewissermassen heute noch in den Ohren: Er warnte davor, sich so zu verhalten, als habe sich in der Geschichte dauernd alles zum Schlechteren gewandt. Die Bischöfe sollten nicht allein für das Interesse haben, was alt und vergangen ist, sondern – wörtlich: «furchtlos das verwirklichen, was die Gegenwart erfordert». Man solle deswegen nicht immer auf die «Unglückspropheten» hören, als ob in der Gegenwart nur Untergang zu registrieren wäre.

Die Berufung Karl Rahners

Aber bereits in der Vorbreitung auf das Konzil war ich entschlossen, von meinem Rechte Gebrauch zu machen, einen theologischen Berater, einen «Peritus», als Konzilstheologen zur Kirchenversammlung mitzunehmen. Ich überlegte damals nicht lange, sondern bat den mir bereits bekannten Dogmatikprofessor an der Innsbrucker Theologischen Fakultät aus dem Jesuitenorden, mein theologischer Berater beim Konzil zu sein. Ich hatte Professor Rahner noch in den Jahren der Kriegszeit näher kennengelernt, als er im Wiener Seelsorgeinstitut des Prälaten Karl Rudolf (1886–1964) ein bekannter Mitarbeiter wurde. Ich griff damals kurz entschlossen zum Telefon und teilte dies Professor Rahner in Innsbruck mit. In seiner manchmal etwas mürrischen, aber trotzdem herzlichen Art meinte er am anderen Ende des Telefons: «Ja, wie stellen Sie sich das denn vor? Ich war noch nie meinem Leben in Rom. Es scheint, dass man gegen meine Lehr- und Schreibweise bereits Bedenken habe. Was werden also die Römer sagen, wenn ich da plötzlich als Konzilstheologe auftauche?» – Rahner wusste, dass er auch in seinem Orden in Rom bereits Gegner hatte, angesichts seiner neuen Art, Theologie zu betreiben. Trotz der Bedenken und Einwände hat er dann auf mein Zureden hin meine Einladung doch angenommen.

Für mich war es damals nicht unwichtig zu wissen, dass Rahner ab 1934, das heisst, zwei Jahre nach seiner Priesterweihe, als Schüler des Freiburger Philosophen Martin Heidegger, sich mit philosophischen Fragen, vor allem auch mit der zeitgenössischen Geistesgeschichte, auseinanderzusetzen hatte. Martin Heidegger, ein Nachfolger auf dem Lehrstuhl von Edmund Husserl, war als Begründer der Existenzphilosophie damals bereits bekannt. Durch sein Bemühen, die abendländische Ontologie mit seiner Lehre vom Sein neu zu begründen, übte er eine beachtliche Anziehungskraft aus. In den Jahren nach dem Kriege, ich war damals Religionslehrer und Studentenseelsorger, erzählte mir Rahner gelegentlich, dass er bei Heidegger nicht zuletzt gelernt habe, dass es nicht nur darauf ankomme, was man sagt, sondern vor allem auch, wie man es sage. In dieser Hinsicht ist der spätere Dogmatiker, mit seiner Selbsttranszendenz, mit seiner theologischen Anthropologie, zumindest unbewusst, so scheint mir, von Heidegger beeinflusst worden.

Nicht alle Bischöfe hatten als Konzilsteilnehmer die Absicht, einen Mitarbeiter für die vorzubereitenden Texte, für die Diskussionen und Konferenzen zu gewinnen. Er sollte mir, so dachte ich mir damals, einerseits helfen, die grösseren Zusammenhänge besser zu erkennen; andererseits sollte er helfen, die Glaubenslehre, die christliche Weltanschauung so darzustellen, dass sie vor allem die Menschen von heute trifft und nicht an ihnen vorbeigeht. Das Grundanliegen Rahners war der Mensch sowie der Dienst der Theologie an der Seelsorge.

