«Die Süsse des Wortes Gottes»

In Wort-Gottes-Feiern steht die Begegnung mit Gott in Seinem Wort im Zentrum. In der Schweiz entwickelten sich die Wort-Gottes-Feiern zu einem «Surrogat der Eucharistie». Explizite Wort-Gottes-Feiern könnten gerade in der heutigen Zeit ihr Potenzial entfalten.

Mit der Einführung eines Bibelsonntags betont Papst Franziskus, welche grosse Bedeutung er dem Wort Gottes für das Leben der Kirche beimisst. Er spricht von der «dringende[n] Notwendigkeit, uns mit der Heiligen Schrift und dem Auferstandenen eng vertraut zu machen» (Aperuit illis/ AI 8). Hier geht es ihm nicht darum, etwa das Bibelwissen beim Einzelnen zu vermehren. Er setzt dabei an, dass das Wort Gottes etwas Lebendiges ist und mit Christus selbst in Beziehung bringt. Für nicht wenige katholische Christinnen und Christen ist die Heilige Schrift jedoch bis heute trotz aller Bemühungen der Liturgiereform im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils, die «Schatzkammer der Bibel» (SC 51) weit zu öffnen, kein solcher Erfahrungsort. Der Sonntag des Wortes Gottes möchte dies ändern helfen und «den Gläubigen einen immer tieferen Zugang zur Heiligen Schrift eröffnen» (AI 2).

Angesichts dessen, dass Wort-Gottes-Feiern in weiten Teilen der Schweizer pastoralen Landschaft eine gut etablierte Gottesdienstform darstellen, lässt diese Situationsanalyse aufhorchen. In solchen Wort-Gottes-Feiern steht – so geben es zumindest die liturgischen Bücher vor1 – das Wort Gottes ganz im Zentrum. Das ist der Eigenwert dieser Gottesdienstform. Alles in ihnen soll auf die Gestaltwerdung des Wortes Gottes ausgerichtet sein. Wie dies geschehen kann, ist – im Unterschied zu anderen Gottesdienstformen – nicht festgelegt. Eine Vielfalt der Formen wäre möglich. Einzig unverzichtbar ist das Hören auf Gott, der sich in seinem Wort begegnen lassen will.

Schaut man jedoch in die landläufige Praxis dieser Gottesdienste, so fällt auf, dass sich die Feiergestalt der Wort-Gottes-Feiern in der Regel eng an der Gestalt der Eucharistiefeier orientiert, weshalb diese Feiern auch selbstverständlich mit einer Kommunionfeier verbunden werden. Nur dann, so wird oft berichtet, fühlten sich die Mitfeiernden auch wirklich von Christus berührt. Es fehle sonst etwas. Allerdings hat dies zur Folge, dass Wort-Gottes-Feiern in erster Linie als «Surrogat der Eucharistie»2 wahrgenommen werden. Damit allerdings wird das Potenzial dieser Feierform nicht erkannt, denn in der Verkündigung der Schrift ist wahre Begegnung mit Christus möglich, der im Wort selbst gegenwärtig ist (vgl. SC 7). Die Bücher der Bibel zeichnen das Bild eines Gottes, dessen selbst gewähltes Wesen es ist, von sich Kunde zu geben, sich selbst auszusagen, sich mitzuteilen und von sich Anteil zu geben. Die Kirchenväter sahen das Wort an als grundlegendes Lebens-Mittel für die Kirche. Könnte nicht das Wort Gottes gerade in Zeiten, in denen es nicht mehr selbstverständlich ist, Christ zu sein, als nährende Quelle neu wahrgenommen werden?

«Gott hat sein Wort in so viele schöne Formen gekleidet» (AI 2)

Die Konzilsväter des Zweiten Vatikanischen Konzils empfahlen, weil sie sich über die pastorale Bedeutung des Wortes Gottes bewusst geworden waren, «eigene Wortgottesdienste an den Vorabenden der höheren Feste, an Wochentagen im Advent oder in der Quadragesima sowie an Sonn- und Feiertagen» (SC 35,4). Dabei war diese sacra Verbi Dei celebratio nicht gedacht als losgelöst zelebrierte Wortliturgie der Messfeier, sondern als eigene Feierform der Liturgie der Kirche, die ausdrücklich unterschieden ist von der liturgia verbi in Missa. In der nachkonziliaren Erneuerung kam es jedoch – entgegen dem Anliegen des Konzils – zu einer faktischen Konzentrierung der pfarreilichen Liturgie auf die Feier der Eucharistie. Damit verpuffte aber der Impuls des Konzils. Wort-Gottes-Feiern wurden zur Ersatzform für eine nicht mögliche Eucharistiefeier, obgleich ihr Eigenwert gerade nicht darin besteht. Die von den Konzilsvätern verwendete Formulierung, nämlich: «heilige Feier des Wortes Gottes», signalisiert, dass in dieser Gottesdienstform das Wort Gottes selbst Ereignis werden will. Dies erlebbar zu machen, ist bislang nicht wirklich gelungen. Der Bibelsonntag könnte auf diesen Umstand aufmerksam machen.

