Die Augen sind allein auf Christus zu richten

Johannes vom Kreuz und Teresa von Ávila relativieren die Bedeutung von Visionen und formulieren Kriterien zu deren Unterscheidung. Selbsterkenntnis, Gottes- und Nächstenliebe sind Zeichen echter mystischer Erfahrung.

 

Visionen und Privatoffenbarungen bzw. Prophezeiungen sind ein allgemeines Phänomen der Religionsgeschichte. In jeder Religion werden sie nach der eigenen «Theologie» interpretiert. Die christliche geht von der «Abgeschlossenheit» der Offenbarung im Christusereignis aus.

Wider die geistliche Verdummung 

An einer wichtigen Stelle seines Buches «Aufstieg auf den Berg Karmel», die vom Katechismus der Katholischen Kirche (Nr. 65) zitiert wird, relativiert und «zentriert» der doctor mysticus Johannes vom Kreuz die Bedeutung von Visionen und Privatoffenbarungen: «Indem Gott uns seinen Sohn gab, der sein einziges WORT ist […], hat er uns in diesem einen WORT alles zugleich und auf einmal gesagt, und mehr hat er nicht zu sagen.»1 Christinnen und Christen sollten nicht nach Visionen und Privatoffenbarungen Ausschau halten, sondern ihre Augen vielmehr «allein» auf Christus richten: «Schau auf ihn, der sogar Mensch wurde, und du wirst darin mehr finden als du denkst.»2 Johannes vom Kreuz untermauert.» Dies mit Bezug auf Kol 2,3 (in Christus «sind alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen») und Kol 2,9 («Denn in ihm allein wohnt wirklich die ganze Fülle Gottes»).

Er lebte in einer Zeit, in der im Schatten der sogenannten «mystischen Fabel» (Michel de Certeau) Visionen und Privatoffenbarungen Hochkonjunktur hatten. Er widmet ganze Kapitel der klugen Hermeneutik der Unterscheidung der Geister bei diesen Phänomenen und folgert daraus: «Deshalb muss der lautere, vorsichtige, einfache und demütige Mensch mit ebenso grosser Kraft und Sorgfalt den Offenbarungen und anderen Visionen widerstehen und entsagen wie den ganz gefährlichen Versuchungen.»3 

Besonders bissig wird seine Kritik angesichts einer spirituellen Landschaft, in der jeder beliebige Mensch, «der für vier Groschen Betrachtung besitzt», dazu neigte, sich als Sprachrohr Gottes zu sehen und dann zu sagen: «‹Gott sagte mir›, ‹Gott antwortete mir›; [...] sie denken, dass es etwas Grossartiges sei und Gott gesprochen habe, wo es doch kaum mehr war als nichts, oder gar nichts, ja weniger als nichts. Denn das, was nicht Demut, Liebe, Überwindung der Egozentrizität, heilige Einfachheit und Schweigen usw. hervorbringt, was kann denn das schon sein?»

Visionen als Gefahr (Teresa von Ávila)

Teresa von Ávila steht den aussergewöhnlichen Phänomenen in der mystischen Erfahrung nicht völlig ablehnend gegenüber, denn sie hat selbst einige davon intensiv erlebt. Noch heute sprechen manche Autoren von «der entfesselten Hysterie ihrer Visionen».5 Aber Teresa suchte diese Erfahrungen nicht. Sie betont, dass man sie nicht wünschen und erbitten sollte – und wenn sie von den Theologen und Beichtvätern nicht gedrängt worden wäre, sie festzuhalten, nicht zuletzt als Kontrolle und Selbstinterpretationsübung ähnlich der psychoanalytischen Traumdeutung, wüssten wir vermutlich kaum davon, wie dies bei Johannes vom Kreuz der Fall ist. Auch sie teilt die erwähnte Unterscheidung der Geister. Sie warnt klug und nachdrücklich vor den Pathologien des spirituellen Lebens, relativiert diese aussergewöhnlichen Phänomene und unterscheidet mit Ironie wie sprachlicher Genialität zwischen «Arrobamientos» (Verzückungen) und «Abobamientos» (Verdummungen).6 Besonders bei Melancholikern warnt sie davor, da sie aufgrund ihrer krankhaften Einbildung meinen, «sie würden alles, was sie glauben, auch sehen; das ist ziemlich gefährlich».7 Die Oberen oder die Beichtväter sollen solche Menschen anhören, «wie man Kranke anhört», aber auch ihnen klarmachen, dass Visionen unwesentlich seien «für den Dienst an Gott».8 