Es komme, so meinte er, und das war auch meine Meinung, nicht nur darauf an, etwas Richtiges zu sagen, das zu wiederholen, was andere bereits in schönen Sätzen und Formulierungen zu Buch gebracht hatten, sondern es so zu interpretieren, dass wir mit der Glaubensbotschaft auf die Menschen von heute zugehen und es ihnen so darlegen, dass sie es auch verstehen können. Denn der Auftrag des Auferstandenen lautete nicht, den Glauben hinter verschlossenen Türen zu bewahren und zu hüten, sondern: «Geht hinaus in alle Welt und verkündet die Frohe Botschaft!»

Kritisch beurteilte Textentwürfe

Die in der Vorbereitungszeit ausgesandten zahlreichen Entwürfe und Vorschläge für das Konzil sah Rahner für mich durch und beurteilte sie sehr kritisch. So äusserte er sich zum Beispiel einmal in Bezug auf die Verfasser dieser vorbereitenden Texte in einem seiner Briefe an mich folgendermassen: «Die Verfasser (d. h. dieser Textentwürfe) haben bestimmt noch nie die Nöte des bekümmerten Atheisten und Nichtchristen gelitten, der glauben will und meint, nicht glauben zu können.» – Bei einer anderen Gelegenheit schrieb er mir: «Nein, diese Schemata (Entwürfe) tun nicht alles, was man tun kann; sie sind die Elaborate der gemächlich Selbstsicheren, die ihre Selbstsicherheit mit der Festigkeit des Glaubens verwechseln, (…) es sind die Elaborate von guten und frommen Professoren, (...) selbstlos, aber einfach der Situation von heute nicht gewachsen.» – Es gab aber auch Textentwürfe, die vor dem kritischen Urteil Rahners wohl standhalten konnten.

Eine Konkurrenzanfrage aus München

Im Frühjahr 1962, also einige Monate vor Konzilsbeginn, ergab sich für mich plötzlich eine Schwierigkeit: Der damalige Erzbischof von München, Julius Döpfner, der Rahner bei einem Vortrag kennen gelernt hatte, versuchte ohne mein Wissen an Rahner heranzutreten, um ihn ebenfalls als Konzilstheologen einzuladen. Rahner war zunächst etwas unsicher, ob er nicht dieses Angebot des Münchner Kardinals annehmen sollte; auf meinen Einwand, dass österreichische Bischöfe mit Freude wahrgenommen hätten, dass Karl Rahner als mein Konzilstheologe nach Rom ginge, hat er sich doch für Österreich entschieden: Am 17. April 1962 schrieb er mir unter anderem, nach einer klärenden Aussprache mit Kardinal Döpfner könne er mir mitteilen: «Somit kann ich mit Dank die Aufforderung Eurer Eminenz annehmen, als Konzilstheologe mit nach Rom zu gehen. Ich danke Ihnen und der ganzen österreichischen Bischofskonferenz für diesen ehrenvollen, wenn auch mühsamen Auftrag.»1

Rahner hatte sich der mühsamen Aufgabe unterzogen, alle Textentwürfe, die von den vorbereitenden Kommissionen erstellt wurden und jeweils den Bischöfen zur Begutachtung zugesandt worden waren, kritisch durchzusehen und mir darüber zu berichten. In Rom war anfangs eine spürbare Zurückhaltung des damaligen Kardinals Alfredo Ottaviani, des Präfekten des Heiligen Offiziums, heute der Glaubenskongregation, zu spüren. Rahner wurde trotz allem Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission, die als wichtigste der vom Konzil selbst aufgestellten zehn Kommissionen galt. Als offizielles Mitglied der Theologischen Kommission (theologischer Berater, Peritus) – was an sich keine Selbstverständlichkeit war – arbeitete Rahner an entscheidender Stelle mit, an der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, am Dokument über die göttliche Offenbarung (Dei verbum), und war viel beschäftigt mit den Änderungsvorschlägen aus den Plenarsitzungen, die es zu begutachten bzw. einzuarbeiten galt. Rahner arbeitete auch an dem umfangreichen Dokument «Kirche und Welt» mit. Seine Mitarbeit wurde in den Kommissionen immer mehr geschätzt, und sein theologisches Grundanliegen wurde so weithin bekannt. – In sehr bescheidener Weise meint Rahner dazu selbst: «Wenn – nicht nur ich – aber gewisse Theologen am Anfang des Konzils nicht ein so gutes Einvernehmen mit den Bischöfen gehabt hätten, wären vielleicht die Weichen nach menschlichem Ermessen ganz anders gestellt worden, als es de facto geschehen ist.»2 Dies ist auch der Grund, warum praktisch keiner der zahlreichen vorkonziliaren Textentwürfe vom Konzil angenommen wurde.

