Eine gewichtige Inspirationsquelle

Theologie und Kirche in den deutschsprachigen Ländern haben die Theologie des Leibes Johannes Pauls II. bislang wenig rezipiert. Martin Brüske und Rupert Scheule beleuchten das Potenzial und die Grenzen dieser Theologie.

Dr. theol. Martin Brüske (Jg. 1964, links) war bis 2018 Oberassistent und Lehrbeauftragter an der Professur für Dogmatik an der Universtität Freiburg i. Ü. Er nimmt da weiterhin Lehraufträge wahr. Seit 2020 unterrichtet er Ethik an der Höheren Fachschule Theologie, Diakonie, Soziales (TDS) in Aarau. Prof. Dr. theol. Rupert Scheule war von 2010 bis 2017 ordentlicher Professor für Moraltheologie und Christliche Sozialwissenschaften an der Theologischen Fakultät Fulda. 2017 folgte er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Moraltheologie an der Universität Regensburg.

 

SKZ: Johannes Paul II. legte in seinen wöchentlichen Audienzen von 1979 bis 1984 in insgesamt 133 Katechesen eine Theologie des Leibes vor.1 Wo sehen Sie das Potenzial seiner Theologie des Leibes?  
Martin Brüske (MB): Man kann die Beantwortung Ihrer Frage auf mehreren Ebenen ansiedeln, wobei allerdings die Ebenen zusammenspielen. Beginnen wir mit der mittleren Ebene, in meiner Sicht die ethische. Schon der noch junge Philosoph in Lublin und Krakau durchbricht 1960 übliche argumentative Schemata, in denen sich bis dahin katholische Sexualmoral artikuliert hatte, recht radikal. Ich persönlich halte «Liebe und Verantwortung»2, das die philosophisch-ethische Grundlage auch für die spätere Theologie des Leibes bildet, für ein Meisterwerk. Karol Wojtyła durchdenkt das Problem der sexuellen Begegnung von Personen konsequent vom handlungstheoretischen Gegensatz von «gebrauchen» und «lieben». Den Ausgangspunkt bildet dabei die Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs. Übrigens, das ist schon bemerkenswert: ein katholischer Denker des Jahres 1960, der ein ganzes Buch von einem kantianischen Grundgedanken her entwickelt, nämlich, dass Personen sich nur dann auf gute Weise begegnen, wenn sie trotz aller Funktionalität in unseren Beziehungen einander in ihrer selbstzwecklichen Würde achten. Allerdings tut das Wojtyła originell und wirklich schöpferisch weiterführend: Der polnische Phänomenologe bezieht – anders als Kant – die geschlechtlich bestimmte Leiblichkeit von vornherein in seine Analyse ein. Daraus ergibt sich alles andere: Sexualität wird dann human gelebt, wenn sie auf dem Niveau von Personen, die sich einander in ihrer Leiblichkeit ohne Vorbehalt schenken, in ihrer Vielstimmigkeit integriert wird. Das ist, finde ich, ein ungeheuer positives, attraktives Leitbild. Von hier aus zeige ich noch ganz kurz die weiteren Potenziale. In den Katechesen wird Johannes Paul zum exegetisch gut informierten, phänomenologischen Leser der Bibel. So wie schon Paul Ricœur – dessen Werk er übrigens sehr gut kennt – die Urgeschichte gelesen hat. Was dabei herauskommt ist unendlich viel mehr als eine Sexualmoral, sogar mehr als eine theologische Anthropologie – es ist eine Zusammenschau der Heilsökonomie vom Thema des Leibes her. Ich finde das einen grossen Wurf, mit dem sich jede Auseinandersetzung lohnt. Und, letzter Punkt: Erfahrungen in mittlerweile vielen Ländern und auch jetzt schon über längere Zeit, erst anfangend allerdings im deutschsprachigen Raum, zeigen, dass der ethische Kern in seinem grossen theologischen Kontext leben hilft. Viele junge Frauen und Männer erleben die Theologie des Leibes als ungemein hilfreich, um Beziehung, Sexualität, Ehe –  aber auch Ehelosigkeit – auf humanes Gelingen hin zu gestalten. Man sollte die vielen, vielen Zeugnisse, die das bestätigen, nicht beiseiteschieben und verdrängen.