Die Bibel «gehört vor allem dem Volk, das versammelt ist, um sie zu hören und sich in diesem Wort selbst zu erkennen» (AI 4)

Liturgische Feiern, die sich ganz auf das Wort Gottes konzentrieren, könnten eine hohe Attraktivität entwickeln gerade auch für Menschen, die «religiös unmusikalisch»3 sind. Der oder die «religiös Unmusikalische» müsse – dies bezeichnet Eberhard Tiefensee als «vorkatechumenale» Aufgabe aller Religionen – zum ersten Mal überhaupt oder wieder auf die Möglichkeit von «Wegen zur Transzendenz» aufmerksam gemacht werden. Es mag überraschen, dass hier gerade auf das Hören der Heiligen Schrift verwiesen wird. Nicht wenige sehen die Verlesung dieser alten Texte der Bibel mit ihrer eigenen Sprache, ihren dem Zeitgenossen so fremden Bildern und Metaphern sowie ihren spezifischen Kontexten, die gegenüber den heutigen Gegebenheiten so verschieden sind, eher einen Stolperstein für Menschen, die mit gottesdienstlichen Vollzügen nicht vertraut sind. Dem mag entgegengehalten werden, dass solche Rede der Bibel nicht viel zutraut, denn diese versteht sich gerade nicht als in sich ab-geschlossenes Buch aus längst vergangenen Zeiten und für alle Zukunft ver-schlossenes Buch. Die Bibel enthält Geschichten von Menschen, die Erfahrungen mit diesem Gott gemacht haben, und bietet diese als Paradigmen an, an denen die heute Lebenden selbst Erfahrungen mit Gott machen können. Benedikt XVI. qualifizierte Wort-Gottes-Feiern deshalb als «bevorzugte Gelegenheiten der Begegnung mit dem Herrn» (Verbum Domini 65) und forderte die Bischöfe auf, diese Feiern als Grundlage einer biblischen Pastoral, wo immer möglich, zu fördern.

Warum diese «bevorzugte Gelegenheit» nicht öfter anbieten, gerade auch in Zeiten, in denen die Zahl derer, die nur wenig Zugang zu den geprägten Formen der liturgischen Tradition haben, ansteigt. Wort-Gottes-Feiern liegen gerade heute eigentlich so nahe, weil sie in ihrer Gestalt höchst variabel und überaus vielfältig sein können. Experimentierfreude bzgl. der Gestalt einer Wort-Gottes-Feier ist gerade dann angesagt, wenn man das Wort Gottes ernst nimmt und ihm zutraut, dass in ihm auch heute noch Gott zu seinem Volk sprechen will. Mit einer so verstandenen Wortliturgie haben auch diejenigen wenig Erfahrung, die regelmässig die «normale» Liturgie mitfeiern. Insofern betreten in Wort-Gottes-Feiern, in denen das Wort Gottes im wahrsten Sinne des Wortes Ereignis werden darf, «religiös Musikalische» und «religiös Unmusikalische» gemeinsam Neuland. Hier sind nicht die einen die immer schon mit den Vollzügen Vertrauten und die anderen, die diesbezüglich ein Defizit aufweisen, sondern hier können gemeinsam Schritt für Schritt neue Erfahrungen gemacht werden. Albert Gerhards sieht sogar die «Zukunft des Wortgottesdienstes – und damit der Gegenwart des Wortes Gottes in der christlichen Gemeinde und in der Welt» von der «Fähigkeit der Kirche» abhängig, «dem Wort eine Gestalt zu geben, die es als unverwechselbares göttliches Wort und zugleich als Anruf an den heutigen Menschen erscheinen lässt. Nur dann können die ‘Hörer des Wortes’ auch seine Zeuginnen und Zeugen sein und so dazu beitragen, dass sich die Kirche bis ans Ende der Zeiten versammelt, um das Wort zu hören und das Gedächtnis des Herrn zu feiern».4

Birgit Jeggle-Merz

 


 

1 Vgl. Die Wort-Gottes-Feier am Sonntag. Hg. v. Liturgischen Institut in Freiburg im Auftrag der Bischöfe der deutschsprachigen Schweiz, Freiburg i. Ü. 2014.

2 Meßner, Reinhard, Wortgottesdienst. Historische Typologie und aktuelle Probleme, in: Zerfaß, Alexander / Franz, Ansgar (Hg.), Wort des lebendigen Gottes. Liturgie und Bibel, Tübingen 2016 (PiLi 16) 73–110, hier 102.

3 Diese Rede von «religiös Unmusikalischen» hat der Erfurter Philosoph Eberhard Tiefensee ins Spiel gebracht. Vgl. z. B. Religiös unmusikalisch? Folgerungen aus einer weithin krisenfesten Areligiosität, in: KatBl 125 (2000) 88–95; Theologie im Kontext religiöser Indifferenz, in: Knop, Julia (Hg.), Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch. Theologie und Pastoral unter säkularen Bedingungen, Freiburg i. Br. 2019 (QD 297) 130–144.

4 Gerhards, Albert, Dem Wort Gottes Gestalt geben. Heutige Anfragen an tradierte Formen des Wortgottesdienstes, in: Kranemann, Benedikt / Sternberg, Thomas (Hg.), Wie das Wort Gottes feiern? Der Wortgottesdienst als theologische Herausforderung, Freiburg i. Br. 2002 (QD 194) 146–165, hier 164.

 


Birgit Jeggle-Merz

Prof. Dr. theol. Birgit Jeggle-Merz (Jg. 1960) ist Professorin für Liturgiewissenschaft an der Theologischen Hochschule Chur sowie an der Universität Luzern und Mitglied des Pastoralinstituts an der Theologischen Hochschule Chur.