Bereits während der ersten Konzilssession konnte ich feststellen, wie Rahner sich in lebhaften Gesprächen mit Kardinal Ottaviani unterhielt. Kardinal Ottaviani hatte alle Bedenken, die er eventuell vorher hatte, bereits zurückgestellt. – Für mich selbst war Rahner ein bewährter Mithelfer, wenn es darum ging, meine Reden auf dem Konzil vorzubereiten und die Diskussionsbreite abzustimmen.

Drei Antworten auf drei Fragen

Damit versuche ich, Rahners engagierte Teilnahme am konziliaren Geschehen, und nicht zuletzt den Einfluss des Konzils auf Rahners Gedankenwelt kurz zu skizzieren, durch eine Antwort auf drei Fragen:

1. Wie beurteilte Rahner selbst die Bedeutung des Konzils?

2. Wie weit ist Rahners Vorstellung vom «Anonymen Christen» durch das Konzil motiviert?

3. Wie sieht Rahner die Kirche auf dem Weg ins dritte Jahrtausend?

Zum Ersten: In seinen «Schriften zur Theologie», Band XIV, aus dem Jahre 1980 geht Rahner in einem eigenen Beitrag auf die bleibende Bedeutung des Konzils etwas ausführlicher ein,3 und dies erfolgte etwa 15 Jahre danach. Eine solche Frage, welche Bedeutung das Konzil für die Kirche habe, so meinte er, gehe alle Christen an, denen die Kirche noch etwas bedeutet.

Manche seiner Gedanken, die er in diesem Zusammenhang formuliert, finde ich als seinerzeitiger Konzilsteilnehmer sehr originell und zutreffend. Das heisst, in seiner Sicht hat das Konzil die Kirche selber als Ganzes vor neue Aufgaben gestellt und bedeutete damit eine neue Herausforderung. Für ihn – und ich muss hier ganz persönlich voll zustimmen – ist die Kirche auf dem Konzil zum ersten Mal als Weltkirche in Erscheinung getreten; das letzte Konzil war so der erste Akt in der Kirchengeschichte, mit dem die Kirche sich als Weltkirche deklarierte, in der sie «amtlich» als solche gehandelt hat. Sie sei – als eine bisher «europäisch-abendländische Kirche mit europäischen Exporten in alle Welt» – durch das letzte Konzil eine Weltkirche geworden. Wörtlich meinte Rahner: «Diese Weltkirche hat in der Dimension der Lehre und des Rechtes auf dem letzten Konzil zum ersten Mal in ihrer geschichtlichen Deutlichkeit gehandelt.»4 Das habe sich gezeigt durch die Anwesenheit eines Weltepiskopates wie früher nie zuvor; das zeigte sich in der Vielfalt der Rassen, Sprachen und Kulturen, die über alle Kontinente entsprechend verteilt waren. Im Gegensatz dazu sei es beim ersten Vatikanum vor ca. 100 Jahren «ein in alle Welt exportierter Episkopat von europäischen Missionsbischöfen» gewesen.

Das heisst also: Die Weltkirche als solche trat damals in Erscheinung durch die Aufhebung der lateinischen Kultsprache; dies zeigte sich durch ihr Bekenntnis zur Religionsfreiheit, das heisst zur Ablehnung jedes staatlichen Zwanges und Einflusses. Das zeigte sich in dem Dokument «Gaudium et Spes» mit dem neu geordneten Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft, zur Wissenschaft, zu allen anderen Lebensbereichen. Die Kirche hat es aufgegeben, in manchen Ländern Staatskirche zu sein, und gab damit zugleich ein Stück Macht auf.