Angesichts des vorherrschenden Misstrauens gegen Visionen war es für Teresa nicht leicht, die Theologen ihrer Zeit davon zu überzeugen, dass Gott «es doch immer für gut gehalten hat und noch hält, sich hin und wieder seinen Geschöpfen mitzuteilen»9 – was letztlich das Wesen der Unmittelbarkeit mystischer Erfahrung auf dem Boden des Christentums ist. Dass sie ihre Visionen dem Prinzip des «solus Christus» unterordnen und daraus immer wieder eine Ermutigung für die Nachfolge Jesu gewinnen konnte, verdankt sie nicht nur dem Rat der ihr begleitenden Theologen, sondern auch ihrer eigenen spirituellen Klugheit. Sie wusste, dass bei den Visionen und anderen mystischen Erfahrungen diese drei Momente zusammenhängen: Erfahren, Verstehen und Beschreiben. Sie sagte es so: «Denn ein Gnadengeschenk ist es, wenn der Herr die Gnade schenkt, ein weiteres, zu verstehen, was für eine Gnade und welcher Segen das ist, und noch ein weiteres, sie beschreiben und verständlich machen zu können, von welcher Art sie ist.»10 Ihr wurden diese drei Gnaden geschenkt.

Kriterien echter Visionen

Auf die Frage mancher Beichtväter, wie sie sich der Gotteserfahrung so sicher sein kann, wenn die Bilder und Gestalten, die sie bei den imaginativen Visionen sehe, nicht äusserlich im Raum dastehen wie etwa die Dinge, die wir mit den äusseren Augen wahrnehmen, antwortet Teresa mit dem ihr üblichen Selbstbewusstsein: «Das weiss ich nicht; das sind seine [Gottes] Werke, doch weiss ich, dass ich die Wahrheit sage.»11 Fest überzeugt vom Erfahrenen ist sie, weil ihr danach u. a. eine unverrückbare «Gewissheit» verblieben sei: «Und wer nicht mit dieser Gewissheit verbleibt, bei dem würde ich nicht sagen, dass es eine Einung der ganzen Seele mit Gott […] ist.»12 Als weiteres Kriterium nennt Teresa die praktizierte Einheit der Gottes- und Nächstenliebe sowie das Wachsen in der Demut und allen Tugenden, weil Gott ein «Freund der Tugend und der Demut» ist.13 

Mystische Lehrer und akademische Theologen waren immer skeptisch gegenüber den Visionen. Diese Skepsis verkörperte in unserer Zeit kein geringerer als Karl Rahner. In seiner viel zitierten Studie «Visionen und Prophezeiungen» sagt er mit Augustin Poulain, «dass selbst bei frommen und ‹normalen› Menschen Dreiviertel der Visionen gutgemeinte, harmlose, aber wirkliche Täuschungen sind. Man ist somit diesen Vorkommnissen gegenüber mehr in Gefahr, durch Leichtgläubigkeit als durch Skepsis zu fehlen, besonders in aufgewühlten Zeiten». Er fügt hinzu, übrigens wie Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, dass Christus uns am gewissensten – abgesehen vom Altarsakrament – «im Armen und Notleidenden ‹erscheint›».14

