Ein neues Handbuch der Schweizer Geschichte

 

Georg Kreis (Hrsg.): Die Geschichte der Schweiz. (Schwabe Verlag) Basel 2014, 645 Seiten, ill.

Obwohl nominell, wenn auch nicht inhaltlich, an mehreren Schweizer Universitäten das Fach Schweizergeschichte «abgeschafft» wurde, stösst die Schweizer Geschichte an den Universitäten, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit in der letzten Zeit auf ein grösseres Interesse, wie etwa die Verkäufe der Überblicksdarstellungen von Thomas Maissen («Geschichte der Schweiz», 5. überarbeitete Auflage 2015, erschienen im Verlag Hier + Jetzt, Baden) sowie von Volker Reinhardt («Die Geschichte der Schweiz», 2. überarbeitete Auflage im Verlag Beck, München) aufzeigen. Nach dem zweibändigen «Handbuch der Schweizer Geschichte» (1980) und der dreibändigen «Geschichte der Schweiz» (1986) liegt nun, herausgegeben von Georg Kreis, eine umfangreiche Aufsatzsammlung von der Ur-und Frühgeschichte der Schweiz bis zur Entwicklung nach 1943 vor, die in elf Epochenkapiteln eingeteilt ist und dazwischen 22 kürzere Beiträge aufführt, die Fenster auf einzelne Themen öffnen bzw. sich spezifischen Fragenstellungen annehmen. Das neue Werk legt den Schwerpunkt nicht auf die historiographische Forschung, sondern auf die didaktische Vermittlung, ist also für ein breiteres Publikum geschrieben. Es ist ein Produkt jahrelanger Vorbereitungen und einer breiten Teamarbeit (33 Autorinnen bzw. Autoren); im Anhang sind ein Verzeichnis der Kantonskürzel, eine Chronologie zur Schweizer Geschichte, ein hilfreiches Glossar und eine – kirchengeschichtlich stark lückenhafte – «Allgemeine Bibliographie zur Schweizer Geschichte» sowie ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren mit kurzen Personenbeschrieben abgedruckt. Zahlreiche Tabellen und farbige Abbildungen liefern wertvolle Zusatzinformationen, jedes Kapitel endet mit dem «Stand der Forschung».

Das Christentum im ersten Jahrtausend

Das Christentum und die Konfessionen nach der Reformation kommen fast über den ganzen Band verteilt bis ins 19. Jahrhundert hinein zur Sprache. Hier soll ein Überblick über die wichtigsten Äus-serungen dazu gegeben werden.

Die ältesten, eher wenigen christlichen Zeugnisse in der Schweiz datieren auf das Ende des 4. Jahrhunderts; es bleibt der Eindruck, dass sich das Christentum in unserer Gegend im Vergleich zum östlichen Teil des Römischen Reiches oder zu Nordafrika spät ausgebreitet hat, aber «von oben» sehr schnell eingeführt wurde, so dass das Christentum oft an der Oberfläche blieb. Denn noch im 7. Jahrhundert werden zahlreiche heidnische Praktiken kritisiert (84).

Kirche, Frömmigkeit und Kultur im Spätmittelalter

Für diese Zeit war die Kommunalisierung der Kirchenorganisation auf der politisch-organisatorischen Ebene, die anhaltende Diskussion um Reformen von Kirche und Klerus, die Intensivierung und Verinnerlichung der Laienfrömmigkeit sowie der Ausbau von Stiftungswesen und Jenseitsökonomie kennzeichnend (166). Das Konzil von Basel in den 1430er-Jahren machte diese Stadt für mehrere Jahre zum Zentrum der Christenheit. Das 15. Jahrhundert war auch in der Schweiz eine der «kirchenfrömmsten» Zeiten (170).

Die Reformation

Nur auf diesem Hintergrund wird die Kirchenspaltung des 16. Jahr-hunderts verständlich, die im Rahmen einer Umwälzung der Gesellschaftsordnung stattfand, in der aber nur wenige erwarteten, dass religiöse Themen im Brennpunkt des Wandels stehen würden (209; hier auch ein Kästchen über Matthäus Schiner, der 1522 einer der Kandidaten für das Papstamt war, aber an der Pest starb). Um 1500 konnte man sich nur eine Kirche vorstellen, um 1600 war die Schweiz und Europa konfessionell gespalten, was zu einer jeweils starken Abgrenzung und Verkirchlichung führte. Auf gut 15 Seiten werden diese für die Schweiz grundlegenden Veränderungen konzis dargestellt. Eine Darstellung des Korrespondentennetzes von Heinrich Bullinger (223) verdeutlicht dabei sehr schön Auswirkungen der Schweizer Reformation auf ganz Europa. Die konfessionell gespaltene Schweiz machte einen grossen kulturellen Wandel durch (231 ff.), gleichzeitig aber bildete sich trotz aller Differenzen eine schweizerische Identität aus. Die Hexenverfolgungen waren keine mittelalterliche Erscheinung, sondern kamen nach 1500 auf. Der der Reformationszeit angehängte Kurzbeitrag beschäftigt sich mit den Konfessionen in der Neuzeit, der mit der Durchmischung der Konfessionskulturen nach 1848 endet. «Das Erbe von Reformation und katholischer Reform» zeigt die tiefgreifende Spaltung der Eidgenossenschaft im 17. Jahr-hundert auf, die sich nach der Einführung des Gregorianischen Kalenders massiv bis in die Zeitmessung ausgewirkt hat.

Der Kulturkampf

Dem langen innerkatholischen Kulturkampf des 19. Jahrhunderts, der um 1830 zu schwelen begann, in den 1870er-Jahren seinen Höhepunkt erreichte und auf lokaler Ebene bis nach dem Ersten Weltkrieg Auswirkungen hatte, wird leider nur eine halbe Seite gewidmet (460). Die Freisinnigen, von denen durchaus viele «praktizierten», aber auch die Christkatholiken, die sich von der römischen Kirche abspalteten, werden vergessen. Unverständlich ist der Satz zum Jahr 1873: «Die Mehrheit der Weihbischöfe reagierte darauf mit der Absetzung von Lachat» (460).

Das 20. Jahrhundert ohne Kirchen und Religionen?

Vollends vergessen gehen die Kirchen und das Thema Religion(en) in den Kapiteln über das 20. Jahrhundert. So geht unter, dass das Zweite Vatikanische Konzil auch im Schweizer Katholizismus eine Modernisierung auslöste und die alten Konfessionskulturen im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung aufgelöst werden. Vielen Profanhistorikerinnen und -historikern, die sich mit dem 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen, scheint zu entgehen, dass religiöse und kirchlichen Fragen bis heute bewegen und auch die religiöse Pluralisierung in der Schweiz Erwähnung verdiente. Dies müsste auch im hier anzuzeigenden, im Übrigen sehr interessanten Buch aufscheinen!

Urban Fink-Wagner