Er hat gesprochen durch die Propheten und «Nostra aetate»

1. Das Band der biblischen Propheten

Die Bedeutung der Erklärung "Nostra Aetate" vom 28. Oktober 1965 zum Verhältnis von Kirche und jüdischer Religionsgemeinschaft kann für uns katholische Christinnen und Christen nicht überschätzt werden. Das Institut für jüdisch-christliche Forschung an der Universität Luzern, das von Clemens Thoma gegründet wurde und heute unter der Leitung von Frau Professor Verena Lenzen steht, hat am 4. Mai 2015 in Luzern eine vielbeachtete Tagung mit christlicher und jüdischer Beteiligung zu diesem Jubiläum veranstaltet. Gleichzeitig haben die Schweizer Bischofskonferenz und der Schweizerische Israelitische Gemeindebund vor genau 25 Jahren beschlossen, eine römisch-katholisch/ jüdische Gesprächskommission einzusetzen, die seither aktiv für fruchtbare Beziehungen zwischen Juden und katholischen Christen arbeitet.

2. "Er hat durch die Propheten gesprochen"

"Nostra Aetate" Nr. 4 erinnert an das Fundament des Zusammenhangs zwischen Kirche und jüdischem Volk: "Die Kirche kann nie vergessen, dass die Offenbarung des Alten Testamentes durch jenes Volk (das Volk der Israeliten und der Juden) (…) zu ihr gelangt ist". Die Christen haben den wahren Glauben an Gott aus der Hand der Juden empfangen.

Das Dokument der Offenbarung Gottes, in welcher die Kirche in jedem Augenblick ihres Daseins lebt, sind die Schriften der Bibel. Diese sind prophetisch, weil in ihnen Gottes Wort in Menschenwort gefasst ist. In der Tat, Propheten sind Menschen, die das übersinnlich-übersprachliche Wort des sich offenbarenden Gottes vernehmen und in menschliche Sprache kleiden. Durch sie wird es für andere Menschen hörbar. Für diese Vermittlung von Gottes Offenbarung waren Israels und Judas Propheten bestimmt und gesandt, und ihre Vermittlung bleibt ein von Gott geschenkter Vorzug bis auf den heutigen Tag für alle, die in ihren Schriften dem Wort Gottes begegnen, Juden und Christen.

3. Die prophetischen Schriften im Licht biblischer Textgeschichte

Die schriftliche Fassung der prophetisch vermittelten Offenbarung Gottes stand dem jüdischen Volk wohl spätestens im 4. Jahrhundert v. Chr. zur Verfügung. Das älteste erhaltene Zeugnis dieser Schriften ist paradoxerweise ihre griechische Übertragung, die um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. begann und grossenteils hundert Jahre später abgeschlossen war. Sie war ein jüdisches Werk, von Juden für Juden geschaffen, lange vor Entstehung des Christentums. Es sei angemerkt: Sie war eine kulturelle Pionierleistung ersten Ranges in der ganzen antiken Welt!

Ein Vergleich der altgriechischen Übersetzung, der sog. Septuaginta, mit der heutigen hebräischen Bibel zeigt viele Unterschiede, nicht nur in der Liste der übertragenen Bücher, sondern auch im Wortlaut. Diese überraschende Tatsache ist wenig bekannt. Die Unterschiede erklären sich durch theologisch und literarisch sorgfältig überarbeitete Ausgaben, die in den drei vorchristlichen Jahrhunderten wohl in Jerusalem und auch anderswo, z. B. in Sichem bei den Samaritanern, entstanden sind. Dies führte zu einer gewissen kontrollierten Vielfalt der biblischen Textgestalt, die sich ebenfalls in den am Toten Meer entdeckten Schriftrollen spiegelt. Sie rief eine theologische Frage auf den Plan: Wie durfte das durch die Propheten vermittelte Wort Gottes überarbeitet werden? Wer hatte das Recht dazu?

4. Die jüdische Antwort

Im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. entstand wahrscheinlich in Jerusalem eine neue Ausgabe der Schrift, die als gültig betrachtet wurde. Als Herausgeber dürfen wohl gelehrte Priester am Tempel vermutet werden, die gute alte Handschriften verwahrten und sich als berufene Treuhänder der prophetischen Schriften verstanden. Ihr Prinzip war einerseits Treue in der Weitergabe des prophetischen Wortes, das als Wort Gottes höchste Verehrung genoss, anderseits das Bestreben, mit Gott unvereinbar Scheinendes oder Korrekturbedürftiges gerade aus Sorge für die richtige Überlieferung behutsam zu begradigen. Diese Ausgabe wurde der Konsonantentext unserer heutigen hebräischen Bibel. Sie sollte alle früheren umlaufenden Ausgaben ersetzen. Man nennt sie heute rabbinische oder masoretische Bibel. Da die ältere jüdische Bibel, welche die Grundlage der Septuaginta war, oft anders lautete, wurde sie im Judentum alsbald fallen gelassen.