Ein anderes Anliegen Rahners: Die bis zum Konzil alles beherrschende, «neue scholastische Theologie» war für ihn ein Reizwort und erregte auf der ganzen Linie seinen Widerspruch. Auch dies sollte im Verlaufe des Konzils sich ändern. In der Folge spricht man von einer «Theologie des Konzils».

Die «Theologie des Konzils»

Die «Theologie des Konzils», wie sie sich im Verlaufe der Beschäftigung mit den Konzilsthemen auf Weltebene entwickelte, war biblischer orientiert als die bisherige neue Scholastik. Sie war etwas nüchterner und übte eine Bremswirkung aus auf manchen theologischen Überschwang früherer Zeiten. Eine solche Theologie wollte zeigen, dass es nicht nur auf das Dogma in der Kirche ankomme, sondern auf alles andere, was theologisch sei. Mit einem Wort: Die von Rahner selbst als Theologie des Konzils bezeichnete Theologie versuchte, jene defensive Einstellung des 19. Jahrhunderts zu überwinden; versuchte, die Probleme der Zeit mitzubedenken und damit die grösseren Zusammenhänge des christlichen Welt- und Menschenbildes verständlicher zu machen. Für Rahner ist es daher mehr oder weniger selbstverständlich, dass sich im Laufe der Zeit auch ausserhalb Europas eigenständige Theologien in den anderen Kulturkreisen und Kontinenten entwickeln würden. Die Theologie der Befreiung in Südamerika war für ihn bereits ein Beispiel dafür.

Das Zweite Vatikanische Konzil brachte auch, im Sinne Rahners, eine Zäsur in Bezug auf die Geschichte des Verhältnisses der katholischen Kirche zu den anderen nichtkatholischen christlichen Kirchen wie auch zu den nichtchristlichen Religionen. Keine andere Religion setzt sich selbst so absolut wie das Christentum, welches als eine und einzige Offenbarung des lebendigen Gottes in Christus bekannt und gelebt wird. Früher waren die anderen Religionen solche eines anderen Kulturkreises, am Rande des eigenen Lebensbereiches. Die anderen Religionen waren daher kaum eine Frage an die einzelnen Christen. – «Heute ist das anders; jeder ist heute Nachbar und Nächster infolge unserer planetarisch gewordenen Kommunikation.» Jede Religion, so könnte man sagen, ist heute eine Frage für jeden geworden; und ist so auch eine Herausforderung des endgültigen Anspruches der Christen.

Eine Antwort der Religionswissenschaft lautet einfach: Die Geschichte der Religionen in unserer Welt ist heute ein Hinweis auf die in jeden Menschen hineingeschriebene Selbsttranszendenz, ein Hinweis auf ein letztes Geheimnis, aus dem wir kommen und wohin wir gehen. Daher führt heute die Religionswissenschaft, nicht die Dogmatik allein, zu der Frage: «Wer ist Jesus Christus? Ist er nur ein grosser Mensch oder der Sohn Gottes?»

Die Kirche als Ursakrament eröffnet daher neue Perspektiven auf der Weltebene, inmitten der Religionen. Der Dogmatiker ist damit in der Lage, auf neue Zusammenhänge hinzuweisen. Rahner deutet dies an mit dem Hinweis auf Paulus auf dem Areopag, der seinen Zuhörern sagte: «Was ihr nicht kennt und doch verehrt, das verkündige ich euch.» Und Rahner fügte hinzu: Die Offenbarung Christi und der damit gegebene Anspruch ist etwas Neues in der Geschichte der Menschen. Es ist der Hinweis auf den allgemeinen Heilswillen Gottes, der keinem Kulturkreis verhaftet ist.

Das Konzil habe daher, so Rahner, eine «neue Haltung gegenüber den anderen Christen und den nichtchristlichen Religionen ausdrücklich eingenommen».5 Das Konzil habe damit den Heilspessimismus eines Augustinus überwunden. Es sei ein langer und schwieriger Weg gewesen, der dazu führte, dass heute nach der Lehre des Konzils die Zahl der Geretteten nicht mehr identisch ist mit denen, die innerhalb der christlichen Kirche sich befinden.

