Die Völker erhalten Anteil an der Doxa Israels

Wie kaum keine andere Stelle im Neuen Testament enthält die Geburtsgeschichte Jesu im Lukasevangelium eine ausgeprägte Israel-Theologie. Von Israel aus leuchtet die Herrlichkeit Gottes in die Welt.

Die weihnachtliche Verkündigung schärft den Blick für das grosse Mysterium der Menschwerdung Gottes. Das Lukasevangelium erzählt von der Verheissung, die an Maria erging: «Fürchte Dich nicht, Maria; denn Du hast bei Gott Gnade gefunden. Du wirst ein Kind empfangen, einen Sohn wirst Du gebären: dem sollst Du den Namen Jesus geben. Er wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben» (Lk 1,30–33.).

Deutlich genug wird die Verheissung des Himmelsboten in ein starkes messianisches Licht getaucht. Bald darauf berichtet Lukas von der Geburt Jesu auf den Hirtenfeldern vor den Toren der Davidstadt Bethlehem (Lk 2, 1–20). Auf diese Weise verwirklicht sich, was Zacharias, der Vater des Täufers Johannes, erfüllt voll unglaublicher Freude über die wunderbare Geburt seines Sohnes in lichtmetaphorischer Sprache als prophetische Verheissung ausspricht: «Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten, die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes, und unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens» (Lk 1,78f.).

Der Messias bereitet den Weg

Im Messias scheint Gottes Gegenwart in der Welt auf. Christus schenkt göttliches und gerade so lebenspendendes Licht. Im Hintergrund der lukanischen Formulierung steht die messianische Proklamation des Jesajabuches: «Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf» (Jes 9,1). Das endzeitliche Licht Gottes erleuchtet die durch Unmenschlichkeit, Gewalt und Tod dunkel gewordene Welt. Der Messias wird diese Welt wieder strahlend hell werden lassen, indem er die Herrschaft seines umfassenden Schaloms aufrichtet. Darum spielt Lukas auch Ps 107,10–15 als Danklied der Erlösten ein: «Sie, die sassen in Dunkel und Finsternis, gefangen in Elend und Eisen, […] die er herausführte aus Dunkel und Finsternis und deren Fesseln er (Adonai) zerbrach: sie alle sollen dem Herrn danken für seine Huld, für sein wunderbares Tun an den Menschen». Ohne Zweifel wird die Gestalt des Messias in dieser soteriologischen Perspektive mit Gott selbst zusammengedacht. Der Messias ist zugleich Heilsmittler wie Heilbringer; er bringt endzeitliche Rettung und vollgültigen Frieden, indem er den Weg bereitet. Das «Licht», das nach Lk 1,78f. mit Ankunft des Messias auf die Menschen zukommt, erhellt aber nicht nur die endzeitliche Zukunft, sondern auch die Gegenwart der Menschen im Hier und im Jetzt.

Danklied eines Todgeweihten

Vierzig Tage nach der Geburt Jesu, führt das lukanische Kindheitsevangelium weiterhin aus, brachten die Eltern Jesu ihren Sohn «hinauf nach Jerusalem, um ihn dem Herrn darzustellen» (Lk 2,22). Lukas liegt hier nicht sehr an der Beschreibung kultischer Riten. Stattdessen lenkt er das Augenmerk seiner Hörerinnen und Hörer auf zwei prophetische Stimmen, die in dem Kind Jesus den ersehnten Messias Gottes erkennen. Zuerst ist von der Prophetie des greisen Simeon die Rede, die Lukas in Form eines Hymnus wiedergibt, danach vom Lobpreis der hochbetagten Hanna. Dass der Ort dieser Zeugnisse der Jerusalemer Tempel ist, verleiht ihnen hohe geistliche Autorität. Simeon darf den Messias noch sehen und erleben. Deshalb kann er von jetzt an «in Frieden sterben» (Lk 2,29). Er ist auf besondere Weise beschenkt, denn nach frühjüdischer Auffassung sind jene selig zu preisen, deren Tage noch in die Zeit des Messias hineinreichen (vgl. z. B. 4Esr 4,51; 6,25). So gründet der Jubel Simeons im Heil, das seine Augen gesehen haben: «ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für Dein Volk Israel» (Lk 2,32).

