«Die Asche eröffnet neue Räume»

Die Begräbniskultur spiegelt die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit und deren Wandlungsprozesse. Die Asche kommt den neuen Bedürfnissen entgegen. Sie ermöglicht eine Vielfalt an Beisetzungsorten und -arten.

Prof. Dr. Norbert Fischer (Jg. 1957) ist Professor am Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Hamburg und Vorstandsmitglied der ARGE Friedhof und Denkmal (Kassel). (Bild: Patrick Ohligschläger)

 

SKZ: Gegenwärtig wird ein tiefer Wandel in der Trauer- und Bestattungskultur beobachtet. Herr Fischer, welche Entwicklungen machen Sie in den beiden ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts bezüglich der Friedhofs- und Beisetzungskultur aus?
Norbert Fischer: Die Bestattungskultur durchläuft zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine grundlegende Zäsur. Aus gesellschaftlicher Perspektive verlieren die bislang in der Bestattungskultur dominanten sozialen Institutionen, vor allem Familie und Kirche, ihre bisherige Bedeutung. An ihre Stelle treten neue, freiere soziale Formationen. Dies gilt auch für die Bestattungsrituale, die – lange Zeit von christlichen Liturgien geprägt – sich zunehmend als Patchworkzeremonien zeigen und unterschiedlichen Einflüssen unterliegen. Zugleich verändern sich die Schauplätze der Bestattung: Der klassische Friedhof in kommunaler bzw. kirchlicher Trägerschaft verliert seine bisherige, fast monopolartige Rolle. Bei zunehmender Zahl und Formenvielfalt der Aschenbeisetzungen spielt die Bestattung in der freien Natur – sogenannte Naturbestattungen – eine immer wichtigere, jedoch noch durch gesetzliche Vorschriften eingeschränkte Rolle. Hinzu kommen neue Bestattungsorte in den Städten, wie sie sich unter anderem in den sogenannten Bestattungskirchen zeigen.

Was führte zu diesen Entwicklungen?
Insgesamt lässt sich der aktuelle Wandel der Bestattungskultur als eine gesellschaftliche, kulturelle und räumliche Partikularisierung charakterisieren. Diese repräsentiert die Muster veränderter gesellschaftlicher Lebenswelten: Tradierte soziale Strukturen wie Familien, Pfarrgemeinden, Berufsverbände und Vereine wandeln sich bzw. lösen sich auf, räumliche Bindungen und Eingrenzungen verflüssigen sich. Diese Entwicklungen können unter Leitbegriffen wie Flexibilisierung, Individualisierung und Exterritorialisierung gefasst werden. Die Bestattungs- und Trauerkultur im frühen 21. Jahrhundert unterliegt also jenen allgemeinen gesellschaftlichen und kulturellen Wandlungsprozessen, durch die das postindustrielle Zeitalter gekennzeichnet ist. Deren Muster sind in der Regel individualistischer und pluralistischer als die des bürgerlichen Zeitalters. Dazu gehören beispielhaft neue Bestattungs- und Erinnerungsorte in der freien Natur und im öffentlichen Raum. Sie künden von einem allgemeinen Trend in der Grabstättenkultur: Bestimmte soziale Gruppen erhalten auf den Friedhöfen besondere Räume, die einer besonderen Gestaltung im Sinne einer «Corporate identity» unterliegen und in die das Einzelgrab integriert wird. Damit verlieren die traditionellen sozialen Institutionen – Familie, Nachbarschaft, Kirche – ihre Bedeutung für die Entwicklung der Bestattungskultur in der Postmoderne, neue, von grösserer Wahlfreiheit geprägte Gruppierungen rücken tendenziell an ihre Stelle.

Nennen Sie bitte ein paar Beispiele für die neue Friedhofs- und Begräbniskultur.
Die Friedhöfe selbst verändern im frühen 21. Jahrhundert ihr Erscheinungsbild grundlegend. Wichtigste Entwicklung ist die Überformung der alten räumlichen Strukturen. Dabei wird die bislang als Gestaltungsprinzip dominierende Familien- bzw. Einzelgrabstätte abgelöst von naturnah gestalteten Themenfeldern und Gemeinschaftsanlagen. Häufig handelt es sich um neuartige Konzepträume, die besondere soziale Gruppierungen, Kulturen oder Religionen repräsentieren. Dabei entstehen innovativ-kreative symbolische Gestaltungen. Der Friedhofsraum wird zunehmend für weitere kulturelle Zwecke genutzt und als ökologisch wertvoll verstanden. Neben natursymbolischen Anlagen schaffen sich auch immer mehr soziale Gruppierungen, Kulturen oder Religionen eigene Bestattungsfelder. Ein frühes und bekanntes Beispiel für eine Gemeinschaftsanlage ist der «Garten der Frauen» auf dem Hamburg-Ohlsdorfer Friedhof. Er wurde 2001 eingerichtet und zeigt sich einerseits als Ort der Erinnerung an bedeutende Hamburgerinnen, deren historische Grabmäler hier – versehen mit Erläuterungstafeln – museal aufgestellt wurden. Auf der anderen Seite dient die Anlage in der Tradition der Genossenschaftsgrabanlagen zugleich Bestattungen, deren Ort mit gemeinschaftlichen Grabmälern markiert werden.