Was kritisieren Sie an der Theologie des Leibes nach Johannes Paul II.?
Rupert Scheule (RS): Die phänomenologische Erkenntnislehre, der Karol Wojtyła seit jungen Jahren anhängt, sagt sehr vereinfacht: Fürs richtige Erkennen der Dinge brauchen wir keine Theorien über sie, eine «Präzision des Schauens» (J. Ratzinger) reicht, um das Wesentliche intuitiv zu erkennen. Als Phänomenologe entwickelt Wojtyła sein Bild vom Menschen. Als Phänomenologe geht er, nunmehr Papst Johannes Paul II., aber auch an biblische Texte heran – in den ersten 23 Katechesen zum Beispiel ausgehend von Mt 19 an die Texte des Buches Genesis. Man kann in diesem Zusammenhang von «phänomenologischer Exegese» sprechen. Der Papst bringt ein starkes phänomenologisches Menschenbild mit – er hat schon eine sehr klare Vorstellung über das Wesen von Mann und Frau –, ehe er auf das stösst, was ganz verschiedene biblische Texte über den Menschen sagen. Kritiker denken, der Papst lese aus der Bibel heraus, was der Phänomenologe vorher in sie hineingelegt hat. Und methodisch Aufschluss gibt er sich und seinen Hörern nicht. Ich sehe nicht, dass Karol Wojtyła die exegetischen Wissenschaften auf der Höhe seiner Zeit rezipiert. Bei seinem Nachfolger und dessen Jesus-Büchern ist das übrigens anders. Mit der phänomenologischen Vorentschiedenheit ist ferner eine weitgehende Dialogunfähigkeit der Theologie des Leibes gegenüber Wissenschaften verbunden, die auch etwas zu sagen hätten über Sexualität. Wer davon ausgeht, dass mit phänomenologischen Mitteln schon alles Wichtige gesagt sei über die Sexualität, ist im Grunde nicht mehr sehr interessiert am interdisziplinären Austausch. Aber die vielleicht grösste Schwierigkeit, die die Theologie des Leibes begleitet, ist mit dem Leibbegriff selbst verbunden. Ob ausgesprochen oder nicht, wer «Leib» sagt, setzt sich vom «Körper» ab. Der Gedanke dieser Unterscheidung, die Phänomenologen gerne vornehmen, ist einfach: «Körper habe ich, ich bin aber mein Leib», wie wir bei Gabriel Marcel lesen. Tatsächlich können wir auf unseren Körper wie auf ein Objekt zugreifen. Wir können ihn klinisch untersuchen und in Teilen auch amputieren lassen. Wir können ihn im Fitnessclub disziplinieren, ihn einsetzen, um einander zu dominieren, zu beeindrucken oder zu verführen. Dass wir daneben und dabei mit ihm immer auch identisch sind, macht die Leiblichkeit aus. Sobald ich zu meinem Körper «ich» sage, wird er mir gewissermassen zum Leib – so die traditionelle Lesart. Ich glaube allerdings, dass sich im konkreten Erleben Leiblichkeits- und Körperlichkeitsaspekte selten fein säuberlich trennen lassen. Denken und Erleben, Distanz und Unmittelbarkeit sind stets in dynamischen Wechselbeziehungen, gerade im Raum der Sexualität. Der blanke Austausch sexueller Signalreize und die personale Begegnung bleiben unentrinnbar verwoben, Objektivierungen und Subjektivität überlagern sich und zeigen sehr unscharfe Ränder. Mit Isolde Karle rede ich persönlich daher lieber von «Körper sein» und «Körper haben». Das bremst den «subtilen Dualismus von ‹Körper› und ‹Leib›» (Regina Ammicht-Quinn), der notorisch den Körper abwertet zugunsten des «ganzheitlich-leiblichen» Erlebens, etwas aus. Die Theologie des Leibes transportiert diesen Dualismus aber unweigerlich. Trotz dieser grundsätzlichen Anfragen denke ich freilich nicht, dieser Ansatz hätte uns gar nichts mehr zu sagen.