Es ist fast ergreifend, wie Rahner in einem solchen Zusammenhang über die bleibende Bedeutung des letzten Konzils spricht: «Die Kirche ist auf diesem Konzil neu geworden, weil sie Weltkirche geworden ist; und sie sagt als solche an die Welt eine Botschaft, die – obzwar dies immer schon der Kern der Botschaft Jesu war – heute doch bedingungslos und mutiger als früher ist und also neu verkündigt wird. In beider Hinsicht, im Verkündiger und in der Botschaft, ist etwas Neues geschehen, das irreversibel ist und das bleibt. Ob wir in der dumpfen Bürgerlichkeit unseres kirchlichen Betriebes hier und jetzt dieses Neue ergreifen und leben, das ist eine andere Frage, es ist: unsere Aufgabe.»6

Der «anonyme Christ»

Damit komme ich zur zweiten Frage: Wie sieht Rahner seine «anonymen Christen» in Verbindung mit dem Konzil? In Verbindung mit dem Heilsoptimismus, wie er auf dem Konzil des öfteren seinen Ausdruck gefunden hat, erhielt das Stichwort vom «anonymen Christen» eine neue Dimension. Rahner hatte sich bereits früher des öfteren mit der Frage des «anonymen Christen» beschäftigt.

Anita Röpers Buch vom Anonymen Christen, das 1963 erschien und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, hatte eine neue Diskussion in Gang gesetzt und verschiedene negative Kommentare ausgelöst.7 Im Band X (1972)8 seiner Theologischen Schriften nimmt Rahner noch einmal ausführlicher aus der Sicht des Konzils zum «anonymen Christen» Stellung. Rahner selbst hat das Wort vom «anonymen Christen» nicht für wesentlich gehalten und meinte: Solange man nicht in der Lage sei, ein besseres Wort dafür zu finden, wolle er es beibehalten. – Und ich füge hinzu: Ich kann verste-hen, dass der Ausdruck «anonymer Christ» von vielen als irreführend abgelehnt wird. Aber das, was Rahner damit meint, so füge ich hinzu, weist auf die neue Sicht eines Ursakramentes der Kirche hin, weist hin auf die neue Bedeutung des interreligiösen Dialoges. Das Anliegen selber aber kommt aus der seelsorglichen Einstellung Rahners, aus seinem Interesse für das Schicksal der Menschen in anderen Religionen.

Die damit verbundene Diskussion veranlasste Rahner, ausdrücklich auf den Konzilstext «Lumen gentium» Nr. 16 hinzuweisen, wo es heisst: «Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluss der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen.» Für Rahner ist es aber dann wichtig, darauf hinweisen zu können, dass im darauf folgenden Satz des Konzilstextes auch auf den schuldlosen Atheisten Bezug genommen wird, auf den dieser Sachverhalt ebenfalls zutreffe. – Im Dokument «Nostra aetate» heisst es ausdrücklich, dass auch jene, die in Schatten und Bildern den unbekannten Gott suchen, dem wahren Gott nicht ferne sind. Denn er will ja, dass alle Menschen gerettet werden, wenn sie sich bemühen, ein rechtes Leben zu führen. Der theologische Gedanke eines universalen Gottes hatte bereits einen langen Weg hinter sich: Eine solche Zuversicht des Heiles findet sich bereits bei Ambrosius mit seiner Vorstellung von den ungetauften Katechumenen; dieser Weg führt über das «Votum Ecclesiae» im Mittelalter und im Konzil von Trient bis hin zum «Votum implicitum» von Kirche und Taufe bei Pius XII. In einem solchen grösseren Zusammenhang meint Rahner, dass das Zweite Vatikanische Konzil die Heilsmöglichkeit des Nichtchristen positiver gefasst habe; wenn es auch hinzufügt, dass ein solches Heil auf Wegen erfolge, die Gott allein bekannt sind.