5. Die erste christliche Antwort

Auf christlicher Seite las man weiter die jüdische Septuaginta, die man im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. in Ägypten ins Koptische und in Nordafrika ins Lateinische zu übertragen begann. Die Christen glaubten, in ihr die prophetisch vermittelte Offenbarung des wahren Gottes zu finden. Die Unterschiede zu der hebräischen rabbinischen Bibel der Juden konnten jedoch nicht verborgen bleiben. Was sollte man tun? Eine Bibel behalten und die andere verwerfen?

Der bedeutendste Theologe der Kirche vor Augustinus, Origenes (um 185–257), sah das Problem in aller Schärfe. Er erstellte ein Verzeichnis aller Differenzen. Man nennt diese riesige Synopse Sechsspaltige Bibel, Hexapla. Nach eingehender Prüfung traf er eine bis heute in der katholischen Kirche grundsätzlich anerkannte Lösung: Beide Bibeln sollten nebeneinander beibehalten werden!

Wie kam er zu diesem Entscheid? In Ost und West des Römischen Reiches hatten die Christen nur über die griechische Bibel Zugang zum prophetisch vermittelten Wort Gottes, denn niemand konnte die hebräische Bibel lesen. Liturgie und Schriftlesung benützten die Septuaginta. Aber ohne das prophetische Wort kann es keinen Glauben an Gott und keine Gemeinschaft derer geben, die an ihn glauben, also keine Kirche geben. Daher muss man voraussetzen, dass der Heilige Geist, Urheber der Prophetie, diese griechische Bibel, einst von Juden für Juden geschaffen, als echtes Dokument der Offenbarung Gottes auch für die Kirche vorgesehen hat. Doch muss die Kirche ebenfalls die hebräische Bibel, so wie die Juden sie lasen, als echte heilige Schrift anerkennen, denn diese ist das Original – mehr als eine Übersetzung.

Mit dieser Theologie von zwei Fassungen der Bibel, die beide die Offenbarung Gottes echt widerspiegeln, erschwerte Origenes die Aufgabe der Auslegung erheblich. Denn zwischen den beiden stehen Gegensätze, die nicht oder nicht leicht vereinbar sind. Daher neigten spätere Jahrhunderte und Theologen immer wieder dazu, nur die rabbinische Bibel anzuerkennen. Hieronymus hat ein Stück weit diesen Weg versucht, später auch die Reformation. Aber die Mehrgestaltigkeit der prophetischen Worte ist auch ein Reichtum, den die katholische und einige orthodoxe Kirchen grundsätzlich anerkennen, ohne dessen Umfang genau zu kennen.

6. Zwei exemplarische Unterschiede

Wer die Ankündigung eines neuen Bundes bei Jeremia 31,31–34 mit Hebräerbrief 8,8–12 vergleicht, der sie aus der Septuaginta zitiert, wird in beiden ein spezifisches inhaltliches Profil feststellen. Oder die Entscheidung des sog. Apostelkonzils, Apg 15,12–18, dass die aus den Völkern zum Glauben an Jesus gekommenen Brüder und Schwestern nicht zuerst zum Judentum konvertieren müssen, beruht auf dem prophetischen Wort Amos 9,11– 12. Es trägt die Last des Beweises. Dieser setzt die griechische Form voraus. Das hebräische Wort geht in eine andere Richtung.

Beide Prophetenworte stammen aus zwei jüdischen Bibeln. Denn die Septuaginta beruht auf der hebräischen Vorlage einer jüdischen Bibel, die dann von Juden für Juden übersetzt worden ist.

7. Der Heilige Geist hat mannigfaltig durch die Propheten gesprochen

Wenn "Nostra Aetate" Nr. 4 hervorhebt, dass die Kirche die prophetisch vermittelte Fassung von Gottes Offenbarung in den biblischen Schriften aus der Hand der Juden empfängt, so heisst das konkret, dass sie diese in mehr als einer Form liest. Der Heilige Geist hat durch die Propheten des jüdischen Volkes in mannigfaltiger Weise gesprochen.

Adrian Schenker

Adrian Schenker

P. Dr. Adrian Schenker OP ist emeritierter Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg i. Ü. Er beschäftigt sich weiterhin mit Arbeiten über Textkritik und biblische Theologie des Alten Testaments und ist als Seelsorger tätig.