Der Aspekt der Natur war im 19. Jahrhundert bei der Begräbnisweise ein wichtiges Thema. Die Natur bzw. die Naturbestattung gewinnt wieder an Bedeutung.
Ja, die bedeutendste Entwicklung im frühen 21. Jahrhundert ist der Trend zur Naturbestattung. Ihre bekannteste Variante ist die Baumbestattung im freien Wald, die unter anderem unter ihren privatwirtschaftlichen Vermarktungsnamen «Friedwald» und «Ruheforst» geläufig geworden ist.1 Dabei werden Bäume in bestehenden Wäldern genutzt, sie sind Grabstätte und Grabzeichen zugleich. Je nach Anbieter und lokalen Bedingungen ist es möglich, persönliche Erinnerungszeichen, zum Beispiel Namenstafeln, anzubringen. Im Übrigen ist die Bestattungsfläche im Wald als solche nicht auf den ersten Blick zu erkennen, da sie möglichst naturbelassen wirken soll. Die klassischen Friedhöfe greifen diesen Trend auf und legen eigene Bestattungswälder an. Eine schon länger bestehende Form der Naturbestattung sind die sogenannten See- und Flussbestattungen, die in küsten- und flussnahen Regionen zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Reform in der Begräbniskultur. Was passierte da?
Die Reformer, deren Aktivitäten sich im frühen 20. Jahrhundert im Umfeld der allgemeinen Kultur- und Lebensreformbewegungen entfalteten, wandten sich gegen die als überholt empfundene Grabmalkultur des 19. Jahrhunderts, insbesondere gegen deren historistische Auswüchse sowie gegen industrielle «Massenware». Andererseits wurde auch der romantisch-weltflüchtige Landschaftsfriedhof insgesamt kritisiert: als unübersichtlich, ineffizient und der eigentlichen Funktion nicht angemessen. Stattdessen favorisierten die Reformer die Reissbrettästhetik des rechten Winkels – analog zu Entwicklungen im modernen Städtebau. Gegen die romantisch getönte, verschwenderische Pracht der landschaftlichen Friedhöfe setzten sie auf sachliche Funktionalität. Ihr Ziel war darüber hinaus, Grabsteine und Gräberfelder zu vereinheitlichen, um der stilistischen «Willkür» Einhalt zu gebieten. Nicht mehr das einzelne Grabmal stand im Mittelpunkt, sondern das Gräberfeld als Ensemble. Bei den Friedhofsverwaltungen stiessen die Reformideen auf grosse Resonanz. Nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit der Weimarer Republik, wurde die Palette der Grabmalformen auf deutschen Friedhöfen stark eingeschränkt. Die schlichte Stele wurde als Grabstein zum Leitbild erhoben, weil sie sich am besten in den «neuen», funktionalen Friedhof einordnen liess. Dank strenger behördlicher Gestaltungsvorschriften wurden die Grabsteine bis auf den Zentimeter genau normiert und damit standardisiert, der individuelle Gestaltungsspielraum stark eingeschränkt.

Über das Entstehen einer neuen Friedhofskultur hinaus verändern sich auch die Bestattungs- und Trauerrituale. Was machen Sie da aus?
Die gegenwärtigen Bestattungsrituale sind Patchworkzeremonien, in denen selbstbestimmte Elemente einen höheren Stellenwert gewinnen und traditionelle Elemente überformen. Der eigene Aktionsspielraum der Trauernden erhöht sich gegenüber festen liturgischen Elementen und führt zu einer wahlweisen, vielfältig geprägten Anordnung von Versatzstücken neuer und alter Zeremonien. Dies kann ein persönlich gestaltetes und angelegtes Totenkleid ebenso umfassen wie die Bemalung des Sarges, eigene Reden und eigene musikalische Darbietungen. Deutlich ist der Bedeutungsverlust der christlichen Kirchen. Vor allem im städtischen Raum wurden kirchliche Zeremonien zunehmend reduziert, ersetzt oder gänzlich aufgegeben. Immer mehr Trauerfeiern werden von weltlichen bzw. freien Trauerrednern begleitet oder zeigen nichtchristliche Re-Spiritualisierungstendenzen.