Löscht den Geist nicht aus

In seinem Kommentar zu der Botschaft von Fátima hat der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, im Jahr 2000 auf das Wesentliche bei Visionen und Privatoffenbarungen aufmerksam gemacht.15 Er bezeichnet die anthropologische Struktur derselben als imaginatives Wahrnehmen von innen, eine «innere Schau», die nicht Fantasie ist; gleichwohl ist «an der Bildwerdung dessen, was sich zeigt», das Subjekt «wesentlich mitbeteiligt». Denn das Bild kann «nur nach seinen Massen und seinen Möglichkeiten ankommen». Auch für die mystischen Erfahrungen gilt das Interpretationsprinzip des Johannes vom Kreuz, dass Gott «wie die Quelle» ist, «aus der sich ein jeder so viel schöpft, wie sein Gefäss fasst, und manchmal lässt er sie mit Hilfe solch aussergewöhnlicher Röhren schöpfen».16

Schliesslich ist dazu wichtig das eingangs erwähnte Prinzip nach Kol 2,3 und Kol 2,9. Für Johannes vom Kreuz sind in Christus «alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis» so tief verborgen, «dass […] das Allermeiste noch zu sagen und zu verstehen aussteht».17 Wenn das so ist, dann sind die echten mystischen Visionen eine Chance, immer wieder «Neues» aus diesem Geheimnis zutage zu fördern, weil uns «der Geist der Wahrheit […] in die ganze Wahrheit führen» wird (Joh 16,13). Ratzinger verweist im zitierten Kommentar auf das tiefe Wort von Papst Gregor dem Grossen: «Die göttlichen Worte wachsen mit den Lesenden.» Und ebenso verweist er auf die drei wesentlichen Wege, wie sich die Führung des Heiligen Geistes in der Kirche und so das «Wachsen des Wortes» nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil vollzieht: «durch Betrachtung und Studium der Gläubigen, durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt und durch die Verkündigung derer, ‹die mit der Nachfolge im Bischofsamt das sichere Charisma der Wahrheit empfangen haben› (Dei Verbum, 8)». Von daher gilt angesichts der Visionen und Privatoffenbarungen auch der Grundsatz: «Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute!» (1 Thess 5,19–21). Was tun aber, wenn das kirchliche Lehramt sich der unbequemen Prophetie und «Kirchenkritik» verweigert, die manche Mystiker aufgrund ihres Primats des «solus Christus» verkörpern?  


Mariano Delgado

 

1 Johannes vom Kreuz, Aufstieg auf den Berg Karmel. Vollständige Neuübersetzung, Freiburg 1999, 261 (2S 22,4).

2 Ebd., 264 (2S 22,6).

3 Ebd., 303 (2S 27,6).

4 Ebd., 308–309 (2S 29,4 und 5).

5 Lütkehaus, Ludger / Fulds, Werner, Geschichte des sinnlichen Schreibens. In: NZZ vom 21. März 2015, 67.

6 Teresa von Ávila, Werke und Briefe. Gesamtausgabe. 2 Bände. Hg. v. Ulrich Dobhan / Elisabeth Peeters, Freiburg 2015, Bd. 1, 1751 (4M 3,11).

7 Ebd., 1752 (4M 3,14).

8 Ebd., 1799 (6M 3,2).

9 Ebd., 1758 (5M 1,8).

10 Ebd., 246–247 (V 17,5).

11 Ebd., 1760 (5M 1,11).

12 Ebd., 1760 (5M 1,11).

13 Ebd., 1859 (6M 10,7).

14 Karl Rahner, Visionen und Prophezeiungen, Freiburg, 1958, 81.85.

15 Vgl. www.vatican.va

16 Johannes vom Kreuz, Aufstieg, 250 (2S 21,2).

17 Ders., Der geistliche Gesang (Cántico A). Vollständige Neuübersetzung, Freiburg 1997, 226, (CA 36,3).

 


Mariano Delgado

Prof. Dr. mult. Mariano Delgado (Jg. 1955) ist seit 1997 Professor für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Freiburg i. Ü. und seit 2008 Direktor des Instituts für das Studium der Religionen und den interreligiösen Dialog.

 

BONUS

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