Der literarischen Gattung nach wird der Lobpreis Simeons (Lk 2, 29–32) zur Gruppe der Gebete angesichts des bevorstehenden Todes gezählt, näherhin zur Klasse derer, die wenigstens überwiegend als Dankgebet formuliert sind. Im sog. lukanischen Doppelwerk, also im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, finden sich solche Orationen ein ums andere Mal (vgl. Lk 23,46; Apg 7,59). Insgesamt begegnet uns diese Art von Text im Neuen Testament eher selten. Zentraler Inhalt der Bitte ist das Geschick des Betenden nach dem Tod, etwa das Verlangen nach Rettung und Erlösung. Solche «Dankgebete von Todgeweihten» sind von Haus aus hellenistischen Ursprungs. Im griechischen und auch im frühjüdischen (Diaspora-)Schrifttum finden sich darum zahlreiche Belege. Zumeist geht es hier, wie Klaus Berger in einem Aufsatz zeigt, um die Hoffnung auf Frieden (vgl. b Ber 54a: «Ferner sagte Rabbi Abin, der Levite: ‹Wer von einem Toten Abschied nimmt, spreche zu ihm nicht: Gehe zum Frieden, sondern: Gehe in Frieden, wie es heisst: Und Du wirst in Frieden zu Deinen Vätern kommen.›») und um den Ruf nach Licht, das das Dunkel des Todes überwindet (vgl. Paralipomena Jeremiae 9,3f.: «Heilig, heilig, heilig, Duftwerk der lebenden Bäume, wahres Licht, das mich erleuchtet, bis ich erhoben werde zu Dir» u. a.). Letzteres, das Motiv der Bitte um Licht, wurde vom Evangelisten Lukas in der Darstellung des Lobgesangs Simeons einerseits übernommen, andererseits jedoch entscheidend umgeprägt. Denn interessanterweise macht der Lichtglanz, den Simeon mit dem Heil, das der Herr vor allen Völkern bereitet hat, aufscheinen sieht, jede anschliessende Bitte um Überwindung der Finsternis des Todes überflüssig. Dieser Bruch des Evangelisten mit der literarischen Konvention zeigt an, dass Lukas etwas zur Gänze Neues und Aussergewöhnliches zur Sprache bringen will: Das Geschenk unermesslicher Liebe Gottes im Zeichen von Licht und Herrlichkeit im Hier und Heute der Menschen. Dieses Präsent Gottes ist in der Geburt Jesu Ereignis geworden, es ist bereits ergangen und wird sich in Kreuz und Auferstehung vollenden. Bitten sind darum überflüssig, was Menschen bleibt, so will Lukas wohl sagen, ist der staunende Dank und Lobpreis an Gott.

Israel – die Mitte der Völker

Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Rede vom «Licht für die Heiden». Im Licht jesajanischer Prophetie wird der messianische Repräsentant Gottes «Licht für die Völker» sein (Jes 42,6; 49,6). Auch im frühjüdischen äthiopischen Henochbuch wird der Menschensohn als «Licht der Völker» vorgestellt (äth Hen 48,4). Alle Menschen sind Adressaten der unüberbietbar liebevollen Zuwendung Gottes. Vor allem von Jesaja her zeigt sich eine universale Eschatologie, in der auch die fremden Stämme zusammen mit dem Gottesvolk positiv gewichtet werden. Israel ist die Mitte der Völker, aber alle Nationen zusammen dürfen teilhaben am Heil, das Gott gewirkt hat (vgl. Jes 40,5: «Dann offenbart sich die Herrlichkeit des Herrn, alle Sterblichen werden sie sehen!»). Es ist zuletzt dieser Gedanke, der von Lukas angeschärft wird. Er lässt mit dem Blick Simeons auf Jesus die Hoffnung Israels in Erfüllung gehen. Das Licht des Messias Israels ist dazu da, die vielen Völker und Nationen in die Erkenntnis und Anerkennung der Liebe Gottes zu führen und ihnen ihre gnadenhafte Teilhabe an der von Gott geschenkten eschatologischen Vollendung aufleuchten zu lassen. Natürlich ist dieses Licht zugleich wirkmächtig gedacht: Die Völker werden Anteil erhalten an der Doxa Israels. Doch Israel selbst bedarf dieses Lichtes nicht. Stattdessen ist der Messias «die Herrlichkeit des Volkes Israel» (Lk 2,32) und dient ihr: «Ich bringe Hilfe für Zion und verleihe Israel meine strahlende Pracht» (Jes 46,13). Israel ist so als der Ort gedacht, an dem die endzeitliche Rettung des Gottesvolkes ihren Ursprung nimmt und von dem aus die Lichtherrlichkeit Gottes in die Welt hinaus strahlt. Es gibt im Neuen Testament kaum eine zweite Stelle, die eine solch starke Israel- Theologie profiliert: Der Messias Jesus ist angekommen, um Israel auf denkbar dichteste Weise Anteil zu geben an der Herrlichkeit Gottes selbst. Dies geschieht aber nicht zulasten der vielen Völker und Nationen, sondern zu ihren Gunsten!

Die Lichtmetaphorik der lukanischen Hymnen öffnet die Erzählung von der Geburt Jesu für die Ebene der Transzendenz und macht aus der Besprechung eines biografischen Ereignisses eine theologische Botschaft. Im Hintergrund steht Gen 1,3, also die Erschaffung des Lichtes aus der Finsternis als erster Schöpfungsakt. Das Licht, von dem die Rede ist, entsteht noch vor der Sonne, vor dem Mond und vor den Sternen (vgl. Gen 1,14). Dieses ganz andere Licht steht für Gottes Wahrheit und Wirkmacht in der Welt, die je und je schöpferisch, d. h. lebenspendend ist. In Gottes Licht, sagt der Psalmist, sehen wir das Licht. Bei ihm ist die Quelle des Lebens (Ps 36,10).  

Robert Vorholt


Robert Vorholt

Prof. Dr. Robert Vorholt (Jg. 1970) wurde in Münster/Westfalen (D) geboren, studierte in Münster und Paris, ist Priester, seit 2012 ordentlicher Professor für Exegese des Neuen Testaments und seit 2017 Dekan der Theologischen Fakultät an der Universität Luzern.