Für Rahner ist es daher wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass von einer solchen «Korrektur» einer bisher mehr oder weniger einheitlichen Schultheologie jetzt auch die Atheisten ausgenommen seien; dabei wird auch die bisher übliche Unterscheidung von positivem und negativem Atheismus nicht mehr verwendet. Die einzige Grenze ist daher, aus einer solchen Sicht, die gehorsame Treue zum eigenen Gewissen. Aus diesem Grunde ist für Rahner die Zuversicht in der Heilsfrage eines der «bemerkenswerten Ergebnisse» des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er habe sich gewundert, so fügte er hinzu, welch geringe Kontroversen solche Aussagen während des Konzils ausgelöst hätten: «Wie wenig», so wörtlich, «auch der konservative Flügel des Konzils in diesem Punkte Widerstand leistete, wie all dies ohne jedes Aufsehen über die Bühne ging, obwohl diese Lehre eine viel entscheidendere Phase der Entwicklung des kirchlichen Glaubensbewusstseins markiert als etwa die Lehre von der Kollegialität der Bischöfe in der Kirche oder die Lehre vom Verhältnis von Schrift und Tradition» in Verbindung mit der neuen Exegese.

Ohne auf die heute interessant gewordene Diskussion über eine Theologie der Religionen hier einzugehen (vgl. Max Seckler in Tübingen) ist diese These Rahners, vor allem auch in Verbindung mit dem kurzen Konzilstext «Nostra aetate», für Religionshistoriker bedeutsam geworden. Die Auseindersetzung des Christentums mit den nichtchristlichen Religionen hat mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf Weltebene ihren Anfang genommen.

Die Kirche auf dem Weg ins dritte Jahrtausend

Damit komme ich zur dritten Frage: die Kirche auf dem Weg in das dritte Jahrtausend, wie sie Rahner sieht. Im Jahre 1984, also in seinem Todesjahr, veröffentlichte Rahner in seinen «Schriften zur Theologie» Überlegungen zu einer Pastoral, «wie sie als Folge eines neuen Bewusstseins der Weltkirche» sich ergeben müsse.9 In seinen Überlegungen über die Zukunft der Kirche bezieht er sich zunächst auf die internationale Struktur des Vatikans, der römischen Kurie, wie sie seit Paul VI. in die Wege geleitet wurde; seine Frage lautete: Wie weit sind in der Verwaltung und Organisation der Kirche die Zurüstungen für das dritte Jahrtausend schon vorhanden?

Damit nimmt er auch Bezug auf die Mitverantwortung aller Bischöfe, des Bischofskollegiums, wie sie im Kirchendokument ausführlich als Ergänzung des Ersten Vatikanums behandelt wurde. Dabei weist er mit Recht darauf hin, dass der Jurisdiktionsprimat des Bischofs von Rom nicht einfach auf die sogenannte römische Kurie ausgedehnt werden könne. Denn der für eine Weltkirche notwendige Apparat hat, bei aller Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Papst, sein eigenes Leben, seine eigenen pastoralen und kirchlichen Auffassungen, die sich nicht immer einfach dem päpstlichen Jurisdiktionsprimat unterordnen. Daher nimmt Rahner immer wieder Bezug auf das «collegium episcoporum»; auf dem Konzil trat dieses sehr eindrucksvoll, in Verbindung mit dem Papst, in Erscheinung.

Die Schwierigkeiten beginnen aber gerade dann, wenn dieses Kollegium der Bischöfe nach dem Konzil, über die ganze Welt zerstreut, weder geografisch noch zeitlich in irgendeiner Form als Kollegium, auch ausserhalb des Konzils, in Erscheinung treten kann. Daher ergibt sich dann die Gefahr, dass in einem solchen Falle, de facto, aber nicht de iure, die Aufgabe des Weltepiskopates in einem gewissen Umfang vom zentralen Apparat wahrgenommen und übernommen wird.

Mit einer solchen Feststellung ist nur die Schwierigkeit aufgezeigt, aber noch keine Lösung in Sicht. Auch dürfen wir hier nicht bei einer europäischen Überlegung stehen bleiben, sondern müssen vor allem auch die Ansichten der aussereuropäischen Kontinente und Kulturkreise mitbedenken. – Die bevorstehende panafrikanische Konferenz wird ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang sein.

