Ein den Menschen zugewandter Kirchenfürst

Mit Ivo Fürer, ehemaliger Bischof von St. Gallen, verstarb am 12. Juli ein charismatischer Kirchenmann, der nicht nur sein Bistum, sondern auch die Kirche Europas nachhaltig prägte. Ein Priester seiner Diözese erinnert sich.

Ivo Fürer. (Bild: zvg)

 

Mir fallen viele und ganz unterschiedliche Begegnungen ein; Begegnungen, die ihn mir mit seinem Wesen und Charakter, seiner Weltanschauung und auch seiner Strategie, wie es mit unserer Kirche weitergehen könnte, näherbrachten. Denn die Welten, aus denen wir stammten, waren grundverschieden, und so wären solche Begegnungen ausserhalb des kirchlichen Personals eher selten gewesen. Ich stamme (wie sein Vorgänger und sein Nachfolger) aus einer einfachen Welt unseres bunten Kantons, er aber aus dem Gossauer Adel. Das hat ihn ein Leben lang geprägt, sein freier und häufiger Umgang mit Menschen, die der Welt des lange den Kanton beherrschenden CVP-Systems angehörten.

Entrüstet fragte er mich nach dem dramatischen und dieses System erschütternden Zusammenbruch der wichtigsten katholischen St. Galler Bank, ob ich jetzt wohl noch schreiben wolle, dass wir Katholiken schlechter wirtschaften würden als die klassisch Bürgerlichen! Daraus folgte eine andere Begegnung, die mir lange zu schaffen machte, die, in der er mich hören und spüren liess, dass ich mit meiner Skepsis und meinen kritischen «linken» Fragen ungeeignet sei, in der bürgerlichen Welt Seelsorge zu betreiben. Für Ivo gab es eine ganz grundsätzliche Frage, die mir andere Kollegen so bestätigt haben: Für ihn war es wichtig, ob er sich in wichtigen System- und Ordnungsfragen weltanschaulich – er nannte es «doktrinär» – auf Mitarbeitende verlassen konnte oder nicht. Noch heute nimmt mich wunder, wie er ganz persönlich auf den harten Bruch, den Papst Franziskus mit der bürgerlichen Welt vorgenommen hat, reagierte. Ich nehme an, dass er ihn missbilligte.

Ganz anders die Begegnung mit ihm als Bischof, wenn sich ihm einer seiner Seelsorger in einer misslichen Lage anvertraute. Da hatte er Zeit und Geduld und vor allem – das rechne ich ihm ganz hoch an – ein gar nicht aus der CVP-Welt stammendes liberales Menschenbild. Bewusst hat er geschiedene Mitarbeitende im Dienst belassen, ebenso schwul-lesbische Seelsorgende, immer mit dem klaren Hinweis, dass die letzten roten Linien zu respektieren seien. «Ich weiss, dass man unserer Kirche Unglaubwürdigkeit vorwerfen kann» – so sein anschliessender ehrlicher Satz gegenüber Betroffenen.

Hoffnungen und Enttäuschungen

Natürlich hat sich Ivo Fürer im Kirchenrecht spezialisiert, das entsprach ihm und seiner Art des strukturierten und vernetzenden Denkens. In der Durchführung und Umsetzung der Synode 72 war er Bischof Josephus Hasler ein unentbehrlicher Mitarbeiter. Die Pfarreiarbeit liess er bald hinter sich und wurde früh zu einer tragenden Säule des Bistums. Ich denke, dass auch Enttäuschung in ihm aufgekommen ist, wie er bei der dramatischen Bischofswahl 1976, die von vielen im Klerus und in den Gremien als Entscheidungswahl zwischen Konservativismus und Aufbruch verstanden wurde, ebenso wenig zum Zuge kam wie der amtierende Generalvikar. Unter Bischof Otmar Mäder wurde es ihm wohl ein wenig eng in seiner Arbeitswelt, und so begann seine grosse und erfolgreiche Karriere als Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE). Da wurde er zum Kirchendiplomat, und seine Persönlichkeit und sein Ethos machten ihm zum hervorragenden Vermittler zwischen Ost und West sowie Nord und Süd in der Kirchenwelt Europas. Viele Türen öffneten sich ihm, und viele vermochte er zu öffnen eindrücklich etwa sein Auftreten in Belfast im Rahmen einer ökumenischen Feier, wo er von Ian Paisley angepöbelt wurde und absolut korrekt blieb, wie es ihm entsprach.

