«Der Riss sitzt fundamental tief»

Der jüngste Krieg mit der Hamas erschütterte die fragile Koexistenz von Christen, Juden und Muslime in Israel. Ein friedliches Miteinander statt Nebeneinander scheint noch in weiter Ferne.

Arabische und jüdische Israelis demonstrieren gelegentlich zusammen, wie z. B. während des zweiten Libanonkrieges 2006. (Bild: Johannes Zang)

 

Die palästinensische Witwe Kifaya Jadah erhielt vor 20 Jahren den «Mount Zion Award» in der Dormitio-Abtei in Jerusalem. Ihr Mann hatte im See Genezareth ein jüdisches Kind gerettet, schaffte es jedoch selbst nicht ans rettende Ufer. Im Heiligen Land erhält man dafür keine Rettungsmedaille, sondern einen «Friedenspreis». Was besagt das?

Leben nebeneinander

In Israel sind 74 Prozent der 9,3 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner jüdischen Glaubens, 21 Prozent sind sogenannte israelische Araber oder Palästinenserinnen mit israelischer Staatsangehörigkeit. Diese sichtbare Minderheit ist grösstenteils muslimisch, circa 180 000 Menschen gehören dem Christentum an und 130'000 sind Drusinnen und Drusen. 5 Prozent «Sonstige» bezeichnen nicht arabische Christinnen und Christen oder Menschen ohne Bekenntnis.

Das vor Jahren geäusserte Urteil des früheren ORF-Korrespondenten Ben Segenreich bestätigen im Lande lebende Ausländerinnen und Ausländer: «Es gibt natürlich auch persönliche Freundschaften zwischen Juden und Arabern, aber ich meine, das ist doch die Ausnahme, im Wesentlichen lebt man nebeneinander her. […] es gibt da die ganz religiösen Juden, die weniger religiösen, die gar nicht religiösen, es gibt arabische Gegenden, drusische Dörfer, Beduinendörfer – man lebt in seinem Sektor nach seiner Art, das war immer so, das ist normal.»

Entfremdung und Solidarität

Die Entfremdung hat seitdem eher zugenommen, durch Benjamin Netanyahus regelmässige Hetztiraden, aber auch durch die Price-Tag-Attacken jüdischer Nationalreligiöser, für manche Hooligans der Religion, für den Schriftsteller Amos Oz (1939–2018) «hebräische Neonazigruppen»1.  Diese, auch «Hügeljugend» genannt, sind entweder selbst jüdische Siedlerinnen und Siedler oder Sympathisantinnen und Sympathisanten. Für jeden durch die Regierung geräumten Aussenposten im Westjordanland sei eben ein Preis (price tag) zu bezahlen, und zwar von Palästinenserinnen und Palästinensern, lautet ihre Überzeugung. Hunderte von Angriffen, Schmierereien, Sachbeschädigungen sind dokumentiert. Spuckattacken auf Ordensleute oder Graffiti wie «Tod den Arabern» oder «Jesus ist Müll» auf Klostermauern gehören zur harmlosen Kategorie. Brandsätze auf palästinensische Häuser oder Moscheen haben bereits Tote und Verletzte gefordert. Medial am meisten Aufmerksamkeit erhielt der Brandanschlag auf das Priorat Tabgha am See Genezareth 2015. Benediktinerpater Jonas bezeugt gerne die riesige Solidaritätswelle der arabischen Christinnen und Christen Galiläas, die T-Shirts bedruckt hatten, auf denen stand: «Im Angesicht des Feuers bezeugen wir das Licht», die Anteilnahme jüdischer Nachbarn, die Fische und Brote brachten oder von drusischen und muslimischen Würdenträgern. Pater Jonas: «Die Solidarität hat uns getröstet, geholfen und fast erdrückt.»2