Auf dem Weg in die Zukunft wird die bereits begonnene Frage der Inkulturation immer mehr an Bedeutung gewinnen. Wie Ihnen bekannt ist, ist es der jetzige Papst, Johannes Paul II. selbst, der bei seinen Ansprachen und Reisen darauf hinweist, dass christlicher Glaube sich in den verschiedenen Kulturen der Weltkirche einwurzeln müsse.

«Überall», so stellt Rahner selber fest, «beobachtet man Schwierigkeiten und Lösungsversuche für die Frage, wie die Einheit der Kirche mit einem legitimen Pluralismus der Teilkirchen (Kulturen) vereinbart werden kann, sodass die Kirche wirklich als Weltkirche sich vollzieht und darstellt.»10 Mit anderen Worten könnte man auch fragen: Wie wird die Kirche, wie wird die katholische Christenheit in Zukunft die Spannungen verkraften, die sich aus der Einheit in Vielfalt bzw. der Vielfalt in der Einheit ergeben?

Diese neue Herausforderung der Weltkirche ist, nach Rahner, durch die neu werdende Einheit des Menschengeschlechtes, durch die Einheit globalen Planens und Handelns, besonders aktuell geworden.

Aber auch innerhalb unserer Kirche gibt es ähnliche Spannungen und Herausforderungen. Während sie bisher gesehen wurde als der «unerschütterliche Turm in der Brandung der Zeit – stat crux dum volvitur orbis», ist in der nachkonziliaren Diskussion von manchen Kreisen besorgt festgestellt worden: Durch das Konzil sei vieles in Frage gestellt worden, vieles verunsichert worden. Nicht wenige hätten daher das bittere Gefühl, von der Kirche im Stiche gelassen worden zu sein. Wenn man in einem solchen Sinne von «konservativ» spricht, so ist das wohl positiv zu verstehen, als Sorge um den rechten Weg und die Kontinuität in der Kirche.

Bei all dem legt Rahner grossen Wert darauf, den Unterschied deutlich zu machen, zwischen dem, was in der Kirche unveränderlich und unwandelbar ist; es ist dies der durch Schrift und Tradition festgelegte Offenbarungsglaube. Andererseits aber: Wandelbar ist in der Kirche das Bemühen, einer Welt im Wandel in der Sprache der Zeit diese Frohe Botschaft zu verkünden und zu erklären. Folgende Stelle macht dies sehr deutlich: «Die Kirche ist nicht das endgültig fest gebaute und möblierte Haus, in dem es nur den Wandel der es bewohnenden Generationen gibt, sondern eine lebendige Wirklichkeit, die selbst eine Geschichte gehabt hat und noch immer hat». – Von diesem Wandel handelt schliesslich auch die Kirchengeschichte.

Zu all dem stellt Rahner fest: «Die Kirche hat sich im Vatikanum II ausdrücklich und laut zu ihrer Weltverantwortung, zu ihrer Verantwortung für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt bekannt».14 In dieser Hinsicht habe sie in den letzten Jahrzehnten viel getan. Und er fährt dann fort: «Hat die Kirche heute den Mut, auch konkretere Forderungen für soziale Veränderungen, für den Frieden und für die Abrüstung zu erheben, auch wenn dann solche Ablehnung innerhalb der Kirche selber zu spüren ist?»

An dieser Stelle möchte ich übrigens hinweisen auf die ganz grosse Bedeutung der beiden Assisi-Treffen, zu denen der gegenwärtige Papst eingeladen hatte. Das erste Mal war es das Treffen der Weltreligionen, um die Verantwortung für den Weltfrieden damit sozusagen zu unterstreichen. Das zweite Mal, vor etwa einem Jahr, waren es die drei monotheistischen Religionen, die zum Gebet um den Frieden eingeladen waren.

