Epochale Wandlungsprozesse

Das Christentum wird die Boomreligion des 21. Jahrhunderts, konservativ und vom globalen Süden geprägt sein. Ein Blick auf die wachsende Pfingstbewegung in Afrika verdeutlicht die Transformationen.

Es spricht sich zweifellos herum, dass das weltweite Christentum derzeit geradezu tektonisch zu nennende Umbrüche erlebt. Diesbezüglich bekannte noch vor wenigen Jahren die in Boston lehrende Kirchengeschichtlerin Dana Robert eine gewisse Ratlosigkeit. «Wir erahnten zwar ungeheure Umwandlungen des Christentums», so Robert, «ohne aber angemessene Deutungsraster dafür zu haben und ohne das, was gerade geschieht, genau genug beschreiben zu können.»1

Solche Verunsicherung mag aus denkwürdigen Ungleichzeitigkeiten rühren. Schenkt man jüngsten Religionsmonitoren Glauben, überlagern sich europäische und zunehmend auch nordamerikanische Prozesse von Entkirchlichung mit einer postsäkularen Rückkehr von Religion in die Öffentlichkeit. Ist Religion insgesamt zu einer Haupttriebfeder der Geopolitik avanciert, so tritt gerade das Christentum als Hauptakteur auf der Bühne globaler Religionslandschaften auf. Spätestens mit den Zeitsignaturen, mit denen Philip Jenkins im letzten Jahrzehnt aufwartete, sind die epochalen Wandlungsprozesse weithin als Südverlagerung des Christentums popularisiert. Mit weit ausholender Prognose betrachtete er das Christentum, nicht etwa den Islam, als die Boomreligion des 21. Jahrhunderts. Das Christentum der Zukunft werde, so der walisische Historiker, vom globalen Süden bestimmt und dieses Christentum sei ein konservatives Christentum.

Afrikanische Christen bilden die Mehrheit

In der Tat wächst das Christentum im 20. Jahrhundert erstmals in seiner Geschichte zu einer weltweit präsenten Religion heran. Das aber bedeutet einen in religionsgeografischer Hinsicht geradewegs beispiellosen Umbau weltweiter Religionsreliefs. Eine, wenn nicht die zentrale Schaubühne solcher Wandlungsdynamiken bietet afrikanisches Christentum. Bildete das afrikanische Christentum südlich der Sahara noch vor einhundert Jahren eine Marginalie im weltweiten Christentum, so veränderte sich die Religionslandschaft Afrikas im Verlaufe des 20. Jahrhunderts so drastisch wie nirgendwo sonst. Bereits um 2025 wird afrikanisches Christentum den statistisch grössten Block des weltweiten Christentums bilden. Dieser Christianisierungsschub setzte – völlig gegen alle Erwartung – in postkolonialer Zeit ein und widerlegt das noch immer widerhallende und nebenbei eurozentrische Stereotyp, afrikanisches Christentum repräsentiere eine kolonial induzierte Fremdreligion.

Vielleicht bringen die auf breiter Front sich umsetzende Eigenständigkeit afrikanischer Kirchen oder auch die Überzeugung, im bildungsbeflissenen Christentum einen Modernisierungsträger zu sehen, das postkoloniale Szenario auf den Begriff. Ausserdem setzten enorme theologische Kontextualisierungsvorgänge ein, die das rituell-kirchliche Leben massgeblich in Bahnen lenkten, die die Alltagsbedeutung des christlichen Glaubens für weitere Bevölkerungskreise erkennbar betonten. Überhaupt ist das gesamte, breit ausgefächerte Palimpsest afrikanischer Kirchen durch einen selbstbewussten Impuls evangelistisch-missionarischer Praxis gekennzeichnet. Wer wollte das langwirkende, integrale Missionserbe des «grossen Jahrhunderts der Mission» (Gustav Warneck), in das sich auch die 1815 gegründete Basler Mission als eine der missionarischen Pioniergesellschaften des 19. Jahrhunderts eingemeindet, verschweigen?

Pfingstbewegung in Afrika

Die vermeintlich stärkste Triebfeder aktueller Entwicklungen im Bereich afrikanischer Religionsgeschichte stellt jedoch die Pfingstbewegung dar. Sie setzt Makrotendenzen, die überkonfessionell, ja sogar interreligiös wirken, frei. Dies begründet sich durch einen theologischen Strukturwandel innerhalb der Pfingstbewegung! In etwa zeitgleich mit der Entkolonialisierungsphase kommt es in den 1950er- und 1960er-Jahren zu einer zweiten Erfindung der Pfingstbewegung. Charakterisierten Begriffe wie Weltentsagung, Eskapismus, Rückzug in eigene, gleichsam «heilige» Schutzräume die pentekostale Sozialethik seit der Anfangsära der globalen Pfingstbewegung in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, so entdeckt sie die ehedem «verderbte Welt» in der Nachkriegsära als Gestaltungsraum, um sie «für Christus zu gewinnen». Es ist diese paradigmatische Kehre, erprobt durch kanadische und US-amerikanische Milieus einer «Positive Confession»- und «Word of Faith»-Bewegung, die den Siegeszug der Pfingstbewegung auch in Afrika initiiert.