Zweisprachig, multikulturell, integrativ

Danach ging jeder in seinen Alltag zurück. In diesem sind Begegnungen selten, oft zufällig und flüchtig: im Krankenhaus, an Arbeitsplatz oder Universität. Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel gestehen, dass sie ungern ihre Sprache in der Öffentlichkeit sprechen, aus Sorge vor Misstrauen. Auch ängstigen sie sich, wenn ein Polizeiauto auftaucht. Die Klage, dass das Wissen über die Geschichte oder Religion des anderen dürftig sei, kann man in Israel seit Jahren hören. Kein Wunder: Arabische Kinder lernen im eigenen Schulsystem, auf jüdischer Seite ist nicht einmal dieses einheitlich, sondern je nach Religiosität weiter unterteilt.

Dem setzen sieben Schulen einen anderen Ansatz entgegen: zweisprachig, multikulturell, integrativ. Die Privatinitiative heisst «Hand in Hand: Zentrum für jüdisch-arabische Bildung in Israel». Ala Haj und Rana Hilu Haj, Palästinenser aus Haifa, haben Zwillinge in der dritten Klasse, dazu einen Sohn im Kindergarten. Tägliche Aktivitäten wie Wandern, Musizieren und Tischspiele führen ihrer Überzeugung nach «zu Vertrauen und tiefen Freundschaften, die, so hoffen und glauben wir, sehr lange halten». Anat und Yuval Feiglin, jüdische Israelis aus derselben Stadt, haben ebenfalls drei Kinder in der kostenpflichtigen Modellschule. «Wir engagieren uns bei ‹Hand in Hand›, weil es uns die Gelegenheit gibt, unsere Kinder in einem anderen Haifa grosszuziehen, verglichen mit dem unserer Kindheit.» Damals sei es zwar auch eine gemischte Stadt gewesen, doch «wir lebten nebeneinander, ohne uns wirklich zu begegnen». Durch die Schule würden die Kinder ihre Nachbarinnen und Nachbarn kennenlernen und offen den verschiedenen Menschen der Stadt begegnen. «Als Eltern sind wir auch Teil dieser Gemeinschaft, die wie eine Familie, ein Zuhause, geworden ist.»3 Das sagten sie Anfang des Jahres.

Warten auf das Wunder

Seitdem ist Israel ein anderes Land. Der jüngste Krieg gegen die Hamas hat die ohnehin brüchige Koexistenz erschüttert, Hass und Zorn hervorgebracht, die Entfremdung weiter vertieft. Plötzlich gingen arabische und jüdische Bürgerinnen und Bürger aufeinander los, Steine flogen, Geschäfte und Fahrzeuge brannten, in Akko verwüstete ein arabischer Mob das liebevoll hergerichtete Boutique-Hotel «Arabesque». Dessen Besitzer Evan Fallenberg schwärmte vor Gästen von seiner Stadt als «Modell erfolgreichen Zusammenlebens», das vielleicht aufs ganze Land ausstrahlen könnte. «Ich bin noch am Trauern», gesteht er, «weiter kann ich gerade nicht denken.»4  

Der Journalist Richard C. Schneider, selbst jüdischen Glaubens, sieht hinter dem Gewaltausbruch «die zunehmende Frustration der arabischen Israelis […] mit der jüdisch-extremistisch-rassistischen Politik ihnen gegenüber», und führt als Beleg «das Nationalstaatsgesetz von 2018» an, das «arabische Staatsbürger de facto zu Menschen zweiter Klasse macht». Er urteilt: «[…] der Riss in der israelischen Gesellschaft sitzt fundamental tief.»5

Sami El-Yousef, Generaldirektor des lateinischen Patriarchats, veröffentlichte schon am 14. Mai seine Betrachtung «Es bedarf eines Wunders». Die Situation analysierend, schliesst der Jerusalemer Christ: «Es ist äusserst dringlich, dass dieses Mal die Grundursachen dieses nie endenden Konflikts auf den Tisch kommen, damit Gerechtigkeit und Frieden die Oberhand gewinnen.»6

Dazu müsste sich Israel endlich der Urwunde des Konflikts stellen – der Nakba (arab. Katastrophe), sprich Vertreibung und Flucht von über 700 000 Palästinenserinnen und Palästinensern 1948. Seit 2002 kämpft «Zochrot»7 (hebr. erinnern) dafür, dass «die fortbestehenden Ungerechtigkeiten der Nakba» Anerkennung finden, dass Verantwortung dafür übernommen wird und Wiedergutmachung erfolgt. Darin liege «eine Chance für ein besseres Leben aller Einwohner».