Wo ist die Theologie des Leibes im Werk von Johannes Paul II. und innerhalb der kirchlichen Lehre zu verorten?
MB: Wichtig ist, denke ich, zuerst einmal zu sehen, dass Karol Wojtyła / Johannes Paul II. von Profession und Leidenschaft her Philosoph und Ethiker gewesen ist, ein origineller Kopf im Konzert der polnischen Phänomenologie, ungemein und in vielen Sprachen belesen, mit Quellen bei Thomas, Kant, Scheler, darüber hinaus in der ganzen Breite der phänomenologischen Diskussion, aber auch bei Johannes vom Kreuz. Aber dann ist er natürlich auch Theologe. Beides kommt in der Theologie des Leibes zusammen. Die Theologie des Leibes ist die reife theologische Frucht seines philosophischen und insbesondere ethischen Nachdenkens. Dieses Nachdenken stellt ihm das Instrumentarium zur Verfügung, um jetzt im Blick auf die Leiblichkeit die theologische Synthese zu wagen. Wie gesagt: Der Phänomenologe liest die Bibel – übrigens, wie bei Paul Ricœur, immer exegetisch kontrolliert. Für mich ist das schon der theologische Höhepunkt seines Werks. Zur Verortung in der kirchlichen Lehre: Man hat das so gedeutet, dass Johannes Paul II. hier lediglich einer im Kern unveränderten Sexualmoral einen personalistischen Anstrich verpasse, um sie äusserlich attraktiver zu machen. Zuletzt – und meine Formulierung hier entspricht ziemlich genau dem polemischen Zungenschlag – bei Stephan Goertz  und Christof Breitsameter. Was Sie da lesen können, besteht nicht nur sachlich durchweg aus «Fake News». Sie können da lesen, der Würdebegriff des Papstes habe nichts mit Kant zu tun. Dabei ist die Selbstzweckformel der Ausgangspunkt. Letztlich verweigert man hier die inhaltliche Auseinandersetzung. Tatsächlich: Johannes Paul steht zur kirchlichen Sexualmoral einschliesslich «Humanae vitae», weil er in ihrem normativen Grundbestand eine Sicherung menschlicher Würde sieht. Gleichzeitig revolutioniert er sie, weil er sie völlig neu – neu im Ausgangspunkt und neu in der Erfahrungssättigung – durchdenkt. Die Frage ist: Wie kann Sexualität human gelingen? In diesem Sinne hat Johannes Paul II. die kirchliche Lehre aus Engführungen befreit, die das Humanum beschädigen, und hat den Kern geborgen, der das Humanum sichert.

In welcher Beziehung steht «Amoris Laetitia» zur Theologie des Leibes?
RS: Franziskus bezieht sich in «Amoris Laetitia» einige Male direkt auf die Mittwochskatechesen seines Vorgängers, etwa, wenn es um die erotische Dimension der Liebe geht (vgl. AL 150ff). In Übereinstimmung mit Johannes Paul II. weist er darauf hin, dass Sexualität eine «zwischenmenschliche Sprache» (AL 151) sei. Durch sie lasse sich ausdrücken, dass sich Liebende einander in personaler Tiefe zum Geschenk machen. Zu so einer «Indienstnahme der Erotik für Höheres», nämlich die personale Begegnung, neigt die Theologie des Leibes natürlich. Bei aller hymnischen Rhetorik, mit der die Theologie des Leibes die Erotik umgibt, bleibt sie ihr doch irgendwie verdächtig. Für sich selbst stehen soll sie eher nicht, sondern stets für «Personales», «Humanes» o. ä. In «Amoris Laetitia» gibt es demgegenüber Passagen, die viel unbefangener die sexuelle Lust würdigen.

Ein zentraler Begriff und wichtiger Schlüssel zur Theologie des Leibes ist «communio personarum». Was umfasst dieser Begriff genau?
MB: «Communio personarum» ist in der Tat ein Schlüsselbegriff. In den Katechesen entwickelt Johannes Paul II. ihn bei der Auslegung von Gen 2. Damit ist mehr gemeint – obwohl das eingeschlossen ist – als das, dass der Mensch ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes Lebewesen ist. In der Auslegung von Gen 2 geht es um die ursprüngliche Konstitution von Subjektivität in der Benennung der Tiere durch den Menschen. Gerade in dieser Konstitution von Subjektivität entdeckt sich die Person aber als «allein». Personsein erweist sich als konstitutiv verwiesen auf anderes Personsein. Von hier entwickelt Johannes Paul die Anthropologie der Geschlechterdifferenz. Und hier hat auch der andere Schlüsselbegriff, der bräutliche Leib, d. h. der Leib, der in der Einheit von Eros und Agape zur Selbstschenkung fähig ist, seinen Ort. Die Communio der Personen realisiert sich in gegenseitiger Selbstschenkung. Das ist aber eine sehr grundlegende Aussage. Referenzpunkt ist hier auch immer wieder «Gaudium et spes»: Der Mensch ist in dieser Welt das einzige um seiner selbst, d. h. in selbstzwecklicher Würde, gewollte Wesen, das sich nur findet, indem es sich hingibt. So realisiert sich «communio personarum». Ihr Urmodell ist die Liebesgemeinschaft des dreifaltigen Gottes.