Welche Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Einzelnen hat das Auseinandergehen von Begräbnisort und Erinnerungsort, also das Phänomen des Public Mourning?
Der Begriff «Public Mourning» bezeichnet improvisierte Gedenkstätten im öffentlichen Raum. Ihre Kennzeichen sind spontane Entstehung, provisorische Gestaltung und temporäre Präsenz. Diese Orte materieller Trauerkultur stellen einen Gegenentwurf zur offiziellen Gedenkkultur dar, wie sie sich etwa in dauerhaften Denkmälern zeigt. Die bekanntesten Varianten des Public Mourning bilden jene Gedenkstätten am Strassenrand, die im Allgemeinen als «Unfallkreuze» bezeichnet werden – wenngleich sie nicht immer oder jedenfalls nicht allein aus Kreuzen bestehen. Auch Unglücksfälle, die nicht auf Verkehrsunfälle zurückgehen, fallen in diese Kategorie – ebenso Gedenkstätten für Opfer krimineller Gewalt. Eine weitere Variante des Public Mourning sind Gedenkstätten für Prominente. Mit den Unfallkreuzen am Strassenrand verlassen Trauer und Erinnerung den segregierten Raum des Friedhofs. Diese Gedenkstätten, die ja keine Grabstätten darstellen, werden zu einem Element des lokalen bzw. regionalen Aktionsraums der betroffenen Hinterbliebenen. Die Orte des Public Mourning können auch zu Schauplätzen von ritualisierten Gedenkveranstaltungen werden, etwa jährliche Trauerfeiern anlässlich des Todes- bzw. Unglückstages. Sie tragen eine hohe symbolische Bedeutung in sich, weil sie einerseits individuelle Orte der Trauer und Erinnerung sind und andererseits eine öffentliche Mahnung darstellen, denn sie sind auch für all jene präsent, die nicht zu den direkt Betroffenen gehören. Darüber hinaus materialisieren sich in den Unfallkreuzen und ähnlichen Gedenkstätten komplexe Narrationen von lebensgeschichtlichen Tragödien und ihrer Verarbeitung durch die Hinterbliebenen.

Wohin wird sich die Bestattungs- und Trauerkultur in naher Zukunft entwickeln? Welche Funktionen werden die Friedhöfe dabei einnehmen?
Allgemein ist die Asche zur Grundlage fast aller neueren Varianten der Bestattungskultur geworden. Entscheidend ist die – im Vergleich zur Körper-(Erd-)Bestattung – hohe Mobilität der Asche, die flexible Beisetzungsmöglichkeiten erlaubt und der Bestattungskultur neue Räume eröffnet. Die Asche kann an fast jeden Bestattungs- und Erinnerungsort verbracht oder auch geteilt werden sowie verschiedene Bestattungs- und Erinnerungsorte generieren. Ihr Potenzial wird künftig mit weiteren neuen Bestattungsorten und -zeremonien noch ausgeweitet werden. Der Friedhof wird hier als Bestattungsort – und auch gerade aus hygienischen Gründen bei Erdbestattungen – Bedeutung behalten, aber er wird seine aus der Vergangenheit resultierende Quasi-Monopolstellung als Bestattungs- und Erinnerungsort immer weiter verlieren. Der Friedhof wird sich in seinem Erscheinungsbild den aktuellen Bedürfnissen, etwa der Natur- und Gemeinschaftsbestattungen, anpassen. Zu den aktuellen Entwicklungen der Aschenbeisetzung ausserhalb der Friedhöfe zählt die Renaissance der Kolumbarien als Aschenbeisetzungsstätten. Diese aus der Frühzeit der Feuerbestattung bekannte Beisetzungsform nutzt Fächer bzw. Nischen innerhalb von alten Friedhofskapellen oder in speziellen Neubauten auf Friedhöfen. Eine spezielle, angesichts der ursprünglichen Ablehnung der Feuerbestattung durch die christlichen Kirchen geradezu paradox erscheinende Entwicklung sind dabei die sogenannten Urnen- bzw. Begräbniskirchen. Dabei werden Urnenanlagen in nicht mehr genutzten, ehemaligen Kirchengebäuden eingerichtet. Aber Kolumbarien werden auch in anderen Bauten errichtet, so gegenwärtig in Lübeck in einem historischen Hafenspeicher am Rand der Altstadt. Auch das Medium Internet und die sozialen Netzwerke haben neue Muster von Trauer und Erinnerung hervorgebracht, die unabhängig vom Bestattungsort sind. Die wachsende Zahl der Internet-Gedenkseiten zeigt, wie rasch sich der Umgang mit Tod und Trauer den neuen Medien der postindustriellen Gesellschaft anzupassen vermag. Mit der Möglichkeit, elektronische Botschaften zu hinterlassen, werden Privatheit und Öffentlichkeit in eine neue Beziehung gebracht. Manche Einträge umfassen seitenlange (Lebens-)Geschichten, persönliche Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen, Fotos, Videos, Musik und Erinnerungsobjekte. Zu den Gründen zählt der Bedeutungsverlust herkömmlicher, lokal gebundener Formen der Bestattungs- und Trauerkultur, wenn der Verstorbene zum Kreis hochmobiler Personen mit wechselhafter Lebensgeschichte zählt. Im Übrigen ermöglicht das virtuelle Totengedenken neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation über den Tod, die die bisherige, bipolare Ausrichtung der Trauerfeiern (Redner/Trauergemeinschaft) auflöst, und gestattet, unabhängig von vorgegebenen Räumen neue Formen der emotionalen Anteilnahme zu mobilisieren.

Interview: Maria Hässig

 

1 In der Schweiz gebräuchlich ist auch «Waldfriedhof».

 

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