Nach dieser langen und eindrücklichen Schaffensperiode, von der er, wieder einmal im «kleinen St. Gallen» angekommen, uns in Kommissionssitzungen ausführlich und spannend erzählte (seine Erzählungen waren übrigens bei Weitem spannender als seine Predigten, da mussten wir uns für Dekanats- und andere Gottesdienste allerhand Listiges ausdenken, um ihn zur Kürze und auf den Punkt zu bringen …), kam dann als Höhepunkt, von allen und von ihm selbst erwartet, die Wahl zum Bischof 1995. Diese Bischofsweihe war ein Spektakel ohnegleichen, nie vorher und wohl auch nachher hat man in der St. Galler Kathedrale so viele Kardinäle und Bischöfe, fast alle ihm von der Tätigkeit im CCEE verpflichtet, gesehen. Neben Kardinal Lehmann und Kardinal Martini war der abtretende Bischof Otmar fast ein Statist.

Ivo Fürers Zeit als Diözesanbischof war erfolgreich, es wurden einige grundsätzliche Änderungen, wie die regelmässige Weihe ständiger Diakone, die Anhebung des Firmalters auf 18 Jahre und die Umstellung auf Seelsorgeeinheiten umgesetzt, ohne dass es im Personal und mit der Kantonalkirche zu ernsthaften Spannungen oder gar Spaltungen gekommen wäre. Vermutlich darum gerieten umgekehrt Bischof und Bistum in seiner Amtszeit in konservativ-katholikalen Kreisen immer mehr in den Ruf, liberal-abtrünnig und nicht «doktrinär» zu sein, ein Scherz der Kirchengeschichte. Tief enttäuscht hat ihn darum, dass er entgegen seiner persönlichen Erwartung nicht zum Präsidenten der Bischofskonferenz gewählt wurde, eine unfaire Retourkutsche bis heute. Auf Papst Johannes Paul II. war Ivo nicht besonders gut zu sprechen, sein Hang zum Zentralismus, den er auch für den CCEE ausmachte, missfiel ihm. Und gerne formulierte er darum, dass man nicht zu junge Päpste wählen sollte, weil die dann zu lange blieben!

Dankbarkeit

Wir wissen zwar nicht, wie sich die Zukunft des Deutschschweizer Katholizismus entwickeln wird, ob es längerfristig noch sichere Steuereinnahmen und damit das duale System mit Kantonalkirchen und Kirchgemeinden geben wird. Wir müssen damit rechnen, dass wir Kirchengebundenen zur Minderheit im eigenen Land werden. Das alles hat Ivo Fürer voraussehen müssen und es hat ihm sicher auch Sorge gemacht. Umgekehrt war er es, der uns sagte, das System Kirche sei bei uns zu lange ein Treibhaus mit künstlicher Atmosphäre gewesen, und es sei gut, dass nun die Scheiben zerbrochen und die kalten Stürme der Welt auch in ihm spürbar seien. So sind wir ihm für sein Planen und Vorausschauen, für seine strategisch klugen Entscheide, die Türen des Treibhauses schon einmal zur Hälfte zu öffnen, dankbar. Auch dafür, dass hinter dem Diplomaten, dem vorsichtig Formulierenden und konsequent Bürgerlichen noch etwas ganz anderes spürbar war: ein herzlicher und den Menschen zugewandter Kirchenfürst.

Heinz Angehrn


Heinz Angehrn

Heinz Angehrn (Jg. 1955) war Pfarrer des Bistums St. Gallen und lebt seit 2018 im aktiven kirchlichen Dienst als Pensionierter im Bleniotal TI. Er ist Präsident der Redaktionskommission der Schweizerischen Kirchenzeitung und nennt als Hobbys Musik, Geschichte und Literatur.