Der US-amerikanische Papstbiograf George Weigel schreibt in «Zeuge der Hoffnung» (2002): «Kirche und Welt werden sich weit im 21. Jahrhundert befinden, bevor die katholische Theologie den Inhalt dieser 130 Generalaudienz-Ansprachen vollständig assimiliert hat […] Johannes Pauls Theologie des Leibes hat indirekte Folgen für die gesamte Theologie. […] Diese 130 katechetischen Ansprachen stellen zusammen eine Art theologische Zeitbombe dar, die mit dramatischen Konsequenzen irgendwann im dritten Millenium der Kirche hochgehen wird. Wenn das geschieht, […] könnte die Theologie des Leibes durchaus als entscheidender Augenblick nicht nur in der katholischen Theologie, sondern auch in der Geschichte des modernen Denkens angesehen werden» (357–358). Weshalb wurde die Theologie des Leibes in Theologie und Kirche bis jetzt wenig beachtet?
MB: Ich will es ganz kurz sagen. Weltweit ist die Rezeption im Laufe der Jahre immer intensiver geworden. Im deutschsprachigen Raum ist sie nur – mittlerweile aber an einigen Stellen verheissungsvoll – anfanghaft oder im Modus der Abwehr aufgenommen worden. Nach «Humanae vitae» war sie und ist immer noch das nicht assimilierbare Fremde. Ich bin überzeugt: Würde man sich nur auf einen sachlichen Streit einlassen, würden sich sehr rasch die Konturen der Diskussionslage in der deutschsprachigen Moraltheologie verändern. Aber bisher ist der Modus der apriorischen Abwehr leider dominierend – zum Schaden der Sache.

RS: Es ist richtig, dass die früheren Schriften Karol Wojtyłas in der Theologie stärker rezipiert wurden als die Theologie des Leibes, die er in seiner Wissenschaftsbiografie sehr spät, nämlich als frischgebackener Papst, vorlegte. Die Rezeptionsprobleme haben zumindest auch mit den theoriebautechnischen Fehlern zu tun, von denen weiter oben die Rede war. Was mein eigenes Fach, die Moraltheologie, angeht, so sehe ich in letzter Zeit allerdings etwas mehr Neugierde auf die Theologie des Leibes als in den letzten Jahrzehnten. Das Verhältnis zwischen Johannes Paul II. und der wissenschaftlichen Moraltheologie war in seiner Amtszeit belastet, Dokumente wie «Dominus Iesus» und diverse unglückliche Auseinandersetzungen um Lehrbefugnisse von Dozierenden haben vielleicht den Blick verstellt auf die Inspirationspotenziale, die dieser Papst eben auch hat. Diese treten anderthalb Jahrzehnte nach dem Ende seines Pontifikats stärker hervor. Gut so.