Nun haben der ultranationale Siedlerunterstützer Naftali Bennett von der Partei Yamina (rechts) und Mansour Abbas von der islamischen Partei Ra'am mit sechs weiteren Parteien ein Koalitionsbündnis unterzeichnet. Dieses reicht von links über die Mitte nach ganz Rechtsaussen. Damit ist erstmals seit Staatsgründung eine arabische Partei an der Regierung beteiligt. Keinen Monat nach der Vereidigung zeigte sich ein erster Riss: Die Acht-Parteien-Koalition verfehlte die nötige Mehrheit bei der Abstimmung über Familienzusammenführung knapp. Durch das Patt von 59 gegen 59 bei zwei Enthaltungen wurde die Verordnung von 2003 nicht verlängert. Angeblich soll sich just ein Abgeordneter der Jamina-Partei dem Votum der Opposition angeschlossen haben. Die israelische Menschenrechtsorganisation HaMoked jubelte: «Das Gesetz, das palästinensischen Ehepartnern die Familienzusammenführung vorenthielt, ist nicht länger in Kraft. Es […] wurde eher aus politischem Kalkül denn aus Sorge um Menschenrechte gestrichen, doch schmälert das nicht die Bedeutung des ganzen: Von diesem Morgen an haben palästinensische Bewohner und Bürger Israels das gleiche Recht sich zu verlieben, zu heiraten und eine Familie zu gründen.»

Johannes Zang

 

1 Borgstede, Michael, Amos Oz beschimpft kriminelle Siedler als Neonazis, in: Die Welt vom 11.5.2014.

2 Vortrag vor der Pilgergruppe des Autors, Tabgha, 16.4.2019.

3 Hand in Hand: Center for Jewish-Arab Education in Israel, Rundbrief: Meet the Families of Our Growing Communities! Per E-Mail versandt am 22.1.2021.

4 Kaplan Sommer, Allison, This Hotel was a Model of Jewish-Arab Coexistence – Until an Angry Mob Arrived, Ha'aretz vom 16.5.2021.

5 Schneider, Richard C., Zur Lage in Israel. Inferno in Israel – Riss in der Gesellschaft, abrufbar unter Inferno in Israel – Riss in der Gesellschaft | Tachles.

6 El-Yousef, Sami, A Miracle is Needed: Reflections of Mr Sami El-Yousef, CEO of Latin Patriarchate, abrufbar unter A Miracle is Needed: Reflections of Mr. Sami El-Yousef, CEO of Latin Patriarchate (lpj.org).

7 Zochrot ist eine 2002 gegründete israelische gemeinnützige Organisation.

Buchempfehlung: «Begegnungen mit Christen im Heiligen Land. Ihre Geschichte und ihr Alltag.» Von Johannes Zang. Würzburg 2017. ISBN 978-3-429-04337-7, CHF 21.90. www.echter.de
Johannes Zangs neues Buch «Erlebnisse im Heiligen Land. 77 Geschichten aus Israel und Palästina – von Ausgangssperre bis Zugvögel» erscheint im Oktober.


Johannes Zang

Johannes Zang (Jg. 1964) ist freier Journalist. Er lebte fast zehn Jahre in Israel und den palästinensischen Gebieten und betreibt einen monatlichen Nahost-Podcast (www.jerusalam.info). Seit 2008 hat er 60 Pilgergruppen durch Israel, Palästina, Jordanien und den Sinai geführt.