Innovatives Kirchenkonzept

Massgeblich unterstützt durch den frühen und professionellen Gebrauch von Massenmedien bildet die Pfingstbewegung global verteilte Knotenpunkte aus. Auch aufgrund eines überkon- fessionellen Neuansatzes ist sie seit Mitte der 1970er-Jahre fest verankert in den meisten subsaharischen Gesellschaften. Der eigentliche Trägerkreis dieser jüngeren Spielart der Pfingstbewegung findet sich in Afrika unter der gebildeten, urbanen und sozial aufstiegsorientierten jüngeren Generation. Ihre Vertreter sehen sich als die Avantgarde einer neuen afrikanischen Reformation. Von ihrer Anhängerschaft als «Visionäre», «Propheten» und «Apostel» beglaubigt, etablieren sie mit dem Megakirchenmodell ein innovatives Kirchenkonzept. Megakirchen platzieren sich unter hohem Einsatz von Öffentlichkeitsarbeit, medialer Präsenz, liturgischen und rituellen Reformen, spezialisierten «ministries» zentral in öffentlichen städtischen Räumen. Theologisch gibt es bei allen Spezialisierungen – die einen präferieren Heilungs-, die anderen «deliverance ministries» usw. – eine Familienähnlichkeit in einer Art Siegestheologie. Predigten, Musikformen, Gebete sind durchzogen von aktivischen Schlüsselcodes, die die Handlungsvollmacht der Gläubigen in ihrer Alltagswirklichkeit bestärken.

Evangelium als Wohlstandsbotschaft

In Megakirchen bildet sich der Habitus einer interventionistischen Weltsicht heraus. «Durchbruch jetzt»-Verheissungen, «Besitznahme», das Wagnis, mit der Vergangenheit zu brechen, Enttraditionalisierung – auch von Familienbildern und Genderaspekten – strahlen eine optimistische Weltsicht aus. In der klassischen Form zeigte sich das Wirken des Heiligen Geistes in der zentralen Glaubenserfahrung des «Wiedergeborenseins», evident in äusseren Zeichen wie der «Zungenrede» oder den Heilungswundern. Die spektakuläre jüngste Form vieler megakirchlicher Glaubenszeugnisse betont die Materialität des Evangeliums. Bekannt als «Wohlstandsevangelium» geht es darum, materiellen Wohlstand als göttliches Recht zu reklamieren. Mit der Kernaussage «Gott will nicht, dass du arm bist» theologisiert die Bewegung Reichtum, und nicht etwa, man denke an die lateinamerikanische Theologie der Befreiung, Armut. Die Wohlstandsbotschaft ist weit über pentekostale Kreise hinaus attraktiv geworden im gesamten afrikanischen Kirchen- spektrum und hat inzwischen innerislamische Diskurse erreicht, vor allem im afrikanischen Volksislam. «Prosperity Gospel» lässt sich theologisch sicher kontrovers debattieren – geht man von sozialen Erfahrungen und dem Lebensgefühl afrikanischer Urbanität aus, steht die Wohlstandsbotschaft im Zusammenhang damit, eine Art Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. In den Armenvierteln der Städte, an den Knotenpunkten von innerafrikanischen und nationalen Migrationswegen, unter marginalisierten Bevölkerungsgruppen bildet sie das Gerüst einer Ethik des Überlebens. Bei der Siegestheologie der «Slum Christianity» geht es um Armutsüberwindung.

Demgegenüber gehören die Akteure einer zweiten Ausprägung des Wohlstandsevangeliums eher den vielerorts wachsenden urbanen Mittelschichten an. Hier gewinnt das Wohlstandsevangelium eine diakonische Ausprägung. Megakirchen entdecken den sozialen Nahbereich, oft Armutsquartiere, als Handlungsfeld, um Sozialprogramme zu implementieren. Diese Form einer sogenannten «progressiven Pfingstbewegung» lehnt sich an das Sozialprofil ökumenischer Kirchen an, ohne bereits über die dort angesammelte Expertise zu verfügen. In den am meisten bildungsaffinen Megakirchen kommt es zu einer Wohlstandstheologie, in der unternehmerische Strategien auf kirchliches Handeln übertragen werden. Diese sogenannten «Business Management Christianity» bildet starke transnationale Vernetzungen aus, z.B. mit afroamerikanischen Pfingstkirchen. Zunehmend aber formt sich in pentekostalen afrikanischen Megakirchen eine Variante von Öffentlicher Theologie heraus, deren Konzeption noch flüssig ist, aber die darauf abzielt, ihre hohe Attraktivität und Mobilisierungskraft gesellschaftspolitisch umzusetzen.

Nur als kursorischer Ausblick sei erwähnt, dass die Leitbegriffe dieser pentekostalen Neuerfindung, die Vervielfältigung von Kirchenmodellen, die überkonfessionellen, auch transnationalen Netzwerkbildungen längst in hiesigen Religionskartografien eingezeichnet sind. Was bedeutet dies für lokale ökumenische Dynamiken in der Schweiz? Was geschieht derzeit im Erprobungsstadium einer migrationskirchlich sensiblen Ökumene?*

Andreas Heuser

 

1 Robert, Dana, «Shifting Southward: Global Christianity 7 Since 1945», in: International Bulletin of Missionary Research 24:2, April 2000, 50–58,
  hier 56.

* Zu diesen Fragen mehr vom gleichen Autor in der nächsten SKZ-Ausgabe vom 27. September 2018.


Andreas Heuser

Prof. Dr. Andreas Heuser (Jg. 1961) studierte Theologie und Politikwissenschaft und ist seit 2012 Professor für Aussereuropäisches Christentum an der Universität Basel.