Stephan Goertz und Christof Breitsameter fordern in «Vom Vorrang der Liebe.» (2020) eine grundlegende Revision der kirchlichen Sexualmoral. Was kann die Theologie des Leibes zur Erneuerung und Vertiefung der katholischen Sexuallehre beitragen?
RS: Die Kollegen Breitsameter und Goertz fordern nicht nur eine Revision der kirchlichen Sexualmoral, sie äussern auch selbst kluge Ideen zum Zusammenhang von Begehren und wechselseitiger Achtung. Tatsächlich glaube ich aber, dass auch die Theologie des Leibes für einen Neustart der katholischen Sexuallehre noch eine Rolle spielen könnte. Wenn Sie sich heute umschauen auf dem Markt der Sexualethiken, fällt auf, dass viele Theologen das sagen, was Nichttheologen schon vorher gesagt haben. Das kann ja klug und wahr sein! Nichts ist verkehrt an einer Gerechtigkeitstheorie des Sexuellen (Margaret Farley) oder an einer Beziehungsethik, die Begehren und Verbindlichkeit zusammenbringt (Breitsameter und Goertz). Aber verdoppelt das alles nicht das Ethikangebot, das ohnehin da ist? Wenn wir als Theologie, als Kirche Eigenes, Spezifisches und dabei doch Interessantes und Einnehmendes sagen wollen, gibt die Theologie des Leibes zumindest Inspiration hierfür –nicht mehr und nicht weniger. Mich persönlich haben die ersten Einheiten der Mittwochskatechesen, die von Nacktheit und Scham und damit von Verletzlichkeit handeln, jedenfalls inspiriert dazu, über so etwas wie eine Sexualethik verletzlicher Nacktheit nachzudenken. Der Papst sagte einmal: Scham halte zwar «einen Menschen gewissermassen vom anderen (die Frau vom Mann) fern, [sucht] zugleich aber ihre persönliche Annäherung und [schafft] dafür eine geeignete Grundlage» (19.12.1979). Diese menschliche (postlapsale) Sexualität als Dynamik des Ver- und Entbergens entspringt der Scham: der Erkenntnis eigener Verletzlichkeit in der Nacktheit. Verletzlichkeit (Vulnerabilität) ist zurzeit in vielen Disziplinen ein Thema. Vulnerabilität gilt dabei als etwas, was man überwinden muss. Meine These aber ist: Vor dem Hintergrund einer Theologie des Leibes könnten wir einen positiven Vulnerabiltätsbegriff ins Spiel bringen – und damit etwas sehr Eigenes sagen: Verletzlichkeit ist gut! Sie braucht Diskretion – die Moraltheologie war übrigens über die Jahrhunderte alles andere als diskret beim Thema Sex! –, sie braucht Schutz, zum Beispiel in der starken Institution Ehe, und sie ist gut! Denn ohne Verletzlichkeit kann es das wahre Glück der Intimität nicht geben: verletzlich bleiben zu können, ohne verletzt zu werden.

Wo sehen Sie insgesamt die Anschlussfähigkeit der Theologie des Leibes für heutige Fragestellungen?
MB: Auf der Suche nach einer Ethik des guten Lebens enthält die Theologie des Leibes ein ungeheures Potenzial. Sie verweist auf Lebensfiguren, in denen Partnerschaft und Sexualität human gelingen können. Darin liegt ihre weltweite Attraktivität für junge Menschen. Zweiter Punkt: Sie denkt die Differenz der Geschlechter mit einem Tiefgang, der ihre Anthropologie zur wirklichen Alternative zur Anthropologie des Genderdiskurses macht. Auch hier wünschte ich mir endlich eine sachliche Debatte, in der um die Sache gerungen wird. Ich finde Judith Butler blitzgescheit. Und ohne die Hintergrund-
annahmen und viele Konsequenzen zu teilen: Es lässt sich hier viel lernen. Natürlich muss gestritten werden. Aber ich erwarte mir genau so viel Offenheit für den Tiefgang und die Originalität des Entwurfs von Karol Wojtyła. Das fehlt mir bisher.

RS: In der Kirche erleben wir derzeit eine heftige Auseinandersetzung darüber, wie Sexualität im Glauben zu deuten sei. Die traditionelle Bindung von Sexualität an Reproduktivität hat starke Plausibilitätsverluste erlitten. Motive der Theologie des Leibes könnten zu einem weiteren Sexualitätskonzept beitragen. Dabei denke ich weniger an die theologisch stark aufgeladene Geschlechterdifferenz als an das, was ich eben schon kurz ansprach: Scham, Nacktheit und Verletzlichkeit als Universalien sexuellen Lebens.

In welchen Punkten ist die Theologie des Leibes weiterzuentwickeln?
RS: Die Theologie des Leibes müsste wohl ihren eigenen Personalismus ernster nehmen und sich aus dem Würgegriff des Naturrechts lösen. Sie müsste offener werden für das, was die empirischen Wissenschaften über Sexualität sagen. Das wäre nicht ohne Relativierung der eigenen phänomenologischen Grundsätze zu haben.
 
Interview:  Maria Hässig

 

1 Johannes Paul II., Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes. Mittwochskatechesen von 1979 bis 1984, 2. überarbeitete Auflage, Kisslegg 2008.

2 Johannes Paul II., Liebe und Verantwortung. Eine ethische Studie, 2. durchgesehene Ausgabe, München 1981. Neuauflage: herausgegeben von Josef Spindelböck, Kleinhain 2010.

 

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

Dokumente