Schlussbemerkungen

Zu dem, was der Konzilstheologe Rahner uns heute immer noch vermittelt und in einer sehr engagierten Weise vermittelt, lassen Sie mich noch einige persönliche Bemerkungen anfügen:

Alle Konzilien reflektieren auf ihre Weise das Ringen um die Einheit der Kirche. Es ist jene Sorge um die Einheit der Kirche, die Christus wollte und die er seinen Aposteln ans Herz legte. So war es zum Beispiel bereits das Anliegen des ersten ökumenischen Konzils von Nicäa (325), bei dem es um die drohende Kirchenspaltung durch Arius ging. Bereits damals bemühte man sich aber auch, in der Einheit die Botschaft des Evangeliums der Zeit verständlich zu machen. – Alle Beschlüsse, die auf den 21 ökumenischen Konzilien gefasst wurden, wirkten und wirken so in die jeweils nähere und fernere Zukunft. Sie wirken aber auch hinein in die staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche. Aus einer solchen Sicht hat auch das Zweite Vatikanische Konzil eine besondere Bedeutung für die Zukunft der Kirche, für unsere eigene Zukunft: Die zur Weltkirche herangewachsene christliche Glaubensgemeinschaft hat so die Defensivhaltung des 19. Jahrhunderts mit dem «Syllabus» überwunden und sich damit dem Dialog mit der Welt geöffnet.

Als Papst Paul VI. nach New York reiste und zu den Vereinten Nationen sprach, hiess es, dies sei ein völlig neuer Typus eines Papstes, der hinausging, um die Welt zu treffen. Es war aber auch, so füge ich hinzu, der Ausdruck eines neuen Kirchenbewusstseins, wie es mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil sich immer stärker manifestierte. Johannes Paul II. meinte vor einiger Zeit, dass Johannes XXIII. das Zweite Vatikanische Konzil in «prophetischer Voraussicht» einberufen hatte und dass die Kirche mit dem letzten Konzil einen «gewaltigen Sprung nach vorne» getan habe. Dieser gewaltige Sprung der Kirche nach vorne im letzten Konzil hat auf drei Gebieten eine Art Barriere überwunden: Einmal war es die Isolierung vom Volke durch die liturgische Erneuerung; dann war es die Isolierung von den getrennten Christen durch das neu entfachte ökumenische Interesse; und schliesslich war es die Isolierung der Kirche, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, von der Welt. Und dies alles soll durch eine neue Sicht der Pastoral mitten in dieser Welt von heute überwunden werden.

Wenn die Kirche mit dem letzten Konzil einen gewaltigen Sprung nach vorne getan hat, so ist es vor allem auch das kaum überschaubare Erbe Karl Rahners, der uns stets aufs Neue ermutigt, uns den Herausforderungen der Zeit zu stellen und den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, ohne durch übertriebene Kritik verunsichert in Mutlosigkeit steckenzubleiben. Für dieses Beispiel seines Lebens und seines Werkes möchte auch ich Karl Rahner hier vor Ihnen ganz herzlich danken.

 

1 Aufbruch im Konzil. Karl Rahner und Kardinal König, in: Entschluss 43 (1988), Nr. 6, 4–37, hier 24.

2 Vgl. Karl Rahner: Im Gespräch mit Meinold Krauss. Freiburg i. Br. 1984, 90.

3 Karl Rahner: Die bleibende Bedeutung des II. Vatikanischen Konzils, in: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. XIV. Zürich-Einsiedeln-Köln 1980 303–318.

4 Ebd., 304.

5 Karl Rahner: Schriften zur Theologie, Bd. VI. Zürich- Einsiedeln-Köln 1965, 312.

6 Ebd., 318.

7 Anita Röper: Die anonymen Christen. Mainz 1963.

8 Karl Rahner: Bemerkungen zum Proglem des «anonymen Christen», in: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. X. Zürich-Einsiedeln- Köln 1972, 531–546.

9 Karl Rahner: Schriften zur Theologie, Bd. XVI. Zürich- Einsiedeln-Köln 1984, 131–214.

10 Ebd, 147; zum Folgenden 147 ff.

Franz Kardinal König (Bild: kathbild.at, Rupprecht)

Franz Kardinal König

Franz Kardinal König (1905–2004) hielt den hier erstmals publizierten Vortrag am 28. Januar 1994 an der Theologischen Fakultät der Universität Münster im Rahmen der Feierlichkeiten zur Verleihung der Ehrendoktorwürde an den emeritierten Wiener Erzbischof.